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Desinformation: Berliner Polizei bringt manipuliertes Foto in Umlauf

netzpolitik.org - 10 Februar, 2025 - 17:35

Die Berliner Polizei verbreitet ein manipuliertes Foto des Protestbusses des Zentrums für politische Schönheit – ohne die Veränderung transparent zu machen. Mehrere Medien übernehmen das Bild. Die Künstlergruppe wirft der Polizei zudem fortlaufende Schikanen vor.

Sicherstellung des „Adenauers“ durch die Berliner Polizei. Auf dem Bus ist zum Zeitpunkt des Abschleppens deutlich die Aufschrift zu sehen – auf dem Foto der Polizei später nicht mehr. – Alle Rechte vorbehalten Zentrum für politische Schönheit

Die Berliner Polizei hat am gestrigen Sonntag am Rande einer Demonstration gegen AfD und CDU in Berlin das Fahrzeug „Adenauer SRP+“ der Aktionskünstler:innen des Zentrums für politische Schönheit sichergestellt. Über die Maßnahme verbreitete die Polizei dann einen Tweet bei der Plattform X und eine Instagram-Story darüber, wie der Polizeifahrzeugen sehr ähnlich aussehende Bus der Künstlergruppe abgeschleppt wurde. Dabei retuschierte sie auf dem Fahrzeug die Aufschrift „Adenauer SRP+“.

Das manipulierte Pressebild der Polizei landete dann in der Berichterstattung von Tagesspiegel und t-online. Erst auf Hinweise aus sozialen Medien fügten sie einen Zusatz im Artikel hinzu, in dem es heißt, das Bild sei von der Polizei verändert worden.

Die Polizei begründete die Veränderung des Bildes gegenüber dem Tagesspiegel mit dem „Neutralitätsgebot“. Idee hinter diesem Gebot ist, dass die Polizei keine politischen Nachrichten oder Parolen in ihrer Kommunikation weiterträgt.


Die Berliner Polizei hat auch gegenüber netzpolitik.org angegeben, dass sie wegen des Neutralitätsgebotes retuschiert habe, verweist aber auch auf datenschutz- und persönlichkeitsrechtliche Gründe. Die Bearbeitung des Bildes solle „eine Individualisierung und somit einen Rückschluss auf die Betroffenen polizeilicher Maßnahmen“ vermeiden.

Das ist einerseits grundsätzlich eine sinnvolle Maßnahme. Andererseits stellt sich natürlich die Frage, ob der Datenschutz bei diesem hinlänglich der Künstlergruppe zugeordneten und medial bekannten Fahrzeug so wichtig ist und ob überhaupt der Name des Fahrzeuges „Adenauer SRP+“ schon für sich eine politische Aussage ist, die sich die Polizei zu eigen machen würde, wenn sie diese nicht retuschiert. Hier verweist die Polizei auf die laufende politische Kampagne der Aktionskünstler.

Ungekennzeichnete Manipulation

Gravierender ist aber, dass die Polizei die Manipulation des Fotos weder im Bild selbst noch im Text transparent macht, sondern den Anschein eines nicht manipulierten Bildes erweckt. Es wäre einfach gewesen, die Veränderung beispielsweise mit einem schwarzen Balken oder einer anderen sichtbaren Verpixelung zu kennzeichnen.

Wir haben bei der Polizei nachgefragt, warum sie die Manipulation nicht sichtbar gemacht hat. Auf diese Frage hat die Berliner Polizei nicht geantwortet. Auf Anfrage von netzpolitik.org verweist die Polizei lediglich darauf, dass sie seit vielen Jahren „ein Wiedererkennen von Privatpersonen oder bestimmten Gruppen und eine Zuordnung zu Firmen, Marken u.ä.“ soweit wie möglich vermeide. Diese Praxis sei der Öffentlichkeit bekannt und würde nicht gesondert mitgeteilt. „Das oberflächliche Erwecken des Anscheines eines unbearbeiteten Bildes war nicht beabsichtigt“, so Polizeisprecher Florian Nath.

Das manipulierte Foto der Polizei. Sie hat den Schriftzug „Adenauer SRP+“ mit blauer Farbe digital wegretuschiert. Den Namen des Abschleppunternehmens belässt die Polizei. - Alle Rechte vorbehalten Polizei Berlin

Weiterhin hat die Polizei angegeben, dass „Gesichter, Merkmale, Kfz-Kennzeichen, Firmennamen, Label etc. auf Bildern und Videos durch die Polizei Berlin vor der Veröffentlichung grundsätzlich unscharf gemacht, entfernt oder überdeckt“ werden. Entgegen dieser Praxis sind allerdings im vorliegenden Fall die Aufschriften beim Abschleppfahrzeug wie der Name des Abschlepp-Unternehmens und dessen Motto nicht entfernt worden. Auf die Frage, welche Abteilung die Manipulation verantwortet, hat die Polizei geantwortet, dass es „keine für Bildveränderungen zuständige Dienststelle“ gäbe.

Umstrittene Sicherstellung

Die Sicherstellung des Protest-Busses selbst ist auch umstritten. Die Polizei verkündete auf X, dass es keine gültige Betriebserlaubnis gegeben habe. Dem widerspricht die Künstlergruppe. Laut dem Zentrum für politische Schönheit hat das Fahrzeug mehrere positive Gutachten und TÜV-Prüfungen hinter sich, die neueste davon soll laut der Künstlergruppe bei der Sicherstellung des Fahrzeugs am Sonntag keine fünf Tage alt gewesen sein. Im Gegensatz zur Darstellung der Polizei handele es sich bei den „Aufbauten“ auf dem Dach um Ladung und keine feste Installation. Für diese Variante haben die Künstler:innen in einer Pressekonferenz am Montagnachmittag schlüssige Bilder vorgelegt.

Das Zentrum für politische Schönheit beklagt fortlaufende Schikanen durch die Polizei. In einem Zeitstrahl (PDF) stellt die Gruppe die bisherigen Kontrollen dar und zeigt Screenshots von Kommunikationen und Dokumenten, deren Echtheit netzpolitik.org nicht unabhängig überprüfen konnte. Laut diesen Dokumenten wurde das Fahrzeug bei der gestrigen Demonstration „beschlagnahmt“ und nicht „sichergestellt“, wie die Polizei in ihrer Kommunikation auf X selbst schreibt. Laut der Künstlergruppe steht das Fahrzeug nun auf einem Polizeigelände in Berlin-Marzahn, die Polizei reagiere nicht auf Anfragen ihres Anwaltes.

„15 Demos und Aktionen verpasst“

Das Künstlerkollektiv kritisiert das Vorgehen der Polizei als Eingriff in die Versammlungs- und Kunstfreiheit. Die fortwährenden und langwierigen Kontrollen der Polizei hätten dazu geführt, dass das Fahrzeug an sehr vielen Protesten gegen Rechtsradikalismus nicht wie geplant teilnehmen konnte, sondern stattdessen festgesetzt worden oder in technischen Prüfungen gewesen sei. Das Zentrum für politische Schönheit hatte im Dezember 225.000 Euro an Spenden gesammelt, um mit dem Mobil vor der Bundestagswahl Proteste gegen Rechtsradikalismus zu unterstützen.

Laut der Pressekonferenz der Aktionskünstler sollte das Fahrzeug täglich im Einsatz sein, durch die polizeilichen Maßnahmen sei die Gruppe in nunmehr 15 Fällen daran gehindert worden, Proteste und Aktionen gegen Rechts zu unterstützen. Legendär war der „Adenauer“ geworden, als das Fahrzeug beim AfD-Parteitag in Riesa plötzlich eine Panne hatte und eine Zufahrtsstraße des AfD-Parteitages blockiert hatte.

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US-israelische Firma Paragon: Neue Details zu Spionage-Angriff mit Trojaner „Graphite“

netzpolitik.org - 9 Februar, 2025 - 12:56

Italien dementiert, Kritiker*innen seiner Migrationspolitik mit Trojanern angegriffen zu haben. Auch in Deutschland soll es Betroffene geben. Die Bundesregierung gibt sich unwissend. Der Spähsoftware-Hersteller hat einen Briefkasten in Hamburg.

Bei einem Bleistift sieht man auch nur die Spitze des Graphit-Kerns. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Umberto

Nachdem zuerst der „Guardian“ über Angriffe mit dem Trojaner „Graphite“ der US-israelischen Firma Paragon Solutions berichtete, hat die britische Zeitung nun neue Informationen dazu bekannt gemacht. Demnach wurden mindestens sieben Journalist*innen und Aktivist*innen mit italienischer Vorwahl (+39) ausspioniert. Alle von ihnen haben sich zuvor kritisch mit der Migrationspolitik Italiens auseinandergesetzt. Zu den bekannten Betroffenen zählen Francesco Cancellato, Chefredakteur des Nachrichtenportals Fanpage, sowie Luca Casarini, ein prominenter Aktivist der Seenotrettungs-NGO Mediterranea. Die italienische Zeitung Il Manifesto berichtet, dass von Mediterranea auch zwei weitere Aktivist*innen mit „Graphite“ angegriffen worden seien.

Der mutmaßlich staatliche Angriff wurde vergangene Woche bekannt, nachdem WhatsApp, das zum US-Konzern Meta gehört, Betroffene darüber informiert hatte. Die Attacke zielte nicht nur auf Personen in Italien, sondern auch in 13 weiteren EU-Ländern. Zu ihnen gehören Deutschland, Österreich, die Niederlande, Belgien, Griechenland, Zypern, Portugal, Spanien und Schweden.

Briefkasten in Hamburg

Das könnte jedoch nur die Spitze des Eisbergs sein: Laut dem unabhängigen kanadischen Forschungsinstitut Citizen Lab, das die Attacken nach Analyse der ausspionierten Mobiltelefone entdeckt hatte, wurden mindestens 90 WhatsApp-Nutzer*innen in zwei Dutzend Ländern mit der Spähsoftware von Paragon attackiert. Die Infiltration erfolgte offenbar über einen WhatsApp-Chat, in den die Opfer unwissentlich hinzugefügt wurden, gefolgt von einer infizierten PDF-Datei.

Netzpolitik.org hat das deutsche Bundesinnenministerium gefragt, was es zu Angriffen mit „Graphite“ in Deutschland weiß und ob auch hier Medienschaffende oder Aktivist*innen oder Oppositionelle betroffen sein könnten. Die Medienberichterstattung über die Spyware sei in Berlin bekannt, darüber hinausgehende Erkenntnisse lägen aber nicht vor, war die Antwort. Die österreichische Agentur APA hatte dazu auch die Regierung in Wien gefragt, aber zunächst keine Auskunft bekommen.

Paragon wurde 2019 unter Beteiligung des früheren israelischen Premiers Ehud Barak und hochrangiger Beamter der israelischen Geheimdiensteinheit 8200 in Tel Aviv gegründet. Im Jahr 2024 wurde das Unternehmen an die US-amerikanische Private-Equity-Firma AE verkauft. Laut „Euractiv“ unterhält Paragon seit Sommer 2023 auch eine Adresse in Hamburg, die jedoch lediglich ein Briefkasten zu sein scheint. Das Internetmagazin hat das deutsche Innenministerium nach Informationen dazu gefragt. Man sei „nicht verpflichtet, Informationen zu beschaffen, die noch nicht öffentlich verfügbar sind“, erhielt „Euractiv“ zur Antwort.

Regierung in Rom dementiert

Italienische Kunden seien „zwei verschiedene Stellen, eine Polizeibehörde und eine Geheimdienstorganisation“ gewesen, hatte Paragon dem „Guardian“ erklärt. Deshalb wird vermutet, dass italienische Behörden hinter den bekanntgewordenen Angriffen stecken. Die Regierung bestreitet aber jegliche Verantwortung und verweist darauf, dass auch Menschen in anderen Ländern betroffen seien. So wurde etwa der libysche Aktivist Husam El Gomati, der in Schweden lebt, mit „Graphite“ ausspioniert.

Allerdings ist Gomati auch als Kritiker des Migrationsabkommens zwischen Italien und Libyen bekannt und befasst sich auch mit Korruption bei libyschen Behörden. Gomati äußerte sich auch zur Freilassung des per Interpol-Haftbefehl gesuchten libyschen Milizionärs Osama al-Masri, der eine sogenannte Küstenwache betreibt und aus Italien unterstützt wird. Al-Masri war vor zwei Wochen nach einem Fußballspiel in Mailand festgenommen und unter dubiosen Umständen freigelassen und mit einem Regierungsflieger nach Tripolis gebracht worden. Berichten zufolge hielt er sich vor seinem Italien-Besuch auch in Deutschland auf.

Paragon entzieht Italien den Zugriff

Der Paragon-Firmenchef John Fleming erklärte gegenüber dem US-Magazin „TechCrunch“, man liefere nur an die US-Regierung sowie verbündete Demokratien. Kunden sei es vertraglich untersagt, die Software für Angriffe auf die Zivilgesellschaft einzusetzen. Nach Bekanntwerden des Spionage-Vorwurfs hatte Paragon deshalb eine Unterlassungsaufforderung an Italien geschickt. Die israelische Zeitung „Haaretz“ berichtet, dass das Unternehmen mittlerweile italienischen Behörden den Zugang zu seiner Software entzogen hat.

Das Büro der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni hat am Mittwochabend mitgeteilt, die Nationale Agentur für Cybersicherheit mit der Untersuchung des Spionageangriffs beauftragt zu haben. Die Regierung verweigert jedoch weitere Informationen zu dem Fall und betont, sich ausschließlich im parlamentarischen Kontrollkomitee für die Geheimdienste dazu äußern zu wollen – zum Ärger der Opposition, die eine öffentliche Behandlung im Parlament fordert.

In Brüssel haben Journalist*innen am Donnerstag die EU-Kommission zu dem Fall befragt. Die erklärte erwartungsgemäß, dass für die Ermittlungen die nationalen Behörden zuständig seien. Gleichzeitig verwies sie auf den Media Freedom Act und betonte: „Jeder Versuch, illegal auf Daten von Bürger*innen, einschließlich Journalist*innen und politischen Gegner*innen, zuzugreifen, ist inakzeptabel, wenn er sich bestätigt.“

Paragon will wegen Verschlüsselung von WhatsApp klagen

Laut dem israelischen Nachrichtenportal „Ynetnews“ sieht sich das Unternehmen Paragon selbst als Opfer der Affäre. Firmenkreise erklärten, man werde zum „Sündenbock“ für Metas Anstrengungen gegen das Knacken der Ende-zu Ende-Verschlüsselung von WhatsApp gemacht. Paragon sei deshalb bereit, sich auf einen Rechtsstreit mit dem Messengerdienst einzulassen.

In der EU hatte bereits 2021 der Skandal um die Spähsoftware Pegasus des israelischen Herstellers NSO für großes Aufsehen gesorgt. Zahlreiche Regierungen – soweit bekannt Polen, Ungarn, Griechenland, Zypern und Spanien – nutzten die Software über Jahre hinweg zur Überwachung von Journalist*innen, Aktivist*innen oder Oppositionellen. Insgesamt sollen mindestens 1.400 Nutzer*innen betroffen gewesen sein.

Dieser Kontext könnte auch eine Rolle beim Verkauf von Paragon an ein US-Unternehmen gespielt haben. Nach dem Pegasus-Skandal gestaltete sich der Verkauf von Schwachstellen für Software nahezu unmöglich, in Europa hingegen sind die regulatorischen Hürden dazu deutlich geringer. Die israelische Tageszeitung „Haaretz“ berichtete jüngst unter Berufung auf Sicherheitskreise, dass diese Entwicklung Barcelona zu einem Hotspot für staatlich beauftragte Hacker gemacht hat.

Weitere Enthüllungen erwartet

John Scott Railton, Experte des Citizen Lab, sagte gegenüber „Il Manifesto“: „Wenn man geheime Hacking-Technologie in die Hände einer Regierung gibt, die glaubt, nicht entdeckt zu werden, ist Missbrauch keine Frage des Ob, sondern des Wann. Auch in einer Demokratie.“ Auch Railton glaubt, dass bislang nur die Spitze des Eisbergs bekannt geworden ist.

Neue Details könnten kommende Woche ans Licht kommen: Der Seenotretter Luca Casarini hat eine Anzeige bei der italienischen Staatsanwaltschaft angekündigt, um die Auftraggeber der Spionageattacke zu identifizieren. Gemeinsam mit dem Journalisten Francesco Cancellato will er am Montag eine Pressekonferenz im EU-Parlament abhalten.

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Degitalisierung: Obskur

netzpolitik.org - 9 Februar, 2025 - 08:31

Was haben fragwürdige Wahlversprechen, ritualisierte Forderungen nach mehr Überwachung und Aufmerksamkeitsgetriebenheit gemeinsam? Sie alle verdunkeln das, worum es eigentlich geht. Zeit für mehr Klarheit, findet unsere Kolumnistin.

– Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Nomadic Ambience

Nach den deutlichen Anzeichen von vollständigem Mauerfraß in den letzten Tagen startet diese sonntägliche Degitalisierung ganz antizyklisch mit einem rätselhaften, ja geradezu obskuren Zitat, das uns gegen Ende vielleicht dabei hilft, die aktuelle Welt besser zu verstehen. Johann Wolfgang von Goethe sagte einmal in einer ähnlich wechselhaften Zeit:

Der eigentliche Obskurantismus ist nicht, daß man die Ausbreitung des Wahren, Klaren, Nützlichen hindert, sondern daß man das Falsche in Kurs bringt.

Wir leben leider gerade in Zeiten, in denen Menschen aus Egoismus, wegen des Kapitalismus oder im Dienste des Autoritarismus bis Faschismus sehr viel Falsches in Umlauf bringen. Es scheint nicht mehr so wichtig, präzise bei den Fakten zu bleiben. Es scheint wichtiger, sich lieber an Symptomen abzuarbeiten, ohne die tieferen Probleme anzugehen. Zu alledem kommt oft schlichtweg eine unrealistische Vision einer vermeintlich verheißungsvollen Zukunft – mystisch und obskur aufgeladen.

Kein leichter Einstieg für eine Kolumne, deren Schwerpunkte immer die Digitalisierung und die Folgen schlecht gemachter Digitalisierung für uns alle sind. Aber auch das Digitale kann sich der zunehmenden Verdunkelung nicht mehr entziehen, schlimmer noch, es ist zum Instrument des Obskuren geworden.

Zeit, etwas mehr Licht in die Dunkelheit zu bringen, zumindest bei ein paar ausgewählten Digitalthemen – mit steigendem Anteil an Obskurität.

Fragwürdige Wahlversprechen

Wahlprogramme sind nicht unbedingt dafür bekannt, dass sie die reine Wahrheit darstellen. Sie sind eher stark geschönte Absichtserklärungen, die spätestens in Abstimmung mit einem möglichen Koalitionspartner und zunehmender Länge des Regierungshandelns immer weiter von den ursprünglichen Zielen abweichen. Dennoch sollten manche dieser Absichtserklärungen vor dem Gedanken der Obskurität genauer betrachtet werden, weil manches davon für politische Parteien eher zweifelhaft ist und eine darin artikulierte Vision sehr stark von anderen Problemen ablenken soll. Versprechen politischer Art lenken speziell bei bisherigen Regierungsparteien gerne von der selbst mitgeschaffenen Realität ab, sie verdunkeln den Status quo etwas, um sich auf eine strahlende Zukunft fokussieren zu können.

Im Wahlprogramm der SPD wird etwa versprochen, dass „für die Krebsbehandlung und Demenz KI Heilungen ermöglichen“ wird. Das ist nicht komplett ohne wahren Kern. Bei bestimmten Aspekten einer Krebsbehandlung können die Möglichkeiten von Machine Learning dabei helfen, bestimmte Krebsarten besser und schneller zu erkennen. Nur ist der Weg zur Heilung medizinisch gesehen noch ein sehr viel weiterer, bei dem es doch mindestens mehr als verwundert, warum diese Heilung eine politische Partei für die nächste Legislatur zusagen sollte.

In der Digital-Bubble der Digitalisierung des Gesundheitswesens scheint jedoch teils parteiübergreifend der Konsens zu herrschen, dass das alles morgen schon passieren wird und dass es dafür Unmengen an Daten brauche und jegliche Hindernisse dafür, allen voran der böse Datenschutz, müssten dafür vollständig beiseite geschafft werden. Friedrich Merz will dafür sogar einen Rabatt springen lassen.

Nur sind Kampagnen in diesem Ton wie „Daten retten leben“ nicht selten geprägt von einem Digital-Saviour-Syndrom. Möglichkeiten der Digitalisierung werden oftmals grandios überschätzt, Vorteile allein in ein strahlendes Licht gerückt und mögliche Risiken und handwerkliche Probleme verdunkelt. Radiolog*innen, deren Arbeit mit Bildgebung quasi prädestiniert ist für eine vollständige Automatisierung mittels sogenannter KI, wurde vor Jahren prophezeit, bald arbeitslos zu sein – bewahrheitet hat sich davon wenig. Dennoch hält sich ein datenoptimistisches Zukunftsbild, das uns alle retten wird, weiter hartnäckig: Alle anderen digitalen Probleme seien nicht so wichtig, Daten allein würden ja Leben retten.

Daten retten erst mal gar nichts in einem Gesundheitswesen, das von Engpässen bei Medikamentenversorgung, Zeitnot, Fachkräftemangel und Pflegenotstand geplagt ist. Das Vertrauen in das Gesundheitswesen allgemein schwindet, zumindest wenn man den Zahlen von PWC trauen will. Digitalisierung wird hier nicht zum strahlenden Einfach- und Bessermacher von Gesundheit, sondern zum Lückenfüller, zum Gehilfen einer effizienteren Mangelwirtschaft.

Da wirkt es geradezu obskur, wenn man sich im Bundesgesundheitsministerium lieber in Rauschzustände redet wegen der gerade frisch erschlossenen Datenschätze. Lieber nicht so viel über die Fakten und die Realität reden, lieber mehr über eine strahlende Zukunft, die mögliche Risiken und bestehende Mängel eher im Dunkeln lässt. Spuren von Obskurantismus in der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Aber nicht nur dort.

Forderungen auf Vorrat

Nach schrecklichen Ereignissen wie den Messerattacken in Solingen oder Aschaffenburg wird oftmals eine wohlbekannte Forderung gestellt: mehr Überwachung, mehr Befugnisse für Sicherheitsbehörden, mehr Durchgriffsmöglichkeiten.

Diesen Abschnitt habe ich jetzt dreister Weise aus der Degitalisierung von September kopiert. Weil sich bei jedem Ereignis, das die innere Sicherheit tangiert, das Ritual der Forderung nach mehr Sicherheitsbefugnissen wiederholt, brauche ich mir nicht jedes Mal die Mühe machen, neue Umschreibungen für dieses Vorgehen zu finden.

Was oftmals nicht so laut gesagt wird: Dass viele Gewalttaten sehr häufig schon eine Vorgeschichte haben. Dass viele Gewalttaten eher die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit bereits bestehender rechtlicher Rahmenbedingungen zeigen, sei es wegen schlechter Ausstattung, fehlender Fähigkeiten oder schlicht zu wenig Personal.

Die Forderung nach Vorratsdatenspeicherung ist jedes Mal eine Farce, eine zweifache sogar, wie Daniel Ende des letzten Jahres passend schrieb. Sie ist aber auch Teil einer „Security by Obscurity“-Strategie, die sich bei allen Vorfällen als Ritual immer wieder abspielt.

Wichtiger erscheint es unseligerweise in der heutigen (digital)-politischen Welt, irgendeine Art von Handlungsfähigkeit als Impuls auf einen Vorfall zu zeigen. Was auch immer der Impuls der vermeintlichen Handlungsfähigkeit genau an Änderungen beinhaltet, ist eigentlich egal. Wesentlich ist, dass der Impuls das eigene Versagen verdunkelt.

Dass bei jedem dieser Verdunkelungsversuche ein Teil unserer aller Grundrechte geopfert wird, scheint dabei politisch in Kauf genommen werden zu müssen. Datenschutz dürfe nicht Täterschutz werden, heißt es immer wieder von der Union. Außer es geht um den Datenschutz für den Überwachungsapparat selbst, etwa Softwaredetails von Palantir. Der ist dann natürlich wichtig, um den Apparat selbst zu schützen. Datenschutz als Täterschutz gibt es dann wohl doch nach diesem schrägen konservativen Grundrechtsverständnis – zumindest wenn der Staat möglicherweise als Täter auftritt.

Grundrechtlich abgewogene und evidenzbasierte Sicherheitspolitik ist eigentlich ein Zeichen einer gesellschaftlichen Reife. Das lautstarke Einfordern immer neuer Sicherheitsbefugnisse in Verbindung mit dem umfangreichen Einsatz aktueller Methoden der Massendatenverarbeitung à la biometrischer Überwachung, am besten größtenteils unreguliert, ist Zeichen eines infantilen Verständnisses von Sicherheit, das uns alle unter Generalverdacht stellt. Wie es sonst nur in den „besten“ autoritären Staaten vorkommt.

Aber kommen wir zum Thema Aufmerksamkeit auf allerlei Themen an und für sich.

Attention is all you have

Oftmals werden Transformer-Modelle als eine der technischen Innovationen der letzten Jahre bezeichnet. Modelle für maschinelles Lernen, die einen Aufmerksamkeitsmechanismus enthalten. Attention is all you need, so der Titel des wissenschaftlichen Papers zu dieser Art von Deep-Learning-Architektur. Seit der ersten Beschreibung 2017 haben sich Transformer und die darauf aufbauenden Modelle, allen voran Sprachmodelle, rasant weiterentwickelt. Die genaue Funktionsweise bleibt aber eher obskur.

Genauer beschrieben ist aber die Art und Weise, wie der Mensch mit Aufmerksamkeit umgeht. Historisch gesehen haben politisch Handelnde immer wieder so intensiv um die Aufmerksamkeit von Menschen geworben, dass diese deren Aufmerksamkeit vollends für sich beansprucht haben. Früher geschah das durch ständiges Wiederholen in Form von Propaganda, heute ist die Strategie eine andere.

Unabhängig davon, wie schnell der technologische Fortschritt im Informationszeitalter weiter vor sich gehen wird, wie durch Sprachmodelle immer mehr „AI Slop“ erzeugt werden wird, letztlich ist die menschliche Aufmerksamkeit endlich.

Spätestens mit der ersten Präsidentschaft Donald Trumps 2017 hat sich zumindest in den USA die mediale Strategie des „Flooding the Zone with Shit“ fest etabliert, frei nach dessen ehemaligem Chefstrategen Steve Bannon. Diese Strategie wird inzwischen noch viel intensiver in der aktuellen Regierungsarbeit Trumps verfolgt.

Es geht so gelagertem Populismus nicht mehr um Fakten oder Moral, es geht um das Binden von Aufmerksamkeit. Denn letztlich ist das Ringen um das begrenzte Gut der menschlichen Aufmerksamkeit in Zeiten sinkender Kosten für die Generierung von Informationen und Unterhaltung das einzig konstant Wertvolle, eine Art soziale Währung in der Aufmerksamkeitsökonomie.

Befeuert von algorithmischen und stark individuell zugeschnittenen sozialen Medien entsteht dadurch eine Gefahr für unser aller Gesundheit und die Demokratie. Eine Erkenntnis, die nicht neu ist, die aber ausgerechnet Roger McNamee, ein ehemaliger Mentor und Investor von Mark Zuckerberg – mit Facebook und Meta selbst erheblicher Teil des Problems – schon 2017 klar artikulierte.

In Deutschland werden die Strategien des Bindens der Aufmerksamkeit durch populistische Strategien bis zum faschistischen Dammbruch aktuell durch ehemals konservative Parteien der Mitte zum Setzen der eigenen Agenda inzwischen konsequent nachgeahmt. Nicht gut für die Demokratie, wenn es nur noch das Thema Migration zu geben scheint und sich alle medial in einem Überbietungswettbewerb um mehr und mehr Grenzüberschreitungen befinden, auch ehemalige Bürgerrechtsparteien.

Eigentlich bräuchte es einen Paradigmenwechsel im medialen Umgang mit dieser Art von medialem Obskurantismus. Nur fehlt uns dazu eine wirksame Strategie, so scheint es. Faktenchecks, ob Merz’ Aussagen zu Vergewaltigungen jetzt nicht doch ein Quäntchen an Fakten beinhalten würden oder ob das Publikum bei Polittalks jetzt „besonders links-grün“ sei, sind eine erst einmal vermeintlich logische journalistische Reaktion.

Nur tragen Beiträge wie diese auch nicht besonders gut dazu bei, die Agenda wieder auf eine Vielfalt von Themen zu legen, um wieder gemeinsamen Konsens herzustellen. Letztlich werden falsche oder überzogene Narrative dadurch nur noch weiter breitgetreten. Am Ende geht es nicht um die Aufklärung, es geht nicht um das Finden der Wahrheit, es geht nur weiter um Aufmerksamkeit.

Das Falsche vom Kurs abzubringen, wird nicht einfach. Schon gar nicht angesichts der hektischen medialen Phase vor der Bundestagswahl. In der Demokratie, die wir in Deutschland aber ja glücklicherweise noch haben, haben wir aber alle einen unseren individuellen kleinen Moment, in dem wir alle unser persönliches demokratisches Lichtlein, unsere Stimme, auf die richten können, die sich für die Ausbreitung des Wahren, Klaren und Nützlichen einsetzen. In diesem Sinne wünsche ich eine gute, demokratische Wahl!

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KW 6: Die Woche, in der vieles zu kurz kam

netzpolitik.org - 8 Februar, 2025 - 13:05

Die 6. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 18 neue Texte mit insgesamt 2.532.577 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.

Fraktal, generiert mit MandelBrowser von Tomasz Śmigielski

Liebe Leser:innen,

ich habe mich vorgestern durch den Wahl-o-Mat geklickt. Als ich durch die 38 Thesen ging, fiel mir nochmal deutlich auf, was mich in diesem Bundestagswahlkampf stört: Es gibt so viele wichtige Themen, aber davon hört man kaum.

Bürgergeld und soziale Sicherheit für alle Menschen? Kommt in der öffentlichen Debatte kaum vor. Klima- und Energiepolitik? Egal. Bezahlbarer Wohnraum? Wie sichern wir die Demokratie vor denen, die sie zerstören wollen? War da was?

Stattdessen geht es um: Migration. Und zwar nicht um einen konstruktiven Umgang mit diesem wichtigen Teil unserer Gesellschaft. Sondern es geht um unlauter damit verknüpfte Gefahren und um vermeintliche Sicherheitsmaßnahmen dagegen. Aber auch die werden nicht wirklich diskutiert, sondern im Wahlschlussverkauf in die Ramschkiste geworfen, als müsse alles so schnell wie möglich abverkauft werden. Es entsteht ein Aufmerksamkeitszyklus, der vor allem Angst befeuert und der die Angst gleichzeitig braucht, um sich weiterzudrehen.

Mein Kollege Markus Reuter hat das diese Woche treffend kommentiert. Ich bin dankbar für seine klaren Worte: „Sicherheit entsteht nicht nur durch Gesetze und Polizei, sondern durch soziale Sicherheit, durch Bildung, Aufstiegschancen, gute Lebensumstände und eine Aussicht auf eine gute Zukunft.“

All diese Aspekte sollten wir wieder mehr auf die Agenda heben. Denn eine monothematische Politik, die sich nur mit dem Thema im hellsten Scheinwerferkegel befasst, hilft uns langfristig nicht.

Habt ein gutes Wochenende!
anna

#290 Off the Record: Auf der Spur der Spionierer

Eine App, mit der Eltern vermeintlich ihre Kinder überwachen können. Millionen von Nachrichten an den Kundendienst bieten einen einmaligen Einblick in ein Umfeld, in dem das Ausspähen der engsten Familie normal scheint. Das war der Ausgangspunkt unserer Recherchen zur Spionage-App mSpy. Im Podcast berichten wir zu den Hintergründen. Von Chris Köver –
Artikel lesen

Bundestagswahlkampf: Sind die Plattformen gegen Manipulation gewappnet?

Manche verbieten politische Werbung, andere setzen zumindest vorerst noch auf Faktenchecks. Wir vergleichen, wie Meta, YouTube, TikTok und X zwischen freiwilligen Regeln und geltendem Recht navigieren. Während die meisten zumindest ihren guten Willen betonen, fällt eine vollkommen aus der Reihe. Von Ingo Dachwitz –
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Trugbild: Große Reichweite, wenig Reibung

Deutsche Politiker treffen im Wahlkampf auf berühmte Content Creator. Das neue Format könnte eine spannende Alternative zu klassischen Talkshows sein. Leider zählen am Ende doch nur Sichtbarkeit und Wählerstimmen. Eine verpasste Chance. Von Vincent Först –
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Verdachtsfall Rechtsextremismus: Wir veröffentlichen das 1.000-seitige Verfassungsschutz-Gutachten zur AfD

Die Alternative für Deutschland steht im Verdacht, rechtsextrem und verfassungsfeindlich zu sein. Der Verfassungsschutz beobachtet die Partei und hat 2021 ein ausführliches Gutachten erstellt. Wir veröffentlichen dieses Dokument in voller Länge. Von Andre Meister –
Artikel lesen

Festnahmen und Einschüchterungen: Georgien geht immer repressiver gegen Demokratiebewegung vor

Die georgische Regierung attackiert die Oppositionsbewegung mit Festnahmen, Hausdurchsuchungen und Einschüchterung unabhängiger Medien. Seit mehr als zwei Monaten demonstrieren täglich Menschen gegen die immer autoritärere Regierung. Von Markus Reuter –
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Ampel-Bilanz: Zivilgesellschaft fordert Beteiligung auf Augenhöhe

Die Ampel versprach der digitalen Zivilgesellschaft mehr Beteiligung und Teilhabe. Auf Anfrage von netzpolitik.org ziehen mehrere Organisationen nun eine gemischte Bilanz, formulieren teils scharfe Kritik – und stellen Forderungen an die nächste Regierung. Von Daniel Leisegang, Anna Biselli –
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WhatsApp: Spyware-Angriff auf Medien und Zivilgesellschaft

WhatsApp meldet laut Medienberichten einen gezielten Angriff auf einige Nutzer:innen. Der Spähsoftware „Graphite“ der israelischen Firma Paragon Solutions soll ähnlich mächtig sein wie der berüchtigte Pegasus-Trojaner. Unter den Zielpersonen ist ein Journalist aus Italien. Von Jan Grapenthin –
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Interview mit Natascha Strobl: „Wir dürfen uns nicht kaputtmachen lassen“

Donald Trump und die Tech-Bros ziehen in den USA nun an einem Strang. Ihre libertär-faschistische Ideologie wirkt bis nach Europa und zieht dabei auch die hiesige politische „Mitte“ in ihren Bann. Die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl hat eine Idee, wie wir uns diesem gefährlichen Sog entziehen können. Von Chris Köver, Daniel Leisegang –
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Digitale Brieftasche: EU-Kommission holt den Super-Cookie zurück

In Brüssel werden derzeit die technischen Anforderungen an die europäische digitale Brieftasche verhandelt. Einmal mehr gibt es dabei massive Kritik am Vorgehen der EU-Kommission. Sie weite rechtliche Vorgaben zugunsten von Unternehmen erheblich aus, so der Vorwurf. Von Daniel Leisegang –
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Europol-Bericht zu Cybercrime: Europol kämpft mit der Datenflut

In einem Bericht zur Lage der Cyberkriminalität zeichnen die EU-Agenturen Europol und Eurojust ein düsteres Bild. Zum einen drohe ihnen, in der Datenflut unterzugehen, zum anderen wollen sie Zugriff auf deutlich mehr Daten, auch verschlüsselte. Dabei drängen sie zu mehr „freiwilliger“ Zusammenarbeit mit privaten Anbietern. Von Tomas Rudl –
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KI-Verordnung: Regeln für Biometrie-Überwachung bleiben unscharf

Die KI-Verordnung der EU lässt wichtige Fragen der Regulierung von Künstlicher Intelligenz offen. Aus diesem Grund hat die EU-Kommission gestern Leitlinien zum Gesetz veröffentlicht. Doch auch die bleiben uneindeutig, vor allem bei den Themen biometrische Überwachung und Social Scoring. Auch eine Definition von KI fehlt weiterhin. Von Maximilian Henning –
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10-Punkte-Plan: Hardliner Habeck im Law-and-Order-Strudel

Demokratische Parteien befeuern mit ihrem Überbietungswettbewerb bei Migration und Sicherheit die rechte Diskurshegemonie. Auch die Grünen machen mit. Doch die Brandmauer verläuft nicht nur zwischen AfD und den anderen, sondern zwischen einer Politik der Menschenrechte und einer der Entrechtung. Ein Kommentar. Von Markus Reuter –
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Bundestagswahl: Was sich die digitale Zivilgesellschaft wünscht

Progressive, grundrechtsorientierte politische Vorhaben sind aktuell nicht besonders angesagt. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen bereiten sich daher auf einen Abwehrkampf vor. Dabei gäbe es Wichtiges zu tun. Von Anna Biselli –
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Geheimer Beschluss: Pädokriminelle Inhalte bleiben trotz Kenntnis der Polizei im Netz

Vor mehr als drei Jahren wurde bekannt, dass Polizeibehörden pädokriminelle Inhalte kaum melden und entfernen. Die Politik gelobte damals Besserung – und entschied sich geheim anders. Dabei wäre die Löschung einfach und wirkungsvoll, zeigt jetzt eine Recherche von Panorama und STRG_F. Von Markus Reuter –
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Bundestagswahl: Das steht über Daten und Digitales in den Wahlprogrammen

Wir durchkämmen die Parteiprogramme nach digitalen Fragen und dem ominösen „Cyber“: Wer will wen anlasslos überwachen? Wer verspricht am meisten Glasfaser? Und wer will das Militär mit Drohnen aufrüsten? Von Tomas Rudl –
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Geschichten aus dem DSC-Beirat: An die Arbeit!

Die Geschäftsordnung steht und es geht ans Eingemachte: In seiner letzten Sitzung beschäftigte sich der Beirat für die deutsche Plattformaufsicht mit der anstehenden Bundestagswahl und dem Jugendschutz. Von Svea Windwehr –
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Bundestagswahl: X muss relevante Daten für Forschung freigeben

Das Digitale-Dienste-Gesetz ist eindeutig: Große Plattformen müssen der Wissenschaft Zugang gewähren, damit diese systemische Risiken wie zum Beispiel Wahlbeeinflussung untersuchen kann. Musks Plattform X war dem nicht nachgekommen – und hat nun vor dem Landgericht in Berlin verloren. Von Markus Reuter –
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Drohnenprogramm-Whistleblowerin: „Wie ein Internet der höllischen Dinge“

Lisa Ling war Technikerin im US-Drohnenprogramm. Im Interview spricht sie über die unsichtbare „Kill Cloud“ hinter den Drohnen und wie sich die gleiche Technik im Büroalltag und im Krieg wiederfindet. Von Gastbeitrag, Max Freitag –
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Drohnenprogramm-Whistleblowerin: „Wie ein Internet der höllischen Dinge“

netzpolitik.org - 8 Februar, 2025 - 13:04

Lisa Ling war Technikerin im US-Drohnenprogramm. Im Interview spricht sie über die unsichtbare „Kill Cloud“ hinter den Drohnen und wie sich die gleiche Technik im Büroalltag und im Krieg wiederfindet.

Unter anderem in Afghanistan haben die USA Drohnen eingesetzt. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / StockTrek Images

Max Freitag: Auf Ihrem T-Shirt ist zu lesen: „Weil ich Veteranin bin, bin ich gegen den Krieg.“ Welche Erfahrungen haben Sie beim Militär gemacht?

Lisa Ling: Ich möchte klarstellen, dass ich nie für den Krieg war. Ich wurde zur Sanitäterin, zur Krankenpflegerin und zur chirurgisch-technischen Assistentin ausgebildet. Ich erinnere mich, wie ich jemandem eine Schraube in den Knöchel gesetzt habe und er wieder laufen konnte. Das war ein tolles Gefühl.

Eines Tages kam ich an einigen hochrangigen Soldat*innen vorbei, die vergeblich versuchten, etwas zu drucken. Ich sah, dass ein Komma fehlte. Ich fügte eins hinzu und der Drucker startete. Damals war es mir nicht bewusst, aber das hat meine militärische Laufbahn nachhaltig verändert. Von diesem Moment an kamen Leute mit ihren Computerfragen zu mir. Es hat Spaß gemacht. Ich liebe Technik.

Nach einer Weile gab es weniger medizinische Arbeit und mehr Computerarbeit zu tun. Ich wurde zur Air Force versetzt, um in der Kampfkommunikation zu arbeiten. Dann wurde meine Einheit ins Drohnenprogramm integriert.

Was ich im Drohnenprogramm gesehen habe, zeigte mir, dass das US-Militär keine Kraft des Guten in der Welt ist. Heute bin ich zwar auch kein Kriegsfan, wenn Soldat*innen physisch entsandt werden. Aber ich ziehe den physischen Einsatz definitiv der Drohnenkriegsführung vor. Ich werde nie glauben, dass es in Ordnung ist, per Fernsteuerung in den Krieg zu ziehen.

Lisa Ling war bis 2012 als Technikerin für das US-Militär tätig.

Max Freitag: Was waren Ihre Aufgaben im Drohnenprogramm?

Lisa Ling: Wenn etwas repariert werden musste, Software und Hardware, habe ich daran gearbeitet. Es gab Computer, Server, Programme und Menschen. Die Cloud ist im Grunde ein Haufen von Computern, Speichern, Daten. Dazu kommen die Flugwerke und Kommunikationsgeräte. All das wuchs, während ich dort war.

So etwas zu regulieren, ist wie der Versuch, das Internet zu regulieren. Die Drohne selbst ist nur ein Peripheriegerät. Genauso wie eine Maus ein Peripheriegerät ist, das mit einem System verbunden ist.

Max Freitag: Sie sprechen sich gegen eine Erzählung aus, die Sie den „Drohnenmythos“ nennen. Was hat es damit auf sich?

Lisa Ling: Als die Drohnen kamen, wurde vor allem von der Obama-Regierung, aber auch von anderen, behauptet, dass ihre Angriffe chirurgisch seien. Dass sie präzise seien. Dass es weniger Kollateralschäden gäbe. Dass sie die Natur des Krieges verändern und Kriege kürzer und sicherer machen würden.

Ich glaube schon, dass all diese Technologien die Art des Krieges verändern. Aber sie verändern nicht den Krieg selbst. Krieg ist immer noch Krieg. In Gaza werden Drohnen eingesetzt und fast 70 Prozent der gebauten Strukturen sind zerstört. Abertausende Menschen wurden getötet.

„Dass der Krieg kürzer wird, ist ein Mythos“

Die für die Drohnen eingesetzte Künstliche Intelligenz zielt auf Familienhäuser, Kinder, Zivilist*innen. Was hat diese Technologie den Palästinenser*innen gebracht? Hat sie die Versprechen der Drohnenmythologie gehalten? Die Vorstellung, dass der Krieg durch den Einsatz von Technologie kürzer und sicherer wird, ist ein absoluter Mythos.

In den USA sind die Menschen von Flugzeugen fasziniert. Sie konzentrieren sich auf die Drohne selbst. Niemand betrachtet das gesamte Netzwerk dahinter, das sozio-technologische Konstrukt oder die personell hochbesetzten Systeme, die die Drohne zum Laufen bringen.

Max Freitag: Sie und der ehemalige Luftwaffentechniker Cian Westmoreland schlagen dafür das Konzept der „Kill Cloud“ vor. Was genau meinen Sie damit?

Lisa Ling: Wir können Cian für den Namen danken. Für das Konzept gab es bisher keine verständliche Beschreibung. Es ist kompliziert. Es ist wie ein Internet der höllischen Dinge, eine Kill Cloud. Wenn man es sich als eine mörderische Cloud vorstellt, ist es verständlicher.

Heutzutage machen wir alles in der Cloud. Wenn wir ein Uber rufen, ist das die Cloud. Wenn wir auf unsere Software zugreifen, etwa auf Azure, das auch von Israel in Palästina eingesetzt wird, dann ist das Cloud-Technologie.

Menschen nutzen sie im Büro, um alltägliche Dinge zu erledigen. Jetzt wird im Grunde dieselbe Technologie auch zum Töten eingesetzt.

Max Freitag: Automatisierung soll menschliche Fehler und Vorurteile vermeiden. Im Kriegskontext ist das entscheidend. Glauben Sie, dass das gelingt?

Lisa Ling: Nein, es verschlimmert die Situation. Die großen Sprachmodelle, die vom US-Militär eingesetzt werden, durchforsten das Internet nach all unseren Daten. Das bedeutet, dass Informationen normaler Menschen für kriegerische Zwecke verwendet werden.

In der Wissenschaft werden Daten strukturiert gesammelt, um jeglichen Bias zu vermeiden. In der Kill Cloud sammeln wir erstmal alle Daten, Eingrenzung und Markierung erfolgen im Nachhinein. Es gibt dieses Gerede vom „Human in the Loop“. Aber keine Anzahl an Menschen könnte jemals die Datenmenge überblicken, die in Zielauswahl-Systemen verwendet wird.

Datenbasierte Tötungen

Die Systeme spucken viele Ziele aus. Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass im US-Drohnenangriff vom 29. August 2021 in Afghanistan mit KI experimentiert wurde. Hochrangige Militärs erklärten, es habe sich um einen „gerechten Schlag“ gehandelt. Die anschließende Untersuchung wurde weitgehend von Journalist*innen vor Ort durchgeführt. Es wurde bewiesen, dass es sich nicht um einen gerechten Schlag handelte und dass zehn unschuldige Menschen getötet wurden.

Die Entscheidung wurde wahrscheinlich mit Hilfe von Daten getroffen, von denen einige aus sozialen Netzwerken und dem Internet stammen oder die von Datenmaklern verkauft wurden. Offensichtlich spiegeln viele der gesammelten Daten Vorurteile wider.

Max Freitag: OpenAI, das Unternehmen hinter ChatGPT, arbeitet jetzt mit dem Militärdienstleister Anduril zusammen, um „defensive“ Drohnentechnologie zu entwickeln. Könnte es sein, dass ich eines Tages einen Chat-Bot nutze und meine Daten dazu verwendet werden, Algorithmen zu trainieren, die dann zum Töten von Menschen eingesetzt werden?

Lisa Ling: Sicherlich ist es möglich, sogar wahrscheinlich, dass alles, was von einem vernetzten Gerät an die Cloud gesendet wird, sei es eine Kredittransaktion oder eine Uber-Fahrt, letztendlich als Waffe eingesetzt werden könnte.

Aber das ist keine brandneue, hochentwickelte Technologie. Wir haben mittlerweile nur mehr Speicherplatz, mehr Rechenleistung, mehr Übertragungsmöglichkeiten. Grundsätzlich hat sich an der Technologie nicht viel geändert, außer dass Geschwindigkeit und Kapazität zugenommen haben.

Tech-Unternehmen und Waffenhersteller

Und immer mehr Tech-Unternehmen sind daran beteiligt, Waffensysteme zu entwickeln, aber sie werden nicht als Waffenhändler gesehen. Dabei trägt Microsoft ebenso zu Militärtechnologie bei wie Raytheon. Google ist genauso ein Militärdienstleister wie Anduril oder Boeing.

Es gibt dabei viel Geld zu verdienen. Unternehmen sind dazu da, Geld für ihre Aktionär*innen zu verdienen, nicht um Frieden zu schaffen. Krieg ist profitabel. Frieden ist es nicht.

Wie Edward Snowden sagte: Vielleicht müssen sich die Anreize ändern. Aber die Menschen an der Macht haben noch nicht den Willen, die Dinge zu ändern.

Max Freitag: Heißt das, dass die Kill Cloud genau so funktioniert, wie sie soll?

Lisa Ling: Sie funktioniert wie beabsichtigt. Es gibt Menschen, die wollen, dass sich was ändert. Viele von ihnen haben sich zu Wort gemeldet. Viele sind von ihren Posten im Außenministerium oder bei Google zurückgetreten.

Aber diejenigen, die die Infrastruktur besitzen, wie Amazon Web Services, Microsoft, Google oder die Risikokapitalgebenden, die Tech-Start-ups unterstützen, sind auch diejenigen, die jetzt die Waffen bauen.

Max Freitag: Trump ist wieder im Amt und hat sofort jede Menge Dekrete unterzeichnet, darunter eine Abschaffung der KI-Richtlinien. Er kündigte auch an, dass die USA sich wieder als „wachsende Nation“ betrachten sollten, die ihr Territorium ausdehnen. Was halten Sie davon?

Lisa Ling: Wieder eine wachsende Nation? Das hat sich im Grunde nie geändert. Wir müssen die rein parteipolitische Brille ablegen und verstehen, wer hier wirklich an der Macht ist und woher das Kapital kommt.

Folgen wir dem Geld, um das Problem an der Wurzel zu packen. Mir scheint, dass die Leute, die hier das Sagen haben, die Elon Musks dieser Welt sind. Wir müssen uns die Googles dieser Welt oder das Risikokapital, das sie finanziert, anschauen.

Alle reden davon, dass sich unsere Länder weiter nach rechts bewegen. Irgendwas hat uns dorthin gebracht, und vielleicht ist es an der Zeit, sich mit den Ursachen zu befassen, nicht mit den Symptomen.

Lisa Ling war als Technikerin im Drohnenprogramm der US Air Force tätig. Während ihrer militärischen Laufbahn wurde sie an verschiedenen Standorten eingesetzt, darunter im Hauptquartier des Distributed Common Ground System der Luftwaffe auf der Joint Base Langley-Eustis in Virginia, an einem Standort der Air National Guard in Kansas sowie in mehreren Auslandseinsätzen. Nach ihrem Militärdienst reiste sie nach Afghanistan, um sich aus erster Hand ein Bild von den Auswirkungen ihrer Einsätze zu machen. Seitdem bietet sie kritische Einblicke in die Vorgänge des US-Militär, besonders in Bezug auf Drohnenkriegsführung.

Im Rahmen ihrer Kollaboration mit dem Disruption Network Lab in Berlin hat sie 2021 das Konzept der Kill Cloud geprägt. Als Fellow des Disruption Institute veröffentlichte sie vor kurzem einen Artikel, in dem sie die Schwierigkeiten der Regulierbarkeit dieser Art der Kriegsführung darlegt.

Max Freitag ist studierter Philosoph und Journalist aus Berlin. Er interessiert sich für Innenpolitik, Ideologien, soziale Bewegungen und Überwachung. Manchmal wagt er sich zu seinen Wurzeln zurück, um über politische Theorie zu schreiben.

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Bundestagswahl: X muss relevante Daten für Forschung freigeben

netzpolitik.org - 7 Februar, 2025 - 15:25

Das Digitale-Dienste-Gesetz ist eindeutig: Große Plattformen müssen der Wissenschaft Zugang gewähren, damit diese systemische Risiken wie zum Beispiel Wahlbeeinflussung untersuchen kann. Musks Plattform X war dem nicht nachgekommen – und hat nun vor dem Landgericht in Berlin verloren.

Elon Musks Haltung zugunsten rechter Parteien und Bewegungen ist bekannt. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ZUMA Press Wire

Die Wahlbeobachtungsorganisation Democracy Reporting International (DRI) hat vor dem Berliner Landgericht einen Erfolg gegen die Plattform X in einem Eilverfahren errungen. Dabei geht es um Zugang zu öffentlich verfügbaren Daten des Kurznachrichtendienstes, der mittlerweile Elon Musk gehört. Die Plattform hatte sich geweigert, DRI öffentlich zugängliche Daten wie die Reichweite oder die Anzahl an Likes und Shares von Posts herauszugeben. Dagegen hatte DRI zusammen mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) vor dem Landgericht geklagt. Der Zugang für Wissenschaft und Forschung ist im Digital Services Act (DSA) geregelt.

Die Untersuchung von Plattformen in Sachen politischer Meinungsbildung und vor allem im Umfeld von Wahlen ist wichtig, da Inhalte auf Plattformen auf verschiedene Art und Weise Einfluss auf die Wahlen nehmen können. Neben Desinformationskampagnen, irreführender Werbung und Hetzkampagnen ist bei manchen Plattformen weiterhin politisches Microtargeting möglich. Damit lassen sich Personen anhand ihrer Eigenschaften mit passenden Botschaften ansprechen.

Zuletzt war es in Rumänien bei der Präsidentschaftswahl zu einer massiven Einflussnahme über TikTok gekommen. Solche Kampagnen können besser entdeckt und untersucht werden, wenn die Wissenschaft einen geeigneten Zugang zu relevanten Informationen bekommt.

X muss Echtzeit-Zugang geben

Den hat die Klage nun erreicht. Im Beschluss des Gerichts, den netzpolitik.org einsehen konnte, wird X verpflichtet, „ab sofort bis zum 25. Februar 2025 einen unbeschränkten Zugang zu allen öffentlich verfügbaren Daten der Plattform X, einschließlich zu Daten in Echtzeit, über ihre Online-Schnittstelle zu gewähren.“ Das heißt auch, dass X die Anzahl der Datenabfragen über die Schnittstelle nicht begrenzen darf.

Gesetzliche Grundlage für die Entscheidung ist Art. 40 des DSA. Dieser verpflichtet große Online-Plattformen dazu, Forschenden unverzüglich Zugang zu öffentlich verfügbaren Daten ihrer Plattform zu gewähren, um systemische Risiken untersuchen zu können.

„Die Sprache des Gesetzes ist sehr eindeutig und wir begrüßen, dass das Gericht bestätigt hat, was dort steht: Die Zivilgesellschaft und Forscher haben das Recht, Wahldebatten online zu analysieren. Der digitale Raum ist keine rechtsfreie Zone und ich vertraue darauf, dass X uns schnell Zugang zu seinen Daten gewähren wird. Wir untersuchen solche Debatten unvoreingenommen, um Transparenz in das zu bringen, was auf solchen Plattformen geschieht“, sagt Michael Meyer-Resende, Geschäftsführer von DRI.

Die GFF wertet die Entscheidung des Gerichts als „riesigen Erfolg für die Forschungsfreiheit und unsere Demokratie“. „Wir haben den Zugang zu relevanten Forschungsdaten erkämpft und schieben damit Versuchen, Wahlen zu beeinflussen, einen Riegel vor. Ein starkes Zeichen für den Schutz unserer Grundrechte im digitalen Zeitalter“, sagt Simone Ruf, Juristin und stellvertretende Leiterin des Center for User Rights der GFF.

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Geschichten aus dem DSC-Beirat: An die Arbeit!

netzpolitik.org - 7 Februar, 2025 - 13:41

Die Geschäftsordnung steht und es geht ans Eingemachte: In seiner letzten Sitzung beschäftigte sich der Beirat für die deutsche Plattformaufsicht mit der anstehenden Bundestagswahl und dem Jugendschutz.

Die Geschäftsordnung ist geschafft! Jetzt gilt es, die Ärmel hochzukrempeln. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Jürgen Eis, Bearbeitung: netzpolitik.org

Spätestens seit der Amtseinführung von Donald Trump sind schwierige Zeiten für die europäische Plattformregulierung angebrochen. Die CEOs von Meta, Google, Amazon und Apple, die Trumps Zeremonie mit Spenden in Millionenhöhe unterstützt hatten, flankierten den neuen Präsidenten und seinen Chefberater für “Effizienz” Elon Musk. Sie waren Trump damit näher als Mitglieder seines Kabinetts.

Die neue Nähe zwischen Silicon Valley und Trump drückt sich nicht nur finanziell, sondern auch in dem vorauseilenden Gehorsam aus, mit dem Zuckerberg und Co. ihre Plattformen nach Trumps Vorstellungen gestalten. Exemplarisch sind Metas geänderte Hassrede-Regeln, nach denen trans Personen jetzt als „psychisch krank“ und Frauen als „Haushaltobjekte“ bezeichnet werden dürfen. Auch Googles Ankündigung, keine Faktenchecks im Kontext des europäischen Verhaltenskodex gegen Desinformation zu veröffentlichen, dürfte in Trumps Weißem Haus auf Anerkennung stoßen.

Vorbei sind also die Zeiten, als das Silicon Valley noch Protestbriefe gegen Trump schrieb und sich als Bastion des Widerstands gegen die konservative Agenda inszenierte.

Die Gründe sind so offensichtlich wie simpel: Durch den Digital Services Act (DSA) und Digital Markets Act (DMA) stehen US-Tech Unternehmen unter regulatorischem Druck aus Europa. Sie müssen neue Pflichten bei der Inhaltemoderation erfüllen und strengere Wettbewerbsregeln beachten. Und die neue Broligarchie zählt offenbar auf Trump, potenzielle Millionenstrafen abzuwenden, wenn sie sich daran nicht halten.

Auch ohne eine nahende Bundestagswahl gibt es also für einen Digital Services Coordinator (DSC), der in Deutschland die Umsetzung des DSA überwacht, mehr als genug zu tun. Bühne frei für die dritte Sitzung des Beirats des deutschen DSC.

Geschäftsordnung für die Arbeitsfähigkeit

Nach langem Ringen in der zweiten Beiratssitzung konnte dieses Mal die Geschäftsordnung des Beirats final beschlossen werden. Neben einigen eher kosmetischen Änderungen betrifft das wichtigste Update die Arbeitsgruppen des Beirats. Zu solchen können sich die Mitglieder zusammenfinden, um Positionen zu konkreten Themen zu erarbeiten.

Geändert wurde, dass Arbeitsgruppen die Ergebnisse ihrer Beratungen dem Rest des Beirats nicht mehr einvernehmlich vorstellen müssen. Partikularinteressen können so die Arbeit einer Arbeitsgruppe (und damit des Beirats) nicht blockieren oder verhindern. Eine kleine, aber zentrale Änderung für die Arbeitsfähigkeit.

Nach einer erfrischend kurzen Diskussion und Abstimmung darüber wurde die Sitzung dann schon nach knapp 30 Minuten für die Öffentlichkeit geöffnet. Als erstes Thema stand, wie könnte es anders sein, die kommende Bundestagswahl auf der Tagesordnung.

Stress wegen des Stresstests

Nach dem Wahl-Fiasko in Rumänien (wir erinnern uns: Nach Vorwürfen gegenüber TikTok, den ultranationalistischen Kandidaten Georgescu bevorteilt zu haben, wurde das Wahlergebnis annulliert und ein DSA-Verfahren gegen TikTok eingeleitet) ist es nur verständlich, dass die Vorbereitung der Bundestagswahl höchste Priorität für den deutschen DSC hat.

Weniger verständlich ist die mangelnde Einbindung des Beirats dabei. Der Beirat wurde zu den verschiedenen vorbereitenden Treffen zwischen Plattformen, Zivilgesellschaft, Kommission und DSC – darunter ein Stresstest, der Krisensituationen im Kontext der Wahl simulieren soll – weder im Vorfeld informiert, befragt noch proaktiv eingeladen.

Dass solche Gespräche von einem vertrauensvollen Rahmen leben, ist klar. Es gibt nicht nur Vorteile, wenn da ein vierzehn-köpfiger Beirat mit am Tisch sitzt. Genauso klar ist aber auch, dass der Beirat über Wissen und Erfahrungen verfügt, die der DSC nutzen kann, insbesondere solange die Plattformaufsicht personell unterbesetzt ist.

Gerade die Ereignisse in Rumänien zeigen, wie wichtig es ist, diverse Stakeholder mit unterschiedlichen Expertisen möglichst früh in die Vorbereitung von Wahlen einzubinden. Darüber hinaus ist auch das Digitale-Dienste-Gesetz (DDG) klar, das die Aufgaben des Beirats beschreibt: Er berät den DSC zu wesentlichen Fragen der Durchsetzung des DSA.

Beratung kann man annehmen, muss man aber nicht. Um beraten zu können, ist aber ein Minimum an Transparenz und Information unabdingbar.

Die Einbindung des Beirats in die Arbeit des DSC wird ein Aushandlungsprozess bleiben. Das ist bei einem neu gegründeten Gremium nicht verwunderlich und ein beidseitiger Gewöhnungsprozess: für den Beirat, dass er für seine Rechte einstehen muss. Und für den DSC, dass er einen Beirat hat, der mitreden will.

Von Bonn nach Brüssel?

Schon im Bericht der ersten Beiratssitzung ging es um das Selbstverständnis des Gremiums. Wie verstehen wir unsere Aufgaben und ihre Grenzen? Damals hatte sich herauskristallisiert, dass sich nicht alle Fragen mit einem Blick in die Geschäftsordnung oder das DDG lösen lassen werden.

Eine ganz zentrale Frage ist aufgetaucht, als sich der Beirat mit den Regelungen des DSA zum Zugang zu Plattformdaten für Forschende beschäftigt hat. Um von dem neuen Recht auf Datenzugang Gebrauch machen zu können, warten Forschende seit über einem Jahr gespannt auf einen delegierten Rechtsakt. Dieser wird von der Europäischen Kommission erarbeitet und soll viele praktische Fragen klären, etwa: Sollen Forschende für Datenzugang zahlen müssen? Wie müssen Daten zur Verfügung gestellt werden? Und wer genau kann sich auf Datenzugang bewerben?

Dieser delegierte Rechtsakt ist nur ein Beispiel für viele Themen, bei denen die Arbeit des DSC in direkter Verbindung mit der Europäischen Kommission steht. Dementsprechend stellt sich die Frage, ob sich der Beirat in seiner beratenden Tätigkeit auf den DSC und deutsche Behörden beschränken muss, oder sich auch an die europäische Aufsicht wenden kann.

Einigen Mitgliedern des Beirats ist es wichtig, dessen Rolle nicht nur auf die direkte Ansprache des DSC zu beschränken, sondern auch seiner Rolle in Europa gerecht zu werden. In Zukunft wird das von Fall zu Fall entschieden und es führt hoffentlich dazu, dass der Beirat seine Expertise und diversen Perspektiven auch auf europäischer Ebene einbringen kann.

Jetzt aber los!

Die nächste Gelegenheit dazu wird das Thema des Minderjährigenschutzes im Netz bieten. Zu diesem Thema hat sich in dieser Beiratssitzung eine Arbeitsgruppe gegründet. Von potenziell süchtig machenden Algorithmen über Lootboxen bis zu sexualisierter Gewalt im Netz ist die Frage nach effektivem und grundrechtsschondendem Schutz von Kindern und Jugendlichen im Netz wohl die virulentes Frage in der Post-DSA-Welt.

Der DSA regelt den Kinder- und Jugendschutz in Artikel 28, zu dessen Auslegung aktuell Richtlinien erarbeitet werden. Diese werden eine entscheidende Rolle dabei spielen, wie die Plattformen ihre Verantwortung, Maßnahmen für den Kinder- und Jugendschutz zu ergreifen, interpretieren werden. Unter anderem geht es dabei um die Frage, ob der DSA eine Altersverifikation notwendig macht – eine Frage, die die Grundrechte aller Nutzer*innen empfindlich betrifft.

Gerade eine so polarisierte Debatte wie die zum Minderjährigenschutz im Netz kann von verschiedenen Perspektiven, Erfahrungen und Expertisen profitieren. Für den Beirat als einziges Gremium in der Landschaft der europäischen Plattformaufsicht, das verschiedene Sichtweisen bündelt, ist die Befassung mit diesem Thema also ein wichtiger Testballon: um die Zusammenarbeit zu üben und dem eigenen Anspruch, fundierte inhaltliche Impulse zu setzen, gerecht zu werden.

Damit kann die Aufsichtsarbeit des DSC und der Kommission hoffentlich gestärkt werden. Und auf eine starke Durchsetzung des DSA, die Nutzer*innenrechte in den Vordergrund stellt, wird es ankommen, wenn Europa dem wachsenden Druck aus den USA standhalten möchte. Denn der DSA und DMA, trotz all ihrer Schwächen, sind aktuell der beste Weg, um der Zentralisierung von Macht in den Händen der Tech-Oligarchie etwas entgegenzusetzen.

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Bundestagswahl: Das steht über Daten und Digitales in den Wahlprogrammen

netzpolitik.org - 7 Februar, 2025 - 11:45

Wir durchkämmen die Parteiprogramme nach digitalen Fragen und dem ominösen „Cyber“: Wer will wen anlasslos überwachen? Wer verspricht am meisten Glasfaser? Und wer will das Militär mit Drohnen aufrüsten?

Der Plenarsaal des Deutschen Bundestages. – CC-BY-ND 2.0 sumo4fun

Auch wenn der Wahlkampf anderes vermuten lässt: Der Blick auf die Wahlprogramme der Parteien zur Bundestagswahl zeigt schnell, dass Digitales darin viel Platz einnimmt. Wir vergleichen, was Union, SPD, Grüne, Linke, FDP und BSW für ihre Wählenden in Sachen Daten, Netzpolitik und Digitalisierung versprechen.

In unsere Übersicht mit eingeflossen sind demokratische Parteien, die laut aktuellen Umfrageergebnisse eine realistische Chance auf einen Einzug in den Bundestag haben.

Anlasslose Massenüberwachung

Die Union plant mehr Videoüberwachung, was sie als „Videoschutz“ bezeichnet, und zwar „an öffentlichen Gefahrenorten“. Sie setzt sich auch für „Systeme zur automatisierten Gesichtserkennung an Bahnhöfen, Flughäfen und anderen Kriminalitätsschwerpunkten“ ein.

CDU und CSU sprechen sich bekanntlich schon lange für eine anlasslose Massenüberwachung von Telekommunikationsdaten aus und fackeln bei der Vorratsdatenspeicherung nicht lange: Es soll eine Verpflichtung der Internetanbieter „zur Speicherung der IP-Adressen und Portnummern“ kommen. Nur die Länge der „Mindestdauer“ dieser Speicherung bleibt im Programm offen. Dazu hatte sich die CDU aber bereits im Dezember öffentlich eingelassen: Sie plant demnach eine dreimonatige Mindestspeicherung von IP-Adressen.

Die Grünen hingegen möchten bei der Überwachung der Telekommunikation „bürgerrechtsschonende Instrumente wie das sogenannte Quick-Freeze“ bevorzugen und betonen: „Anlasslose Vorratsdatenspeicherung und Chatkontrolle lehnen wir ab.“ Biometrische Massenüberwachung im öffentlichen Raum schließt das Programm zwar ebenfalls aus. Jedoch nennt der aktuelle Zehn-Punkte-Plan mit Verweis auf den Beschluss des Bundestags ausdrücklich die Unterstützung der „biometrischen Gesichtserkennung im Internet für Bundespolizei und Bundeskriminalamt“.

Die Linke positioniert sich klar zur Chatkontrolle, die sie ablehnt. Sie setzt sich generell für einen „Schutz vor digitaler Massenüberwachung durch Staat oder Konzerne“ ein und will das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sichern. Das heißt bei den Linken auch, dass sie sich gegen Vorratsdatenspeicherung und biometrische Videoüberwachung stellen.

Bei der SPD ist die Frage der Vorratsdatenspeicherung ein Rätselraten, denn konkret erwähnt im Programm ist sie nicht. Es findet sich nur ein kaum verständlicher Absatz, den wir hier vollständig zitieren:

Zudem stärken wir die Kompetenzen der Sicherheitsbehörden gegen Cybercrime. Dadurch verbessern wir die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern und stärken die Verteidigung gegen Cyberangriffe auf Menschen und Wirtschaft – insbesondere IP-Adressen und Port-Nummern.

Wahrscheinlich ist das ein sprachlicher Fehler, denn es ergibt wenig Sinn, die Verteidigung gegen Cyberangriffe auf IP-Adressen und Port-Nummern zu stärken. Viel eher dürfte die SPD planen, IP-Adressen und Port-Nummern anlasslos zu speichern, was eine Vorratsdatenspeicherung wäre – und damit konsistent mit den Forderungen der SPD-Innenministerin Nancy Faeser. Auch die SPD-Fraktion im Bundestag hatte im Januar 2025 erklärt, dass sie grundsätzlich einen dem Rechtsausschuss vorgelegten Gesetzentwurf von CDU und CSU zur Vorratsdatenspeicherung unterstützen würde, „insbesondere die Speicherung von IP-Adressen“.

Das BSW möchte weder Chatkontrolle noch Vorratsdatenspeicherung. Die Partei fordert, „das Sammeln und Speichern individueller Verhaltensdaten“ durch den Staat zu verbieten. Zu verhindern sei, „dass der zunehmende Einsatz digitaler Technologien zum gläsernen, totalüberwachten Bürger“ führe. Auch setzt sich das BSW für eine „freie Nutzung kryptografischer Verfahren“ ein.

Polizei und Datenanalysen

Die SPD verspricht ein „modernes Bundespolizeigesetz“, lässt aber offen, was damit konkret gemeint ist. Zumindest ein Hinweis liefert der Plan, der Bundespolizei „automatisierte (KI-basierte) Datenanalysen“ erlauben zu wollen. Auch das Bundeskriminalamt soll dies künftig dürfen, um „riesige Datenmengen“ effizient auswerten zu können. Die Sozialdemokraten wollen außerdem, dass sich Europol stärker gegen Umweltkriminalität einsetzt.

Die Grünen positionieren sich beim Bundespolizeigesetz ganz ähnlich und wollen es ebenfalls „modernisieren“. Was das praktisch bedeutet, bleibt unklar. Deutlicher werden die Grünen nur bei Europol: Die Behörde soll „zu einem Europäischen Kriminalamt“ werden, das „eigene operative Möglichkeiten“ bekommen soll. Ein weiterer konkreter Plan ist im Programm enthalten: Die Grünen wollen für die Behörden von Bund und Ländern ein „Gemeinsames Zentrum Organisierte Kriminalität“ einrichten. Zu Analysen großer Datenmengen bei der Polizei steht im grünen Programm nichts – wohl aber im bereits erwähnten Zehn-Punkte-Plan, der allerdings nicht auf Parteitagsbeschlüssen fußt.

Bei der CDU/CSU geht man einen Schritt weiter: Der Polizei soll nicht nur die „Nutzung moderner Software zur Analyse von großen Datenmengen“ erlaubt werden, die auch polizeiliche Datenbanken einbezieht, sondern auch die Auswertung von „sozialen Netzwerken“. Ein neues Bundespolizeigesetz plant die CDU/CSU hingegen nicht. Was Europol angeht, möchte auch die CDU die Behörde zu einer „Zentralstelle für Europa“ und zu einem „gemeinsamen Daten- und Informationshaus für die nationalen Sicherheitsbehörden“ ausbauen.

Auch das BSW möchte der Polizei eine „KI-basierte Auswertung“ und einen „automatisierten Datenabgleich“ erlauben, sofern es sich um „extremistische, terroristische oder andere schwerste Straftaten“ handelt. Konkrete Vorhaben zur Bundespolizei oder zu Europol enthält das Programm des BSW nicht.

Die Linke erwähnt in ihrem Wahlprogramm keine konkreten Gesetzesvorhaben zur Digitalisierung bei der Polizei, möchte aber eine Kriminalpolizei, die „mit der dynamischen Entwicklung von Kriminalität“ Schritt halten kann. Aber sie möchte keine Sicherheitspolitik, „die in die Privatsphäre der Menschen eingreift“.

Datenschutz

Traditionell läuft bei der Union Datenschutz unter Industriepolitik, das ist auch bei dieser Wahl nicht anders. So soll „unpraktikable“ Datenschutzpolitik eine „echte Datenchancenpolitik“ werden, heißt es im aktuellen Programm. Die auf diese Weise offenbar zu „Open Data“ erklärten Daten sollen für Innovationen und Wachstum genutzt werden.

Abschaffen will die Union das Konzept der Datenminimierung, stattdessen soll „Datensouveränität und Datensorgfalt“ einziehen: Alle sollen alles von sich preisgeben können, wenn sie es denn möchten. Eine automatisierte Erhebung und Nutzung von Daten will die Union fördern, um damit „echte Durchbrüche bei KI“ zu erreichen.

Abbauen wollen die Konservativen die „bestehenden Doppelstrukturen zum Datenschutz auf Bundes- und Landesebene“. Außerdem soll die DSGVO „alltagstauglich“ werden, damit über standardisierte Verfahren mehr Daten bei Werkstätten, Arztpraxen sowie beim Austausch mit und zwischen staatlichen Behörden fließen können.

Datenschutz soll auch im Bildungsbereich „pragmatisch“ werden. Demnach sollen sich Bund und Länder auf ein „bundesweites Bildungsverlaufsregister über alle Stufen formaler Bildung“ einigen. Die Informationen sollen dann beispielsweise von der Forschung ausgewertet werden. Als ersten Schritt wünscht sich die Union eine „ländergemeinsame datenschutzkonforme Identifikationsnummer für alle Schülerinnen und Schüler (Schüler-ID / Statistik-ID)“.

Nicht fehlen darf der Dauerbrenner „Datenschutz darf nicht zum Täterschutz werden“, mehr dazu im Abschnitt „Anlasslose Massenüberwachung“.

Die Grünen wollen einen „effektiven und zugleich praktikablen Datenschutz“. Hierfür soll „Datenschutzbürokratie“ abgebaut werden, um die Digitalisierung der Wirtschaft und die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle zu erleichtern.

Zugleich soll die Fragmentierung der Datenschutzaufsicht zurückgefahren werden, indem die DSGVO „effizienter und einheitlicher umgesetzt“ wird. Eine Bündelung von Zuständigkeiten für bestimmte Sektoren oder Forschung bei einzelnen Aufsichtsbehörden soll unter anderem Doppelregulierung und unklare Zuständigkeiten vermeiden.

In eine ähnliche Richtung gehen die Vorschläge der FDP – zumindest, was die Aufsicht betrifft. Eine Änderung des Grundgesetzes soll die Datenschutzkonferenz derart stärken, dass sie eigenständig verbindliche Beschlüsse fassen kann. Insgesamt soll es eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Datenschutzrechts geben.

Abgesehen davon sieht die FDP Daten als Wirtschaftsmotor. Eine große Rolle spielen hierbei KI-Anwendungen, Deutschland soll „zu einem der stärksten Standorte für künstliche Intelligenz in der Welt“ werden. Der wichtigste Standortfaktor sei dabei die Verfügbarkeit von Trainingsdaten, entsprechend leicht sollte der Zugang dazu fallen.

Halt machen will die FDP nicht bei der Wirtschaft, unter anderem will sie gerichtliche Entscheidungen als Trainingsdaten zur Verfügung stellen, um die „Chancen der Künstlichen Intelligenz (KI) in der Justiz“ auszuloten.

Datenschutz spielt im Programm der SPD keine überragende Rolle, vielmehr sind einzelne Punkte über das gesamte Papier verstreut. Das meiste davon findet sich weiter oben im Abschnitt „Anlasslose Massenüberwachung“, etwa „automatisierte (KI-basierte) Datenanalysen“ für die Polizei.

An anderer Stelle will die SPD den Datenschutz für Opfer von Hassdelikten stärken. Die Wohn- oder Aufenthaltsanschrift soll in Strafverfahren künftig nicht mehr durch Akteneinsicht offengelegt werden müssen. Das soll Betroffene besser schützen.

In Sachen Migration will die SPD die Ausländerbehörden stärken, den Datenaustausch verbessern und ein „One-Stop-Government-Verfahren“ etablieren. „Bei der Identitätsklärung werden wir unter Beachtung des Sicherheitsinteresses des Staates für klare Regelungen sorgen“, heißt es ominös.

Möglichst früh will die Linke die „Medien- und Datenschutzkompetenz von Kindern und Jugendlichen“ fördern, was auch für das Lehrpersonal gelte. Diese müssten verstärkt zu KI, Datenschutz und digitaler Technik geschult werden. Zudem dürfe KI nicht für die Bewertung oder die Vorhersage von Lernerfolgen genutzt werden.

„Gefährliche Lücken bei Datenschutz und Datensicherheit“ bei der elektronischen Patientenakte (ePA) will die Linke unverzüglich schließen. Generell soll die ePA der Verbesserung von Behandlungen dienen, „riesige Datenmengen“ dürften nicht ohne Wissen der Patient:innen für kommerzielle Marktakteure freigegeben werden.

Wenig erhellend fällt das Programm des BSW in puncto Datenschutz aus. Verankert ist die Thematik vorrangig unter „Bürokratieabbau“. Pflichten wie elektronische Rechnungsstellung für Betriebe seien „Zwangsmaßnahmen“, die das BSW ablehnt. Zugleich soll „Tracking mittels Cookies oder anderer Verfahren“ grundsätzlich unterbleiben, wenn das Nutzer:innen in ihrem Browser so einstellen.

Bundeswehr, äußere Sicherheit und Cyber

Die Union möchte für das Militär „die eigenen Cyberfähigkeiten massiv aufbauen“, ohne jedoch konkreter zu werden. Für die Bundeswehr soll eine „Drohnenarmee“ aufgebaut werden, „inklusive der notwendigen Produktionskapazitäten“.

Bei den Grünen klingt es weniger martialisch: Die Bundeswehr soll gut ausgerüstet sein, aber Sicherheitspolitik sei „mehr als die Summe aus Diplomatie und Militär“; sie müsse alle Stränge unserer Politik zusammenführen. „Potenzielle Aggressoren“ müsse man „wirksam abschrecken“. Die Grünen setzen sich international für „neue Regeln in den Bereichen autonome Waffen, Cyber und Weltraum“ ein, die aber – gerade für das ominöse „Cyber“ – nicht weiter präzisiert werden.

Die SPD bleibt bei diesem Thema auch eher wolkig: So wollen die Sozialdemokraten „die Cybersicherheit“ stärken und „unser Land vor hybrider Kriegsführung und Sabotage durch feindliche Akteure“ verteidigen. Ansonsten verweisen sie auf das beschlossene „Sondervermögen für die Bundeswehr“.

Sowohl Linke wie BSW arbeiten sich an der gegenwärtigen Sicherheitslage in Europa und anderswo mit bekannten Argumenten ab, Vorschläge für den Umgang mit neuen Arten digitaler Auseinandersetzungen enthalten ihre Programme jedoch nicht.

Transparenz und Informationsfreiheit

Zur Informationsfreiheit und Transparenz hat die Union in ihrem Programm nichts zu sagen.

Auch die SPD erwähnt Informationsfreiheit und Transparenz in ihrem Programm nicht. Lediglich „die Lücken im Transparenzregister“ will sie schließen und es wieder für die Zivilgesellschaft zugänglich machen.

Bei der Informationsfreiheit sieht es bei den Grünen auch nicht deutlich anders aus. Sie zeigen sich in Fragen der Transparenz laut ihrem Programm aber überzeugt, dass transparente und nachvollziehbare Politik das Gemeinwohl stärke: „Parlamentsarbeit und Gesetzgebungsverfahren wollen wir transparenter gestalten“, versprechen sie. Auch „Lobbytreffen der Regierung“ sollen sichtbar gemacht werden. Wenn es nach den Grünen geht, sollen „die Sitzungen der Fachausschüsse in der Regel öffentlich stattfinden und gestreamt werden“.

Zum großen demokratiepolitischen Reformprojekt der Ampel haben Sozialdemokraten und Grüne also nichts mehr zu sagen: Das jahrelang stiefmütterlich behandelte Bundestransparenzgesetz, das endlich das veraltete Informationsfreiheitsgesetz ablösen sollte, ist ihnen keine Silbe mehr wert.

Anders die Linke, die sich klar für ein Transparenzgesetz ausspricht. „Wir setzen auf mehr direkte Demokratie, auf Maßnahmen gegen Lobbyismus und auf mehr Transparenz“, verspricht die Partei. Außerdem will sie sich dafür einsetzen, dass „alle Akten der Geheimdienste u. a. zum Oktoberfest-Attentat und zum NSU-Komplex endlich freigegeben werden“.

Das BSW hat zu Transparenz und Informationsfreiheit nichts Konkretes zu sagen, sie wendet sich aber gegen Lobbyismus, der „durch weit strengere Regeln transparent gemacht und dadurch zurückgedrängt werden“ soll.

Ausbau digitaler Infrastruktur

Die Union verspricht den Ausbau „hochleistungsfähiger Breitband- und Mobilfunknetze“ in der Fläche und fügt hinzu: „Die noch bestehenden Hindernisse beseitigen wir“. Dabei verschweigt sie zwar, was sie damit genau meint, sie will aber grundsätzlich auf „mehr Wettbewerb, Kooperationsmodelle und eine verlässliche Förderung“ setzen. Zudem kündigt sie ein wohl dem TK-Nabeg ähnelndes „wirksames Beschleunigungs-Gesetz“ an und will den Ausbau in das „überragende öffentliche Interesse“ stellen.

Die SPD sieht den Ausbau offenbar als Selbstläufer und erwähnt ihn nur am Rande, etwa beim Bürokratieabbau mit Hilfe von Digitalisierung: „Die Grundlage dafür bildet eine flächendeckende Versorgung des ganzen Landes mit Glasfaser und Mobilfunk.“ Wie sie das erreichen will, verrät sie nicht.

Die Grünen wollen den privatwirtschaftlichen Ausbau von Glasfaser und 5G-Mobilfunk mit beschleunigten Genehmigungsprozessen, alternativen Verlege-Methoden und gefördertem Open Access vorantreiben. Ziel ist „Glasfaser in Stadt und Land und Mobilfunk ohne Funklöcher“. Ländliche und strukturschwache Regionen sollen von einer erhöhten staatlichen Gigabitförderung profitieren, Verbraucher:innen von einem verbesserten Recht auf schnelles Internet – mit schrittweise erhöhten Mindestbandbreiten und einem leichteren Nachweis von Unterversorgung.

Eine „hohe Dynamik beim Glasfaser- und Mobilfunkausbau“ sieht die FDP. Die soll durch eine „passgenaue Förderung“ dort ergänzt werden, wo sich der privatwirtschaftliche Ausbau nicht rechnet. Abgesehen davon will sie den Wettbewerb zwischen den Telekommunikationsunternehmen stärken.

Den bisherigen Ansatz des Infrastrukturwettbewerbs will die Linke hinter sich lassen: „Es macht keinen Sinn, dass jeder Anbieter ein eigenes Mobilfunk- und Glasfasernetz aufbaut.“ Ein einziges Netz würde „Baukosten, Material und Umweltbelastung“ sparen und überall ein schnelles flächendeckendes Netz ermöglichen. Gelingen soll das mit gefördertem kommunalen und gemeinnützigen Ausbau von Glasfasernetzen. Zudem sollen beim Recht auf Internet die Downloadgeschwindigkeit auf 100 MBit/s erhöht und zugleich die Preise gedeckelt werden, sodass sich alle einen zeitgemäßen Anschluss leisten können.

Von der Schuldenbremse ausnehmen will das BSW unter anderem den Ausbau von Netzen. Sonst findet sich dazu nicht viel im BSW-Programm.

Öffentliche Verwaltung und sogenannte Künstliche Intelligenz

Grundsätzlich soll der Union zufolge der Staat eine „strategischere und stärker datenbasierte Politik“ verfolgen. Dabei helfen soll ein neu eingerichtetes Bundesdigitalministerium. Dort will die Union die „Verantwortung für Infrastruktur, Datenpolitik, KI, Plattformen und digitale Dienste, Verwaltungsdigitalisierung und modernes Regierungshandeln“ bündeln. Kümmern soll es sich unter anderem um die gesamte Beschaffung von IT im Bund und einheitliche Schnittstellen für IT-Systeme im öffentlichen Bereich.

Mit Hilfe sogenannter Künstlicher Intelligenz (KI) und einer vollständig digitalisierten Verwaltung will die Union den Staat zu einem Dienstleister umbauen, der „rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche niederschwellig und nutzerfreundlich Serviceleistungen erbringen kann“.

Der Einsatz von KI soll zu schnelleren Bescheiden führen, wobei die Union ein Recht auf individuelle Überprüfung vorsieht. Vermutlich eng verknüpft mit dieser Zukunftsvision ist die Ansage, in der Ministerialverwaltung und der Bundestagsverwaltung mit mindestens zehn Prozent weniger Personal auskommen zu wollen.

Das „Once-Only“-Prinzip soll sicherstellen, dass Bürger:innen und Unternehmen ihre Daten nur ein einziges Mal an die Verwaltung übermitteln. Auch sollen alle ein „digitales Bürgerkonto“ erhalten, samt einer sicheren digitalen Identität und eigenem Postfach für Behördengänge. Die BundID soll sich, bei gleichzeitiger eIDAS-Kompatibilität, zu einer einheitlichen DeutschlandID weiterentwickeln.

Auch die SPD will die Verwaltung ins 21. Jahrhundert hieven und misst dem Kampf gegen die schleppende Digitalisierung der Verwaltung eine „hohe Priorität“ bei. Jede Verwaltungsleistung sollte von Bürger:innen digital beauftragt werden können.

Dazu sollen alle Zuständigkeiten der Verwaltungsdigitalisierung in einem Ministerium gebündelt werden. Nachgeordnete Stellen wie ITZBund, Bundesdruckerei oder das BSI sollen dann besser zusammenarbeiten, hoffen die Sozialdemokraten.

Den digitalen und problemlosen Datenaustausch zwischen allen Behörden sieht die SPD als „Schlüssel“ dafür, einen bürgernahen und vorausschauenden Staat zu schaffen. Dabei helfen soll ein System, mit dem sich Daten einmalig übermitteln lassen. Rechtlich absichern soll das ein Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern.

Zudem will die SPD die Registermodernisierung umsetzen und dabei „plattformbasierte Lösungen zur Antragsbearbeitung“ aufbauen. Dazu gehört auch ein modernisiertes Ausländerzentralregister, das zur zentralen Informationsplattform im Ausländer- und Asylrecht werden soll. Daten sollen hierbei nur einmal erfasst und allen relevanten Behörden digital bereitgestellt werden.

Für Bürger:innen mit gültigen Papieren sollen zentrale Anlaufstellen das Tor zum modernen Sozialstaat bilden und auch digital erreichbar sein. Die Anmeldung soll über eine eID oder auch über eine DeutschlandID erfolgen. Letztere soll mindestens „Verwaltungsdienste zentral und unkompliziert verfügbar“ machen.

Eine ganze Reihe an Checks soll verbindlich in der Gesetzgebungsarbeit verankert und ineinander verzahnt werden, darunter der Bürgercheck, der Praxischeck und der Digitalcheck. Damit sollen etwa alle neuen Gesetze und größeren Novellierungen vor Verabschiedung auf Wirksamkeit, Bürgernähe, Praxistauglichkeit und Digitaltauglichkeit getestet werden. Kosten sparen und Verwaltungsprozesse beschleunigen sollen ganz allgemein Automatisierung und Künstliche Intelligenz.

Die Grünen locken mit einer „Deutschland-App“. Darin sollen „schrittweise alle staatlichen Verwaltungsangebote sicher, barrierefrei und anwendungsfreundlich“ zur Verfügung stehen. Mit ein paar Klicks sollen sich darüber etwa Personalausweise beantragen oder neue Wohnungen anmelden lassen, die Anmeldung soll mittels BundID erfolgen.

Hinter der App wollen die Grünen eine „moderne, modulare und standardisierte IT-Architektur“ schaffen, bei der die Verwaltungsbereiche von Bund, Ländern und Kommunen sinnvoll ineinandergreifen. Den Arbeitsaufwand senken sollen „Modernisierung und Automatisierung, auch durch den Einsatz von KI“, zudem soll die Ministerialverwaltung des Bundes verkleinert werden.

Daten von Bürger:innen und Unternehmen wollen die Grünen ebenfalls nur ein Mal einholen, dabei unterstützen soll eine weiter vorangetriebene Registermodernisierung und -vernetzung. Dafür brauche es auch eine sichere eigene Cloud in Deutschland.

Mehr Interoperabilität soll die Grenzen unterschiedlicher IT-Systeme von Unternehmen, Behörden und Forschungseinrichtungen überwinden helfen. Dabei sollen offene Standards sowie eine Open-Source-Strategie den Weg vorgeben.

Die deutsche Verwaltung habe sich „in hohem Maße von den amerikanischen Datenkraken abhängig gemacht“, bemüht das BSW ein nicht sonderlich geglücktes Bild. Statt weitere Milliarden an Microsoft, Oracle & Co. zu überweisen, sollte die nächste Bundesregierung vermehrt auf Open-Source-Lösungen setzen.

Durch Digitalisierung erreichte „effizientere und schnellere Prozesse“ könnten Bürokratie abbauen, so das BSW. Dazu zählt etwa ein zentrales Online-Portal für Bürger:innen und Unternehmen als „One-Stop-Shop“ für alle behördlichen Dienstleistungen, in dem Daten nur einmal eingegeben werden müssten („Once-Only-Prinzip“).

Flankiert werden soll das mit einem „nationalen Tag der Entrümpelung“. Zwei Mal jährlich sollen Behörden darüber nachdenken, welche Regeln und Richtlinien nicht mehr gebraucht werden und wie Verfahren und Prozesse vereinfacht und beschleunigt werden können.

Behörden und ihre Mitarbeiter müssten sich als „Dienstleister“ verstehen, fordert das BSW. Sicherstellen sollen das unter anderem durch eine kontinuierliche Zufriedenheitsbewertung für alle Behörden durch die Bürger:innen, die Ergebnisse sollen auf der jeweiligen Website der Behörde veröffentlicht werden.

Insgesamt leide die deutsche Wirtschaft unter einer „Rekordbürokratie“, was sich häufig in einer „ineffizienten und bürgerfernen Verwaltung“ widerspiegle. Die Schuld daran trage laut BSW zu einem großen Teil die EU. „Wir lehnen die Übererfüllung von EU-Standards bei der Umsetzung in nationales Recht ab“, so eine der Schlussfolgerungen – was beispielsweise einen gestärkten Whistleblowing-Schutz verhindert hätte.

Wie die Union will die FDP ein Digitalisierungsministerium einrichten und dabei etwa die Verwaltungsdigitalisierung – eine „TOP-Priorität“ – aus dem Bundesinnenministerium herauslösen. Die gesamte Behördenlandschaft soll verschlankt und umfassend digitalisiert werden. Vorhandene Strukturen sollen sich mittels KI-gestützter Verwaltungsassistenten modernisieren lassen.

Als „zentrales Element“ soll das „Government as a Platform“-Modell eine Schlüsselrolle spielen. Auf dieser einheitlichen Plattform sollen alle digitalen Verwaltungsanwendungen in Deutschland zusammenlaufen, virtuell ausweisen soll man sich mit einer DeutschlandID. In der neu geschaffenen digitalen Wallet sollen zudem die wichtigsten Dokumente und Nachweise sicher auf dem Smartphone landen und sich miteinander verknüpfen lassen.

Dazu passend setzt auch die FDP auf das Once-Only-Prinzip. Bürger:innen und Unternehmen sollen Informationen der Verwaltung nur einmal bereitstellen müssen. Erreichen will sie das mit einer „Once-only-Garantie“ und einem Rechtsanspruch auf digitale Verwaltungsleistungen. Vollständig digitalisieren und vernetzen will die FDP zudem das Melderegister, Unternehmensregister und Gesundheitsregister.

Eine übergreifende Digitalisierungsstrategie für die öffentliche Verwaltung lässt sich dem Linken-Programm nicht im Detail entnehmen. Indes fordert sie „viel mehr Open-Source-Software“, die zudem nach dem Motto „Public Money – Public Code“ allen zugutekommen muss, wenn sie mit Steuergeldern bezahlt wurde. Software, die öffentliche Verwaltungen einkaufen oder entwickeln lassen, dürfe nur noch in Ausnahmefällen proprietär sein.

Auch will die Linke ein Recht auf Open Data schaffen und ein längst überfälliges Transparenzgesetz auf den Weg bringen. Das ist verknüpft mit der Ansage, bei öffentlichen Dienstleistungen und Verwaltungen anfallende Daten anonymisiert kostenfrei zur Verfügung zu stellen.

Bei Ausweisvorgängen im Internet dürfen keine Daten gespeichert werden, fordert die Linke weiter, und der elektronische Personalausweis und die Gesundheitskarte müssten an eine physische Chipkarte gebunden bleiben.

App-Zwang und Leben ohne Internet

Die Union macht sich für die „Digitalisierung aller Lebensbereiche“ stark und erwähnt in ihrem Programm dazu viele Einzelpunkte, die dadurch künftig schneller gehen und vorangetrieben werden sollen. Sie plant bei der Digitalisierung eine „Offensive“, erwähnt aber keinen Aspekt, der durch eine erzwungene Digitalisierung abgefedert werden müsste.

Auch die SPD setzt auf umfassende Digitalisierung und plant, alle neuen Gesetze auf Digitaltauglichkeit abzuklopfen. Fehlende Digitalisierung gelte es abzubauen. Dass Menschen Fähigkeiten, finanzielle Mittel oder technische Möglichkeiten fehlen könnten, um an der Digitalisierung teilzunehmen, findet keine Erwähnung.

Bei den Grünen sieht es ganz ähnlich aus: Man setzt auf eine „umfassende Digitalisierung“.

Das BSW hingegen möchte niemanden vom gesellschaftlichen Leben ausschließen, der aufgrund des Alters oder einer bewussten Entscheidung „kein Smartphone besitzt“. Solche Menschen sollen nicht diskriminiert werden. Das gelte auch „für Menschen, die keinen Computer und keinen Internetanschluss“ haben. Das BSW tritt „für ein gesetzlich geschütztes Recht auf nichtdigitale Teilhabe am öffentlichen Leben“ ein.

Auch die Linke lehnt einen „Digitalzwang“ ab.

Gesundheitsbereich

Zur Digitalisierung des Gesundheitsbereichs findet sich nicht allzu viel im Programm der Grünen – was im Übrigen für alle Parteien gilt. In jedem Fall soll das Gesundheitswesen „digital und effizienter“ laufen, auch durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz. Was die Nutzung von Daten für Forschung und Versorgung betrifft, wollen die Grünen den Weg aus der vergangenen Legislaturperiode weitergehen.

Derweil will die FDP sicherstellen, dass die Gesundheitswirtschaft Deutschlands „zukunftsorientiert, digitalisiert und wettbewerbsfähig“ agieren kann. Darunter versteht sie offenbar, für all jene einen reduzierten Zusatzbeitrag einzuführen, die sich mit „Gesundheits-Apps, Telemedizin und Wearables“ tracken lassen. In der Pflege sollen wiederum „digitale Anwendungen, Automatisierung und Robotik“ maßgeblich zu einer Entlastung des Personals führen, hofft die FDP.

Die Union sieht die voranschreitende Digitalisierung im Gesundheitsbereich als „Schlüssel zu schnellerer und sicherer Versorgung“. Weiter ausschöpfen will sie hierbei die „Potenziale der elektronischen Patientenakte, von digitalen Gesundheitsanwendungen oder des Einsatzes von KI“ – im Einklang mit dem Datenschutz, wie sie betont. Darunter versteht die Union etwa die freiwillige Weitergabe persönlicher Gesundheitsdaten für klinische Studienzwecke, was sie mit umfassender Aufklärung verbinden will.

Bei der SPD soll die Gesundheitsversorgung im Allgemeinen und deren Digitalisierung im Besonderen „auf mehr Gemeinwohl statt Profit“ ausgerichtet sein. Viel erwartet sie sich dabei von der elektronischen Patientenakte, die „jetzt nach 20 Jahren Stillstand“ gekommen sei. Die will die SPD künftig zu einem „persönlichen Gesundheitsberater“ weiterentwickeln. Außerdem werde KI-Medizin „die Behandlung revolutionieren“ und, so steht es zumindest ausdrücklich im SPD-Programm, Heilungen für die Krebsbehandlung und Demenz ermöglichen.

Das BSW vermeidet solch kühne Vorhersagen, indem es den Digitalisierungsaspekt vollständig ausblendet.

Die Linke hat auf dem Schirm, dass die „gefährlichen Lücken bei Datenschutz und Datensicherheit“ bei der elektronischen Patientenakte geschlossen werden müssen. Keinesfalls dürften hierbei „riesige Datenmengen ohne Wissen der Patient*innen auch für kommerzielle Player freigegeben werden“. Zudem will die Linke wissenschaftliche Bewertungsverfahren für digitale Gesundheitsanwendungen einführen und dabei Open-Source-Anwendungen öffentlich fördern.

Die Wahlprogramme der Parteien

CDU/CSU: „Politikwechsel für Deutschland“,
SPD: „Mehr für Dich. Besser für Deutschland“,
Grüne: „Zusammen wachsen“,
BSW: „Unser Land verdient mehr!“,
Die Linke: „Alle wollen regieren. Wir wollen verändern. Reichtum teilen. Preise senken. Füreinander.“
FDP „Alles lässt sich ändern.“

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Geheimer Beschluss: Pädokriminelle Inhalte bleiben trotz Kenntnis der Polizei im Netz

netzpolitik.org - 6 Februar, 2025 - 06:16

Vor mehr als drei Jahren wurde bekannt, dass Polizeibehörden pädokriminelle Inhalte kaum melden und entfernen. Die Politik gelobte damals Besserung – und entschied sich geheim anders. Dabei wäre die Löschung einfach und wirkungsvoll, zeigt jetzt eine Recherche von Panorama und STRG_F.

Eine Mitarbeiterin des LKA Nordrhein-Westfalen. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Future Image

Löschen statt Sperren funktioniert eigentlich sehr gut: 99 Prozent der im Gesetz sogenannten kinderpornografischen Inhalte werden bei deutschen Hostinganbietern innerhalb von einer Woche nach Meldung gelöscht, 85 Prozent der Inhalte schon nach 48 Stunden. Eigentlich ein Riesenerfolg und das seit Jahren.

Doch lange nicht alle kriminellen Inhalte werden von der Polizei auch gemeldet und gelöscht. Und das hat Prinzip. In einer ersten Recherche im Jahr 2021 fanden Journalisten heraus, dass das BKA die Löschung von Bildern nicht forcierte. Einige Monate später kam durch eine kleine Anfrage heraus, dass das BKA weiterhin keine Priorität auf das Löschen setzte und sich außerdem nicht für Löschmeldungen zuständig erklärte.

Die Politik gelobte daraufhin Besserung: In einer Talkshow von Markus Lanz hatte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) im Jahr 2022 gesagt, dass man mittlerweile wisse, wie wichtig es sei, die Bilder zu löschen: „Das BKA hat das Verfahren jetzt umgestellt, also beides zu tun, schnelle Beweissicherung aber gleichzeitig die Bilder zu löschen, weil das so wichtig ist für die Betroffenen“, so die Ministerin.

Geheimer Beschluss der Innenministerkonferenz

Doch geändert hat sich bis heute nichts. Schlimmer noch: Das damalige Nicht-Löschen ist nun ein offizieller Beschluss. „Deutsche Polizeibehörden lassen weiterhin Bilder und Videos bewusst im Netz – gedeckt von einem geheimen Beschluss der Innenministerkonferenz aus dem Jahr 2023“, heißt es in einer gemeinsamen Recherche des ARD-Magazins Panorama und von STRG_F.

Die Recherche (Langversion auf YouTube) hat aber nicht nur das herausgefunden, sondern eine umfangreiche Datenanalyse in Darknet-Foren durchgeführt, in denen Pädokriminelle ihre Inhalte austauschen. Das Darknet ist ein Teil des Internets, in dem Menschen mit Anonymisierungswerkzeugen anonym unterwegs sein können – eigentlich ein Werkzeug für Oppositionelle in autoritären Staaten und für Whistleblower:innen.

Die Analyse der Journalist:innen hat gezeigt, dass diese Darknet-Foren auf Server im offenen Netz angewiesen sind, weil die Kapazitäten und die Geschwindigkeit im Darknet für den Austausch von Bildern und Videos nicht ausreichen. Das heißt: In den Foren werden Links gepostet, die auf Server verweisen, zu denen es Verantwortliche mit Namen und Adressen gibt. Die Betreiber dieser Server können also angeschrieben und auf kriminelle Inhalte hingewiesen werden – die sie dann recht schnell entfernen.

Doch genau das tun die Behörden nicht, so bleiben „Fotos und Videos, die den schweren sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen, über Jahre im Netz“, heißt es in der Pressemitteilung der Recherchekooperation. Die Behörden argumentieren intern, dass sie nach Legalitätsprinzip die illegalen Inhalte nicht löschen dürfen, weil hinter jedem Bild eine Straftat steckt, gegen die sie ermitteln müssen. Außerdem habe man nicht die personellen Ressourcen.

Nach außen anders kommuniziert

Nach außen aber kommuniziert Bundesinnenministerin Nancy Faeser etwas anderes. Noch im Dezember 2024 bekräftigte sie gegenüber der Recherchekooperation: „Aus meiner Sicht ist es besser geworden. Wir haben jedenfalls unsere Bemühungen verstärkt.“ Sie halte das Löschen „für eine der wichtigsten Arten der Kriminalitätsbekämpfung“, so Faeser gegenüber Panorama und von STRG_F. Getan hat sich aber laut der Recherche nichts.

Dass die Löschung gar nicht so personalintensiv ist, konnten die Journalist:innen sogar in einem Pilotprojekt beweisen. So reichten schon zwei Personen, um über Monate hinweg in den großen pädokriminellen Darknet-Foren die dort verlinkten Fotos und Videos zu erfassen und zu melden: „Insgesamt deaktivierten die Speicherdienste Links zu über 300.000 Aufnahmen mit einer Datenmenge von 21.600 Gigabyte und löschten die Daten von ihren Servern“, heißt es in der Mitteilung. Die Inhalte waren zuvor laut Panorama und von STRG_F über 23 Millionen Mal heruntergeladen worden.

Allein dieses eine Pilotprojekt zeigte Wirkung, beschreiben die Rechercheure: „Zwei Darknet-Foren, in denen systematisch gelöscht wurde, stellten ihren Betrieb komplett ein, darunter das zweitgrößte der Welt. Ein weiteres wurde von den Betreibern nicht mehr gepflegt und von Nutzern als ‚totes Forum‘ bezeichnet.“ Das Pilotprojekt zeigte, wie effektiv Löschen statt Sperren sein kann und wie damit das Herunterladen des Materials erschwert werden kann.

Nicht löschen, aber Massenüberwachung fordern

Sicherheitspolitiker:innen nutzen immer wieder sexualisierte Gewalt gegen Kinder als Argument für die Vorratsdatenspeicherung oder Maßnahmen wie die Chatkontrolle. Mit der sogenannten Chatkontrolle sollen angeblich genau solche Inhalte bekämpft werden. In der Debatte um diese wird immer wieder von Befürworter-Seite darauf hingewiesen, dass es bei der Chatkontrolle auch darum gehe, dass solches Material nicht verbreitet würde. Dafür wollen die Befürworter mittels einer Technologie namens Client-Side-Scanning auf die Endgeräte von Millionen unbescholtener Bürger zugreifen – und Dateien vor der Verschlüsselung nach Inhalten mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder durchsuchen. Die Technik würde dazu führen, dass die sichere und private Kommunikation zwischen Menschen nicht mehr möglich ist und die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung quasi sinnlos machen.

Wie passt das zusammen, dass der Staat die Verbreitung der Bilder auf der einen Seite, wo es sehr einfach ist, nicht stoppt und auf der anderen Seite immer mehr Überwachung fordert? Wir haben Linus Neumann, Sprecher des Chaos Computer Clubs gefragt, was er davon hält. „In diesen kriminellen Foren sind alle Inhalte strafbar, und es ist ein Leichtes, sie zu löschen. Trotzdem steht die Polizei untätig daneben und fordert stattdessen mit Vorratsdatenspeicherung und Chatkontrolle die Massenüberwachung der unbescholtenen Bevölkerung“, sagt Neumann. „Wenn die Polizei offenbar schon mit solchen kriminellen Schwerpunkten überfordert ist und nicht einschreitet – was soll dann die Massenüberwachung der Bevölkerung mit Chatkontrolle und Vorratsdatenspeicherung bringen?“, fragt Neumann.

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Bundestagswahl: Was sich die digitale Zivilgesellschaft wünscht

netzpolitik.org - 5 Februar, 2025 - 17:11

Progressive, grundrechtsorientierte politische Vorhaben sind aktuell nicht besonders angesagt. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen bereiten sich daher auf einen Abwehrkampf vor. Dabei gäbe es Wichtiges zu tun.

Mehr Wünsche wagen – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Neil Bates

Netzpolitik ist nicht das heiße Thema in diesem Bundestagswahlkampf. Und vermutlich wird sie auch nicht die Priorität der nächsten Regierung sein. Dennoch beobachten Organisationen aus der digitalen Zivilgesellschaft aufmerksam, was sich tut. Denn aktuelle Umfragewerte sowie die Diskussionen etwa um Biometrie und sogenannte Künstliche Intelligenz legen nahe, dass die nächste Legislatur zu einem Abwehrkampf für all jene wird, die Grundrechte verteidigen.

„Bei den aktuellen Wahlvorhersagen gehen wir davon aus, dass in einer künftigen Regierung kaum mehr Interesse an Inhalten und Beiträgen einer zukunftsgewandten und progressiven Zivilgesellschaft bestehen wird“, schreibt der Chaos Computer Club (CCC) auf unsere Frage, wie er sich auf die Arbeit der kommenden Jahre vorbereitet.

Vorbereitung auf den Abwehrkampf

Die Hacker:innen-Vereinigung blickt pessimistisch auf die bundespolitische Lage: „Wir gehen von erheblichen Eingriffen in die Kommunikationssicherheit und -freiheit aus.“ Deshalb plant der Verein, verstärkt „Kenntnisse über technische Abwehrmöglichkeiten zu verbreiten“. Bei der technischen Ebene bleibt es aber nicht. „Wir positionieren uns entgegen den aktuellen Trends und ganz im Sinne unserer Unvereinbarkeitserklärung nicht rechtsoffen“, so der CCC.

Aktiv gegen „repressive und reaktionäre Politik“ ankämpfen und dafür Möglichkeiten schaffen will auch der Verein Digitale Gesellschaft. Die Bürgerrechtler:innen betonen, dass dazu „Gruppen und Organisationen im Bereich der Netzpolitik, aber auch weit darüber hinaus“ zusammenarbeiten müssen: „Denn gesellschaftliche Relevanz werden wir nur behalten, wenn wir Koalitionen jenseits unserer jeweiligen Zusammenhänge schmieden und gemeinsam den zu erwartenden Zumutungen entgegentreten.“

Gemeinsam füreinander

Für die NGO Superrr Lab haben die Allianzen noch einen weiteren Effekt: „Ohne gelebte Solidarität kommen wir nicht über die nächsten Jahre“, schreibt das Team, das sich für gerechtere digitale Zukünfte einsetzt. Viele stünden schon jetzt unter Druck, etwa weil sie sich für die Rechte von queeren Menschen oder gegen Rassismus starkmachen. Daher ist für Superrr Lab wichtig: „Füreinander einstehen, Ressourcen verteilen und auf das setzen, was uns eint.“

Auch Henriette Litta von der Open Knowledge Foundation Deutschland (OKF) weist darauf hin, wie wichtig „starke zivilgesellschaftliche Allianzen“ sind. Neben der Arbeit mit berufspolitischen Akteur:innen stellt sich die OKF darauf ein, in Zukunft „wieder mehr klassische NGO-Arbeit“ zu machen. Dazu zählt Litta öffentliche Kampagnen, Medienarbeit, Informationsfreiheitsanfragen sowie Recherchen, „um auf Missstände und falsche Entwicklungen medienwirksam hinzuweisen und diese zu kritisieren“.

Was wäre wichtig?

Doch natürlich gibt es nicht nur Dinge, die Organisationen aus der digitalen Zivilgesellschaft verhindern wollen. Sie alle haben Ideen, was für eine lebenswerte digitale Welt getan werden müsste. Das Bündnis Bits und Bäume etwa erhebt sieben Kernforderungen rund um eine gerechte Digitalisierung zum Nutzen der gesamten Gesellschaft.

Gleich mehrere Organisationen wie OKF und AlgorithmWatch betonen, dass die EU-Staaten zusammenarbeiten müssen. Bei der Entwicklung von technischen Angeboten, aber auch bei der Durchsetzung bestehender Regeln etwa für Plattformen. „Wer, wenn nicht die EU-Länder, können Konzepte und auch technische Angebote entwickeln, die für demokratische Gegenkonzepte zu der bedrohlichen Trias aus mächtigen Einzelpersonen, Massenüberwachung und ‚Profit first, planet second‘ stehen?“, fragt AlgorithmWatch.

Auch der Digitalverein D64 vermutet, dass die nächste Regierung stärker als zuvor „für europäische Autonomie einstehen“ muss. Dazu gehört für die Organisation „auch ein neuer Schwerpunkt auf Offenheit und Dezentralisierung – von Infrastruktur bis hin zu digitalen öffentliche Räumen, für deren Förderung es eine umfassende Strategie und finanzielle Förderung braucht“.

Für Wikimedia Deutschland ist Bildung eines der wichtigsten anstehenden Themen im Digitalbereich. Indem Bildungseinrichtungen abhängig von proprietärer Software seien, gebe es nicht nur Abhängigkeiten. Es trage auch dazu bei, „dass die kritische Auseinandersetzung mit und das Lernen über digitale Technologien hinterherhinkt“. Digitale Bildungsinfrastrukturen sollten deshalb „mit besonderem Schwerpunkt auf quelloffener Software auf- und ausgebaut werden“. Dafür braucht es natürlich die entsprechende Ausbildung und ausreichende zeitliche Kapazitäten für Lehrkräfte.

Politik für echte IT-Sicherheit

Zwei Themen, die Superrr für wichtig hält: Betroffene von digitaler Gewalt schützen und Hackerparagrafen abschaffen, um IT-Sicherheitsforschenden Rechtssicherheit zu geben. Letzteres ist auch für den CCC eine Priorität, verbunden damit, dass der Staat „Datenschutz und IT-Sicherheit als selbstverständliche Aspekte bei allen digitalen Vorhaben priorisiert mitdenken“ sollte. Das heißt für den Verein auch, dass er Privatsphäre und Anonymität im Internet sichern sollte und dies „durch aktives Handeln unterstützt und nicht unterminiert“.

Eine konsequentere IT-Sicherheitspolitik fordert auch die Digitale Gesellschaft. „Nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene stehen massive Angriffe auf die Sicherheit von IT-Systemen und die Vertraulichkeit von Kommunikation bevor“, schreiben die Bürgerrechtler:innen unter anderem mit Blick auf die Chatkontrolle oder Vorratsdatenspeicherung. „Es wird sehr schwer werden, grundlegende Errungenschaften wie Grundrechte, Datenschutz und Privatsphäre gegen die Ideologie einer inneren Sicherheit um jeden Preis zu verteidigen.“

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10-Punkte-Plan: Hardliner Habeck im Law-and-Order-Strudel

netzpolitik.org - 5 Februar, 2025 - 15:29

Demokratische Parteien befeuern mit ihrem Überbietungswettbewerb bei Migration und Sicherheit die rechte Diskurshegemonie. Auch die Grünen machen mit. Doch die Brandmauer verläuft nicht nur zwischen AfD und den anderen, sondern zwischen einer Politik der Menschenrechte und einer der Entrechtung. Ein Kommentar.

Robert Habeck macht den Hardliner. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Chris Emil Janßen

Es gab einmal eine Zeit, da waren die Grünen bekannt dafür, dass sie die kruden Law-and-Order-Fantasien der anderen Parteien kritisch hinterfragten. Es gab einmal eine Zeit, in der die Grünen eine einwanderungsfreundliche und weltoffene Partei waren. Es gab eine Zeit, da die Grünen einmal evidenzbasierte Sicherheitspolitik forderten. Es gab eine Zeit, in der die Grünen Bürgerrechtspartei genannt wurden.

Das ist vorbei.

Heute machen die Habeck-Grünen auf Law-and-Order. Im Überbietungswettbewerb um die härteste Migrations- und Sicherheitspolitik mischen die Grünen mit ihrem 10-Punkte-Plan kräftig mit und biedern sich so der SPD und Union an, spielen aber letztlich vor allem der AfD in die Hände.

Sie fordern nun Big-Data-Analyse à la Palantir und biometrische Gesichtserkennung im Netz und verweisen auf das bereits geschnürte Sicherheitspaket. Sie wollen mehr Abschieben, mehr Polizei und mehr Befugnisse für diese, engmaschige Überwachung sogenannter „Top-Gefährder“, mehr Kooperation von Polizeien und Geheimdiensten und so weiter.

Jetzt ohne Bauchschmerzen

Und das tun sie nicht mehr mit den bekannten grünen Bauchschmerzen oder vermeintlich gefangen in den Zwängen einer Koalition, wo man zur Rechtfertigung darauf hinweist, man habe ja etwas Kontrolle und Mäßigung in Gesetze hineinverhandelt. Sie tun es aus freien Stücken. Das ist eine neue Qualität. Horst Seehofer dürfte mit den Ohren schlackern, wie die Grünen ihn da rechts überholen.

Die Grünen sind in diesem Prozess getrieben vom – vollkommen ungerechten und haltlosen – Narrativ, dass sie an aller Misere in diesem Land Schuld seien. Das sind sie nicht. Doch ihre Antwort auf die Anschuldigungen ist keine Sicherheits- und Migrationspolitik der grünen Werte oder eine Politik der sozialen Sicherheit und des gesellschaftlichen Friedens, sondern ein Einstimmen in den Chor: Wir schieben mehr ab, wir sind härter, wir machen mehr, wir haben die strengeren Gesetze, wir sind die härtesten Hunde. Sie tappen in die von rechts gestellte Falle und werden nicht aus ihr herauskommen.

Die grundrechtliche Brandmauer verläuft nicht nur zur AfD

Es ist traurig, was aus der Bürgerrechtspartei geworden ist. Die grundrechtliche Brandmauer verläuft nicht nur in Abgrenzung zur AfD, sondern auch in Abgrenzung zu einer grundrechtsfeindlichen Politik. Denn was nützt eigentlich die Brandmauer, wenn die Parteien hinter dieser quasi die Forderungen der AfD von vor drei Jahren umsetzen?

Eines ist vollkommen klar und wissenschaftlich bewiesen – und das zeigen in der Praxis Italien, Frankreich, England und alle anderen Länder, in denen am Ende die Rechtsradikalen stark geworden sind: Demokratische Parteien können im Wettbewerb, wer der rechteste und härteste Hund ist, nur verlieren.

Bei der Diskursverschiebung durch diesen Wettbewerb gewinnen immer die Rechtsradikalen, weil die Leute das Original wählen. In diesem Wettbewerb verlieren aber immer: Demokratie und Grundrechte.

Pflock einschlagen, aber anders

Wir brauchen in Zeiten rechter Diskurshegemonie Parteien, die einen Pflock einschlagen, die sich endlich trauen mutig zu sagen: Wir brauchen Migration, wenn wir nicht wegen Überalterung Probleme bekommen wollen und dieses Land nicht de-industrialisieren wollen.

Wir brauchen Parteien, die den Mut haben zu sagen: Migration ist gut und eine riesige Erfolgsgeschichte in diesem Land. Wir brauchen Parteien, die selbstverständlich und klar sind: Migration gehört dazu und wir müssen schauen, wie wir die Neuankömmlinge besser und menschlicher in unsere Gesellschaft aufnehmen. Und wir brauchen Parteien, die bewusst den Tunnelblick auf diese unselige Migrationsdebatte ablegen – und andere Themen nach vorne bringen.

Ähnliches gilt für die Diskussion um Sicherheit: Hier braucht es Parteien, die dieses Thema erstens von Migration trennen und zweitens auf den Weg des Grundgesetzes zurückkehren. Parteien, die nicht immer an das Maximum gehen, das in Karlsruhe irgendwie noch gerade so durchgeht. Vor allem braucht es aber Parteien, die eine evidenzbasierte Sicherheitspolitik machen und keine schnellen, schillernden Scheinlösungen und Aktionismus verkaufen.

Faschismus lebt von Angst und Lügen

Wir leben in einer der sichersten Gesellschaften der Welt, das muss endlich betont werden. Fast nirgendwo auf der Welt ist die Chance geringer, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden. Wer etwas anderes erzählt, ist ein Lügner. Sicherheit entsteht nicht nur durch Gesetze und Polizei, sondern durch soziale Sicherheit, durch Bildung, Aufstiegschancen, gute Lebensumstände und eine Aussicht auf eine gute Zukunft.

Wer die ganze Zeit aber Angst und Unsicherheit schürt, der leitet Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen. Denn die haben doch nichts in der Hand als die Lüge eines nicht-funktionierenden Staates, in dem wir alle permanent in Gefahr vor angeblich bösartigen Minderheiten leben. Faschismus lebt von Angst, Verschwörungsideologien und Lügen. Faschismus bekommt man klein, in dem man gerechte und soziale Politik für alle Menschen macht, indem man Ängste und Zukunftssorgen nimmt, statt sie zu dauernd erneut zu bedienen.

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KI-Verordnung: Regeln für Biometrie-Überwachung bleiben unscharf

netzpolitik.org - 5 Februar, 2025 - 14:44

Die KI-Verordnung der EU lässt wichtige Fragen der Regulierung von Künstlicher Intelligenz offen. Aus diesem Grund hat die EU-Kommission gestern Leitlinien zum Gesetz veröffentlicht. Doch auch die bleiben uneindeutig, vor allem bei den Themen biometrische Überwachung und Social Scoring. Auch eine Definition von KI fehlt weiterhin.

Welche Regeln gelten fürs Gesichterscannen? – Public Domain cottonbro studio / Pexels

Wichtige Detailfragen zur europäischen KI-Verordnung bleiben weiter ungeklärt. Das EU-Gesetz verbietet zwar manche Anwendungen von sogenannter Künstlicher Intelligenz, weil diese für die Gesellschaft zu riskant sind. Das Gesetz sagt jedoch nicht, wo genau die Grenzen dieser Verbote verlaufen. Die Europäische Kommission hat deshalb gestern Leitlinien veröffentlicht, die mehr Klarheit geben sollen – das aber an entscheidenden Stellen nicht tun.

Die Leitlinien kommen verspätet: In der EU gelten bereits seit dem 2. Februar neue Regeln für den Umgang mit Künstlicher Intelligenz. KI-Systeme, die hohe Risiken für Sicherheit und Gesundheit darstellen, sind nun weitgehend verboten. Außerdem müssen Unternehmen fortan den Risikograd ihrer KI-Anwendungen bewerten.

Eigentlich wollte die Kommission ihre Leitlinien schon vor dem 2. Februar veröffentlichen, das hat sie aber nicht geschafft. Außerdem fehlt weiterhin eine Definition darüber, welche Systeme überhaupt als „Künstliche Intelligenz“ gelten und damit unter die Regeln der Verordnung fallen.

Das sei „super problematisch“, meint auch Blue Tiyavorabun von European Digital Rights (EDRi). Tiyavorabun beobachtet für EDRi die europäische KI-Politik. „Das fügt sich ein in eine Reihe von schlechten Prozessen bei der Umsetzung der KI-Verordnung und schwächt die Rechtssicherheit stark.“

Mit den Leitlinien versucht die Kommission, Antworten auf offene Fragen zu geben. Doch wirkliche Klarheit sieht anders aus. Vor allem deshalb, weil die Kommission weiterhin keine KI-Definition veröffentlicht hat. Damit aber bleibt unklar, welche Systeme überhaupt unter die Regeln der KI-Verordnung fallen.

Regeln für biometrische Überwachung

Ein heikles Thema, das die KI-Verordnung regeln soll, ist die biometrische Überwachung. Dabei geht es etwa um Kameras, die Gesichter von Menschen im öffentlichen Raum scannen, mit einer Datenbank abgleichen und so identifizieren. Das Gesetz unterscheidet zwischen „Echtzeit-“ und „nachträglicher“ Überwachung.

In „Echtzeit“ dürfen Polizeibehörden biometrische Überwachung nur unter bestimmten Umständen einsetzen. Sie dürfen damit etwa nur die Identität einzelner Personen bestätigen. Das geht nur bei Opfern von Entführungen, bei möglichen tätlichen Angriffen oder wenn Betroffene schwerer Verbrechen verdächtigt werden.

Für die nachträgliche Analyse, etwa von Videoaufnahmen, gelten weniger strenge Regeln. In diesem Fall dürfen Behörden Personen biometrisch analysieren, wenn sie danach innerhalb von zwei Tagen eine richterliche Erlaubnis einholen. Außerdem genügt hier bereits ein „Zusammenhang“ mit einer vorhersehbaren Gefahr, dass eine Straftat begangen werden könnte.

Die Mitgliedstaaten benutzen diese schwachen Regeln schon jetzt, um auf nationaler Ebene bedrohliche Gesetze durchzubringen, warnt Blue Tiyavorabun von EDRi. So schlage Belgien bereits vor, die Ausnahmen aus der KI-Verordnung eins zu eins zu kopieren und so mehr biometrische Überwachung zu ermöglichen.

Grenze bleibt unscharf

Die zentrale Frage bei der biometrischen Videoüberwachung lautet jedoch: Ab wann gilt deren Einsatz als „nachträglich“? Für die KI-Verordnung bedeutet Echtzeit „ohne erhebliche Verzögerung“, aber was soll das heißen? Reichen schon fünf Sekunden? Dann könnten Behörden die strengeren Vorschriften für Echtzeitüberwachung relativ einfach umgehen.

Auf diese Frage liefern die Leitlinien keine brauchbare Antwort. „Das wird von Fall zu Fall entschieden werden müssen“, heißt es dort: „Grob gesagt, ist eine Verzögerung zumindest erheblich, wenn eine Person wahrscheinlich den Ort verlassen hat, an dem die biometrischen Daten aufgenommen wurden.“ Eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Organisationen, darunter Access Now und AlgorithmWatch, hatte kürzlich eine weitaus strengere Bestimmung gefordert, nämlich dass diese Verzögerung mehr als 24 Stunden betragen sollte.

„Wir werden keine Timeline aufstellen“, sagte gestern ein Kommissionsbeamter. „Unserer Ansicht nach hängt das von der konkreten Situation ab.“ Der Beamte bestätigte aber, dass die Kommission keine automatische Umgehung ihrer Vorschriften sehen möchte. Behörden sollen also nicht etwa einfach ihre Videoüberwachung um fünf Sekunden verzögern und dann analysieren können.

Daten für Social Scoring

Eine weitere KI-Anwendung, die das Gesetz verbietet, ist das Social Scoring. Damit sind Anwendungen gemeint, die Menschen umfassend überwachen und ihnen dann eine Bewertung zuteilen, wegen derer sie daraufhin in anderen Lebensbereichen möglicherweise Nachteile erfahren.

Die zivilgesellschaftliche Gruppe rund um Access Now und AlgorithmWatch hatte gefordert, dass dieses Verbot auch auf Systeme ausgedehnt werden sollte, die in Europa heute schon verbreitet sind. Manche Anwendungen schließen etwa aus dem Wohnort auf die ethnische Zugehörigkeit einer Person. Hier fordert die Gruppe ein klares Verbot. Die KI-Verordnung bezieht abgeleitete Daten schon mit ein. Laut der Leitlinien gilt auch die Wohnadresse als persönliche Eigenschaft – das könnte die befürchtete Ausnutzung tatsächlich einschränken.

Was bedeuten die Leitlinien für die Schufa?

Eine Anwendung von KI, die die KI-Verordnung erlaubt, sind Kreditwürdigkeitsprüfungen. Das sind Systeme, wie sie in Deutschland die Wirtschaftsauskunftei Schufa betreibt. Sie weist Menschen einen Bonitätsscore zu. Banken können diesen Score dann einbeziehen, wenn sie entscheiden, ob sie Menschen einen Kredit gewähren. Der Europäische Gerichtshof schränkte vor zwei Jahren den Umfang ein, in dem sich Banken dabei auf den Score stützen dürfen.

Auch die Leitlinien gehen auf solche Prüfungen ein: Solange sie den Gesetzen für Verbraucher:innenschutz folgen und für Kreditbewertungen relevant sind, sind sie vom Social-Scoring-Verbot ausgenommen.

Das Dokument der Kommission nennt die Schufa an anderer Stelle aber explizit – und zwar als Beispiel für ein System, das potenziell verboten sein könnte. Die Kommission schreibt, dass die Bewertung der Kreditwürdigkeit persönliche Charakteristiken einbeziehen könnte. Deshalb könnte das Social-Scoring-Verbot hier gelten, falls dafür KI-Systeme genutzt werden und Menschen durch ihren Bonitätsscore schlechter behandelt werden könnten.

„Wir beobachten die Entwicklungen rund um die Regulierung der KI sehr genau“, sagte ein Sprecher der Schufa zu netzpolitik.org. Die Richtlinien würden sich am Urteil des Europäischen Gerichtshofs orientieren. Laut der Schufa bestätigen sie die bestehende Rechtslage.

Update: Die Kommission hat am 6. Februar ihre Definition eines KI-Systems nachgereicht.

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Europol-Bericht zu Cybercrime: Europol kämpft mit der Datenflut

netzpolitik.org - 5 Februar, 2025 - 08:58

In einem Bericht zur Lage der Cyberkriminalität zeichnen die EU-Agenturen Europol und Eurojust ein düsteres Bild. Zum einen drohe ihnen, in der Datenflut unterzugehen, zum anderen wollen sie Zugriff auf deutlich mehr Daten, auch verschlüsselte. Dabei drängen sie zu mehr „freiwilliger“ Zusammenarbeit mit privaten Anbietern.

Ermittlungsbehörden bekräftigen einmal mehr ihre Forderung nach Zugang zu sicherer Kommunikation. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / imagebroker

Europäische Polizeien kommen offenbar mit der Datenmenge nicht zurecht, die bei ihnen einläuft. Daraus ergebe sich ein Bedarf an „fortschrittlichen Analysetechniken“ sowie neuen „signifikanten Ressourcen“, insbesondere an geschultem Personal. Das fordern die EU-Agenturen Europol und Eurojust in einem letzte Woche veröffentlichten Bericht zum Stand der Cyberkriminalität.

Seit Jahren klagen Ermittlungsbehörden darüber, blind und taub zu werden, wenn immer mehr Kriminelle etwa Verschlüsselung nutzen, um damit ihre Kommunikation abzuschirmen. Zugleich steht Polizeien eine noch nie dagewesene Datenfülle zur Verfügung, sie reicht von öffentlich im Internet verfügbaren Informationen über Datensätze von Databrokern bis hin zu Daten aus neuen Ermittlungsinstrumenten wie dem e-Evidence-Paket.

Dem Bericht der EU-Agenturen zufolge knirscht es dabei heute schon ohne Ende. Vielen Ermittlungsbehörden fehle der Zugang zu notwendigen IT-Werkzeugen, zudem hätten sie Schwierigkeiten dabei, Expert:innen aus der Datenwissenschaft oder digitaler Forensik anzuwerben und zu halten. Ebenso erschwerten unterschiedliche Berichtsformate und Datenmodelle bei Online-Diensten sowie staatlichen Behörden die Auswertung weiter.

„Datenverlust“ mal anders

Dennoch beklagt der Bericht den „Verlust von Daten“. Damit sind keine Festplatten-Crashs gemeint, sondern dass es keine EU-weite Vorratsdatenspeicherung gibt. Solche Bestimmungen hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwar mehrfach gekippt, sie zuletzt aber unter bestimmten Auflagen grundsätzlich zugelassen.

Seitdem drängen europäische Ermittlungsbehörden und Innenminister:innen verstärkt darauf, mindestens IP-Adressen und Portnummern verdachtsunabhängig auf Vorrat zu speichern. Das soll sicherstellen, dass etwa Mobilfunknutzer:innen mit geteilter IP-Adresse ausfindig gemacht werden können – sofern sich die immense Datenflut überhaupt sinnvoll auswerten lässt.

Als „Datenverlust“ verbucht der Bericht auch, dass die WHOIS-Datenbank, in der Informationen zu registrierten Domains gespeichert werden, ohne Weiteres keine personenbezogenen Daten mehr ausspuckt. Seit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) ist ein gültiger Durchsuchungsbefehl notwendig, um an die Details einer Domainregistrierung zu gelangen.

Pilotprojekte zur Deanonymisierung laufen

Diese Hürde wollen die EU-Agenturen zum einen mit dem Pilotprojekt „Registration Data Request Service“ (RDRS) der Vergabestelle ICANN umgehen. Allerdings sei das Projekt freiwillig und zudem nicht auf die Bedürfnisse von Polizeien zugeschnitten, beklagt der Bericht. Zum anderen beobachte man deshalb andere Initiativen genau, darunter ein Pilotmodell der internationalen kriminalpolizeilichen Organisation Interpol.

In einer eigenen Umgebung baut Interpol derzeit eine Art Parallelstruktur zum WHOIS-Verzeichnis auf, zu dem nur abgesegnete Polizeibehörden Zugang haben sollen. Dem Europol-Bericht zufolge werden dort „Informationen zu Domainnamen und ihrer Herkunft aus anderen (Branchen-)Quellen als denen der ICANN gesammelt, beispielsweise aus Phishing-Datensätzen, DSGVO-Verstößen, Blockchain-Domänen und anderen“, also mitunter höchst fragwürdigen Quellen. Zwar könnten diese bisweilen helfen, heißt es im Bericht. In Summe seien sie jedoch unsystematisch, teuer und unzuverlässig, was ihre Verwendung vor Gericht untergrabe.

Entsprechend versuche das European Cybercrime Centre (EC3) von Europol, auf Institutionen wie RIPE oder ICANN einzuwirken, um ihre Systeme im Sinne von Polizeien zu gestalten. Als offener Punkt bleibe jedoch weiterhin, dass es aus Sicht von Europol für Behörden keinen permanenten Zugang zu nicht-öffentlichen WHOIS-Informationen gebe, der „schnell und effizient“ sei.

Dauerforderung nach Hintertüren

Gemeinsam ausgeübter internationaler Druck soll auch dabei helfen, Hintertüren für Polizeien in verschlüsselnde Online-Dienste einzubauen. Wie bei der Vorratsdatenspeicherung verweist Europol auf die jüngste EU-Arbeitsgruppe, die Ende letzten Jahres – unter starker Mitwirkung seitens Europol und anderer europäischer Polizeibehörden – Vorschläge für den Zugriff auf verschlüsselte Daten gemacht hatte.

So ähneln sich auch die Schlussfolgerungen: Helfen könnten etwa internationale Abkommen und ein Durchsetzungsmechanismus, um sicherzustellen, dass Strafverfolgungs- und Justizbehörden „rechtmäßigen Zugriff“ auf Daten und Kommunikation von Kriminellen erhalten.

„Dies bedeutet nicht, die Sicherheit der Kommunikation durch Untergrabung von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung zu schwächen, sondern könnte durch die Anwendung des Grundsatzes ‚rechtmäßiger Zugriff durch Design‘ erreicht werden“, betont der Bericht – eine Quadratur des Kreises, die IT-Expert:innen für unmöglich halten und der Hauptgrund dafür, warum diese langjährige Forderung des Sicherheitsapparats bis heute nicht umgesetzt ist.

Druck auf Over-The-Top-Anbieter

Untätig bleiben will Europol indes nicht. Zahlreiche Initiativen „auf hoher Ebene“ würden sich auf die Entwicklung von Werkzeugen, Techniken und Richtlinien konzentrieren, die es Ermittlungsbehörden ermöglichen sollen, auf verschlüsselte Daten und/oder Metadaten zuzugreifen. Außerdem wünscht sich der Bericht auch einen Durchsetzungsmechanismus, um vom sogenannten TK-Kodex erfasste OTT-Anbieter wie Signal zur Zusammenarbeit zwingen zu können.

Sorgen bereiten Europol und Eurojust zudem Anonymisierungstechniken, darunter VPNs (Virtuelle Private Netzwerke). Vor allem bei grenzüberschreitenden Fällen sei es praktisch unmöglich, die Identität Verdächtiger zu enthüllen. Teilweise könnten neue Instrumente wie e-Evidence oder die Budapest-Konvention helfen. Letztere enthält in ihrer letzten Fassung sogar eigene Regeln dafür, um rechtssicher und direkt Informationen bei Online-Diensten und Registraren zu erhalten, aus Sicht von Europol allerdings nicht ausreichende.

Frische Gesetze noch nicht evaluierungsfähig

In den vergangenen Jahren hat die EU zahlreiche Gesetze beschlossen, um Polizeien das Leben einfacher zu machen. Neben dem e-Evidence-Paket soll etwa auch die Europäische Ermittlungsanordnung grenzüberschreitende Ermittlungen beschleunigen. Doch noch ist nicht alles vollständig in Kraft, teilweise bleibt den EU-Ländern bis 2026 Zeit, um die Regeln umzusetzen. Obwohl eine Bewertung deshalb nur schwer möglich ist, gehen die Prozesse den beiden EU-Agenturen augenscheinlich nicht schnell genug, wie sich ihrem Forderungskatalog entnehmen lässt.

Erwähnung finden außerdem der Digital Services Act (DSA) und der Artificial Intelligence Act (KI-Gesetz). Beide Gesetze sind noch recht frisch, auch hierbei greifen viele Regeln erst schrittweise. Offenkundig wird jedoch, dass Polizeien beispielsweise die Ausnahmen zu Gesichtserkennung im KI-Gesetz künftig so weit wie möglich ausnutzen dürften.

Generell mehr Ausnahmen möchte Europol bei der Zusammenarbeit mit privaten Anbietern sehen: „Aufgrund der Sensibilität polizeilicher Ermittlungen ist der Datenaustausch tendenziell eine Einbahnstraße, da Informationen von Strafverfolgungsbehörden und Justiz aus rechtlichen Gründen häufig nicht an private Partner weitergegeben werden können“, beklagt der Bericht.

Lästiger Datenschutz

Gesetzliche Verpflichtungen zu Datenschutz, vor allem jene aus der DSGVO, könnten den Informationsaustausch vollständig zum Erliegen bringen, warnen die Behörden. Zumindest sollten Initiativen wie SIRIUS weiter vorangetrieben werden, um „Richtlinien und bewährte Vorgehensweisen“ für Datenabfragen bei Online-Diensten zu entwickeln.

Chloé Berthélémy von der digitalen Grundrechte-NGO EDRi (European Digital Rights) hält den Bericht für heillos überzogen. Beispielsweise lässt sich der Abschnitt zur Datenflut auch anders auslegen, so Berthélémy: „Man könnte leicht meinen, typische Anfragen von Strafverfolgungsbehörden an Dienstanbieter seien nicht im gesetzlich erforderlichen Maße verhältnismäßig, wenn sie Daten in solchen Mengen zurückgeben, dass zu ihrer Auswertung besondere Werkzeuge erforderlich seien.“

Tatsächlich legte etwa kürzlich der Mailanbieter mailbox.org in seinem letzten Transparenzbericht offen, dass im Vorjahr erneut ein signifikanter Anteil von Behördenanfragen nicht rechtskonform war und zurückgewiesen wurde. Übers Ziel hinausschießende Anfragen dürften demnach zur Normalität gehören, sorgfältig geprüfte und gegebenenfalls abgelehnte Abfragen aber nicht notwendigerweise.

Besonders gefährlich sei aber die Forderung nach Hintertüren in verschlüsselten Diensten, sagt Berthélémy, genau sowie der „der eklatante Angriff auf die Online-Anonymität, die für viele in der EU, darunter Menschenrechtsaktivisten, politische Dissidenten im Exil, investigative Journalisten und so weiter, von entscheidender Bedeutung ist“. Nicht minder gefährlich sei auch das Drängen zu mehr „freiwilliger öffentlich-privater ‚Zusammenarbeit’, bei der das Legalitätsprinzip und die Schutzmaßnahmen der DSGVO umgangen werden“.

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Digitale Brieftasche: EU-Kommission holt den Super-Cookie zurück

netzpolitik.org - 4 Februar, 2025 - 17:03

In Brüssel werden derzeit die technischen Anforderungen an die europäische digitale Brieftasche verhandelt. Einmal mehr gibt es dabei massive Kritik am Vorgehen der EU-Kommission. Sie weite rechtliche Vorgaben zugunsten von Unternehmen erheblich aus, so der Vorwurf.

Es gibt Schoko-Cookies und Super-Cookies – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com RUMEYSA AYDIN

Die EU-Kommission bleibt am Ball – und ihr gelingt ein Hattrick. Bereits zum dritten Mal innerhalb weniger Wochen hagelt es für ihre Vorschläge zur Ausgestaltung der europäischen digitalen Brieftasche Kritik.

Konkret geht es um die technischen Vorgaben für die „European Digital Identity Wallet“ (EUDI-Wallet). Mit ihr sollen sich Bürger:innen und Organisationen künftig on- und offline ausweisen können. In der digitalen Brieftasche lassen sich Identitätsdaten und amtliche Dokumente speichern und verwalten. Um derart sensible Daten von Millionen Menschen zu schützen, sind wirksame Schutzvorkehrungen essenziell.

Bevor die Wallet wie geplant im Herbst 2026 starten kann, wird die EU-Kommission insgesamt 40 Durchführungsrechtsakte für eine einheitliche Umsetzung der eIDAS-Reform erlassen. Die zweite Charge dieser Rechtsakte verhandelt am 6. Februar das eIDAS-Komitee, dem Vertreter:innen aller EU-Staaten angehören. Für dieses Treffen hat die Kommission aus Sicht von epicenter.works ein besonders fieses Foulspiel begangen.

BMI: Durchführungsrechtsakt muss rechtlichen Anforderungen „gerecht werden“

Die österreichische Nichtregierungsorganisation wirft der Kommission vor, ein Schlupfloch in eine gesetzlich fixierte Übereinkunft zu reißen. Am 22. Januar hat die Kommission den Verhandlungsführer:innen des eIDAS-Komitees den Entwurf eines Durchführungsrechtsakts zugesandt. Wie uns das Bundesinnenministerium (BMI) auf Anfrage bestätigte, sieht dieser Entwurf vor, dass Privatunternehmen unter bestimmten Voraussetzungen bei grenzüberschreitenden Aktivitäten die Personenkennziffer abfragen können.

Das geht für epicenter.works zu weit. Mit ihrem Versuch, die Personenkennziffer auch für Unternehmen nutzbar zu machen, weite die Kommission die strikten rechtlichen Vorgaben der eIDAS-Verordnung im Nachhinein aus und überschreite damit eine „rote Linie“, so epicenter.works in ihrer Analyse.

Innerhalb der Bundesregierung sei die rechtliche Bewertung zu dieser Frage noch nicht abgeschlossen, sagt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums. Allerdings müsse der Durchführungsrechtsakt den Anforderungen der revidierten eIDAS-Verordnung „gerecht werden“.

„Die Bundesregierung hat sich in den Verhandlungen zur Revision der eIDAS-Verordnung stets für ein hohes Datenschutzniveau eingesetzt und hält auch im Kontext der Durchführungsrechtsakte daran fest“, so der Sprecher weiter. Diese Anforderungen an den Datenschutz sollten auch „bei der Architektur für die deutschen Wallets Berücksichtigung finden“.

Streit um den „Super-Cookie“

Um den „Grenzüberschreitenden Identitätsabgleich“ aus Artikel 11a schwelte bereits während der Trilog-Verhandlungen vor rund zwei Jahren ein heftiger Streit. Die Kommission wollte eine eindeutige, dauerhafte Personenkennziffer einführen, die nicht nur Behörden, sondern auch Privatunternehmen für den Identitätsabgleich mit der Wallet nutzen können. Mit Hilfe eines solchen „Super-Cookies“, warnten hingegen Datenschützer:innen, könnten Unternehmen das Nutzungsverhalten Einzelner „mit ungekannter Genauigkeit“ erfassen.

Nach zähen Verhandlungen beschränkte das EU-Parlament den Einsatz der Personenkennziffer auf grenzüberschreitende Verwaltungsdienste. Laut der reformierten eIDAS-Verordnung soll die Personenkennziffer nur dann aus der EUDI-Wallet abgefragt werden, wenn etwa eine deutsche Staatsbürgerin in Belgien mit der dortigen Verwaltung kommuniziert und die Angabe der Nummer rechtlich gefordert wird. Privatunternehmen dürfen die Kennziffer hingegen unter keinen Umständen abfragen.

Identitätsdaten für Unternehmen

Die Organisation epicenter.works kritisiert zwei weitere Aspekte an dem aktuellen Vorgehen der Kommission: Erstens habe diese die monierten Änderungen an den Entwürfen erst vorgenommen, nachdem die öffentliche Konsultation durch Bürger:innen und Unternehmen abgeschlossen war.

Und zweitens komme die Kommission mit ihrem intransparenten Vorgehen ausgerechnet einer Aufforderung von Visa nach. Im Rahmen des Konsultationsprozesses hatte das Kreditkartenunternehmen die Kommission explizit dazu aufgefordert, die grenzüberschreitende Personenkennziffer auch für Privatunternehmen verfügbar zu machen.

Epicenter.works fordert die Kommission auf, die im Nachhinein hinzugefügten Bestimmungen zu entfernen. Nur so könne „das Vertrauen in das eIDAS-Ökosystem und in den demokratischen Prozess“ gewahrt werden.

Aller Versuche sind drei

Es ist nicht das erste Mal, dass Vertreter:innen der Zivilgesellschaft die Kommission dafür kritisieren, Schlupflöcher in die EUDI-Wallet zu reißen, die Unternehmen den Datenabgriff erleichtern.

Die ersten fünf Entwürfe für Durchführungsrechtsakte hatte die Kommission im vergangenen August vorgelegt. Aus Sicht der Zivilgesellschaft hätten sie es den Unternehmen ermöglicht, mehr private Daten als erforderlich aus den Wallets abzufragen.

Und auch mit der zweiten Charge an Durchführungsrechtsakten hätte die Kommission überbordende Datenanfragen von Unternehmen ermöglicht, ohne dass sich die Nutzenden der Brieftasche wirksam dagegen hätten wehren könnten – und damit einen „zentralen Schutzpfeiler des eIDAS-Ökosystems“ eingerissen – so die Warnung von epicenter.works vor wenigen Wochen.

Mindestens dreißig Durchführungsrechtsakte muss die Kommission in den kommenden Monaten noch vorlegen. Es bleibt zu hoffen, dass sie nicht jedes Mal versucht, weitere Schlupflöcher in die digitale Brieftasche zu reißen.

Update, 6.2.2025, 15 Uhr: Wir haben den Text um die Antwort des Bundesinnenministeriums ergänzt, die heute bei uns einging.

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Interview mit Natascha Strobl: „Wir dürfen uns nicht kaputtmachen lassen“

netzpolitik.org - 4 Februar, 2025 - 16:10

Donald Trump und die Tech-Bros ziehen in den USA nun an einem Strang. Ihre libertär-faschistische Ideologie wirkt bis nach Europa und zieht dabei auch die hiesige politische „Mitte“ in ihren Bann. Die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl hat eine Idee, wie wir uns diesem gefährlichen Sog entziehen können.

Mark Zuckerberg, Jeff Bezos, Sundar Pichai und Elon Musk wohnen am 20. Januar 2025 der Amtseinführung von Donald Trump bei. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ZUMA Press Wire

netzpolitik.org: Vor etwa zwei Wochen konnten wir der Vereidigung Donald Trumps zum 47. US-Präsidenten beiwohnen. In der ersten Reihe saßen mehrere Multi-Milliardäre und Chefs großer Social-Media-Plattformen. Was ist dir durch den Kopf gegangen, als du dieses Bild gesehen hast?

Natascha Strobl: Das ist wie aus einem dystopischen Roman. Wenn jemand das so geschrieben hätte vor zehn Jahren, hätte ich gesagt, das ist zu platt. Drei der reichsten Männer der Welt, die die größten Social-Media-Plattformen kontrollieren. Ein rechtsextremer bis faschistischer Präsident, der die Demokratie zerschlagen will: Klingt alles nicht so realistisch. Aber es ist Zeit, dass wir der Realität ins Auge blicken. Wir leben diesen dystopischen Roman. Zu lange dachten wir, dass die Demokratie ein Selbstläufer ist. Nun aber sehen wir, dass das gar nicht so ist.

Natascha Strobl ist Politikwissenschaftlerin aus Wien. Sie forscht zu Rechtsextremismus, insbesondere der Neuen Rechten. Sie publiziert in zahlreichen europäischen Publikationen wie Die Zeit, Falter (Österreich) und Dagens Nyheter (Schweden). - Alle Rechte vorbehalten Christopher Glanzl

netzpolitik.org: Was glaubst du, wie wird es im nächsten Kapitel dieses Romans jetzt weitergehen?

Strobl: Als nächstes werden wir ein Destruktionsprojekt sehen. Die neue US-Regierung unter Trump wird die USA handlungsunfähig machen. Im historischen Faschismus ging es immer um junge Demokratien. In der Geschichte kam der Aspekt, dass das Bestehende erst zerstört werden muss, stets zu kurz. Das ist die Phase, die wir als nächstes sehen werden. Die komplette Nivellierung all dessen, was an demokratischer Struktur besteht. Das reicht von den Gesetzen bis zur Verfassung. Und es wird die handelnden Personen treffen, also etwa die Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen, die Behördenstelle, wo ich meinen Antrag auf Sozialhilfe stelle. All das, was eine Demokratie in ihrem Stoff ausmacht.

netzpolitik.org: Vor einigen Jahren haben wir noch darüber gesprochen, dass auf Social Media eine Welle auf uns zurollt, die das politische Terrain verändert. Sehen wir hier schon das Ergebnis – ein Bündnis aus einer neurechten Bewegung mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten?

Strobl: Das sind kommunizierende Röhren. Eine Bewegung und ihr Anführer. Die Bewegung bildet die Avantgarde, und die findet vor allem in den sozialen Medien statt. Der Prozess, den wir auf einer Plattform wie Twitter gesehen haben, wird jetzt überall ablaufen. Das Twitter von einst, mit seiner Idee des schnellen Austauschs, hat Elon Musk aktiv zerstört. Und nun gibt es das Ziel, eine ähnliche Zerstörung in der analogen Welt zu vollziehen.

Die Wurzel des Übels

netzpolitik.org: Mark Zuckerberg tritt dabei offenkundig in Elon Musks Fußstapfen. Er will unter anderem die Inhaltemoderation bei Facebook und Instagram stark zurückfahren. Worauf müssen wir uns einstellen?

Strobl: Wie wir gesehen haben, ist Zuckerberg ein absoluter Mitläufer. Was seine Ankündigungen etwa für Instagram bedeuten, werden wir vermutlich erst in einigen Monaten sehen. Das wird nicht so rasch gehen wie auf Twitter, weil das Tempo auf Instagram nicht so hoch ist. Aber der Weg kann nur einer nach unten sein. Auf Twitter sieht man heute Posts mit zig tausend Likes, in denen diskutiert wird, ob Hitler im Vergleich zu Churchill nicht doch der Gute war im Zweiten Weltkrieg. Auch vermeintlich unpolitische Sachen werden nicht mehr moderiert, etwa junge Mädchen, die sich gegenseitig in ihren Essstörungen bestätigen.

netzpolitik.org: Welche Idee steckt hinter dieser Ankündigung?

Strobl: Dahinter steckt ein sozialdarwinistischer Freiheitsbegriff. Jeder ist für sich selbst verantwortlich und die, die nicht durchkommen, haben halt Pech gehabt. Das ist ein Freiheitsbegriff, den wir auf ökonomischer Ebene aus dem Neoliberalismus kennen. Und völkisch konnotiert gibt es ein sehr ähnliches Freiheitsverständnis auch im Faschismus: Die starken gesunden Völker im historischen Faschismus triumphieren, alle anderen gehen unter. Aktuell sehen wir diese seltsame Vermischung aus libertärem und faschistischem Gedankengut, was eigentlich nicht zusammengehen sollte, was es aber jetzt ganz klar tut. Auch weil beide sich die gleiche ideologische Wurzel teilen.

netzpolitik.org: Das zeigte sich zuletzt ja auch explizit in dem Hitlergruß von Elon Musk. Musk fährt außerdem Verbalattacken gegen Regierungen in Großbritannien und in der EU. In Deutschland unterstützt er außerdem offensiv die AfD. Welches Ziel verfolgt er dabei?

Strobl: Er tut genau das, was die extreme Rechte den Linken gerne vorwirft: Ein Mensch mit unheimlich viel Geld nimmt Einfluss auf diverse Demokratien, damit die seine Politik umsetzen. Er unterminiert demokratische Wahlen, eine demokratische Medienöffentlichkeit und er tut dies mit einem Vermögen, das nicht mehr greifbar ist. Das zeigt, wie demokratiegefährdend solch eine Vermögenskonzentration ist. Selbst wenn Musk Milliarden Dollar verliert, ist ihm das vermutlich egal. Wie aber kann die Politik jemanden wie Musk mit Sanktionen einhegen, wenn es diesem egal ist, ob er noch Aufträge aus Europa bekommt. Hier droht eine Oligarchie – in diesem Fall die eines einzelnen Mannes, der so reich ist, wie es sich die Oligarchen vor 100 Jahren nicht einmal erträumt haben.

Obsession mit der Geburtenrate

netzpolitik.org: Welche Ziele verfolgt Musk mit alledem?

Strobl: Das ist eine politische Radikalisierung, die sich in den vergangenen fünf, sechs Jahren vor unser aller Augen vollzogen hat. Und die klar von einer faschistischen Ideologie beeinflusst ist. Natürlich verfolgt er dabei auch wirtschaftliche Ziele. Musk will nicht, dass Twitter in der EU strenger reguliert oder gar verboten wird. Aber Twitter ist nicht seine Haupteinnahmequelle. Ich fürchte, Musk ist so abgesichert, dass man ihm wirtschaftlich nichts anhaben kann.

netzpolitik.org: Welche seiner Äußerungen haben dich besonders alarmiert?

Strobl: Als er anfing, über Geburtenraten zu sprechen, haben meine Alarmglocken besonders laut geschrillt. Das Thema ist in der extremen Rechten sehr wichtig. Vor allem im rechtsextremen Terrorismus spielt es eine zentrale Rolle. Unter anderem für den Attentäter von Christchurch war die Geburtenrate das wichtigste Thema. Die Muslime bekommen zu viele Kinder, so deren Sorge, und die Europäer – ein Code für die Weißen – bekommen zu wenige.

Musks Obsession mit Geburtenraten ist aus meiner Sicht ein klarer Indikator für seine Radikalisierung. Verknüpft man das mit seinem Mars-Projekt, wird es regelrecht dystopisch. Es klingt wie Science-Fiction, wenn man es ausspricht. Am Ende könnte Musk derjenige sein, der auswählt: Wer darf leben, wenn die Erde brennt, und wer nicht. Hört man Musk genau zu, dann benennt er das auch als sein Ziel. Und man sollte den reichsten Mann der Welt hier ernst nehmen, auch wenn ein solches Szenario wahrscheinlich in ferner Zukunft liegt.

Fehlende mediale Einordnung

netzpolitik.org: Wir können uns dem doch kaum entziehen. Die Medien berichten aktuell über nahezu alles, was Trump oder Musk tun und verkünden.

Strobl: Ich verstehe das natürlich. Wie können Medien nicht darauf reagieren, was der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sagt. Das gleiche gilt für Musk, der jetzt so etwas wie ein Schattenpräsident ist. Gleichzeitig laugt diese Strategie aus. Man hechelt nur noch hinterher und bleibt zugleich immer an der Oberfläche. Und den Medien fehlt offenbar die Möglichkeit, das alles noch einzuordnen. Sind Trumps sieben dumme Tweets heute genauso wichtig wie die Ankündigung, dass er Grönland besetzen will? Ist Grönland ebenso wichtig wie die Entlassung von tausenden Regierungsmitarbeitenden? Eigentlich ist es die Aufgabe von politischer Berichterstattung, das einzuordnen und der Aufreibungsstrategie etwas entgegensetzen.

netzpolitik.org: Viele Kampagnen der Neuen Rechten finden auf internationaler Ebene statt. Ob in den USA, in Großbritannien oder in Deutschland: Die Themen ähneln sich. Wie kommt das?

Strobl: Ganz pragmatisch. Da werden viele Bälle in die Social-Media-Arena geschossen und worüber sich die Menschen aufregen, das wird dann weiterverfolgt. Wenn man sich die entsprechenden Accounts anschaut, sieht man, dass vieles gar nicht aufgenommen wird. Aber wenn so ein Kulturkampf-Thema steil geht, wird das überall aufgegriffen.

netzpolitik.org: Hast du ein Beispiel?

Strobl: Diese Drag Queen Reading Hour, eine Veranstaltung, wo Drag Queens Kindern Bücher vorlesen. Das wäre an sich höchstens etwas für die Lokalnachrichten. Aber auf einmal redeten online alle darüber, was in irgendeiner Bibliothek im Bundesstaat New York passiert. Diese Geschichten werden von der neuen Rechten weltweit aufgegriffen. Das passiert aber nicht per Absprache, sondern organisch, weil die jeweiligen Akteure sehen, dass es woanders funktioniert. Sobald die Aufregung groß genug ist, sagen sie dann, dass das in Wien, Berlin oder London passiert ist. Fotos werden aus dem Kontext genommen, das Ganze rückt immer näher. Am Ende diskutieren wir auch bei uns darüber, ob derartige Lesungen verboten sein sollten. Obwohl keine solche Lesung irgendwo in Deutschland stattgefunden hat.

netzpolitik.org: Welche Rolle spielen staatliche Akteure in dieser Dynamik?

Strobl: Deren Rolle darf man nicht unterschätzen. Es ist sehr, sehr schwer zu unterscheiden, was von realen Nutzer*innen und was von Bots stammt, die gezielt ein bestimmtes Thema streuen – als gezielte Angriffe auf die Demokratie. Wir sehen es gerade wieder auf Bluesky. Auch dort gibt es schon Accounts, die nichts anderes tun, als eine bestimmte Weltsicht zu verbreiten, wo aber ziemlich sicher keine realen Personen dahinter sitzen.

„Es braucht drastischere Maßnahmen“

netzpolitik.org: Seit Jahren diskutieren wir über Desinformationskampagnen. In der EU gibt es Gesetze, die Plattformen zur Moderation von Falschinformationen verpflichten. Das jetzt von Meta abgeschaffte Fact-Checking sollte dafür sorgen, solche Kampagnen zu entlarven. Hat das rückblickend geholfen im Kampf gegen die neue Rechte?

Strobl: Es ist kein Fehler, Inhalte zu moderieren. Ich möchte diese Arbeit auf keinen Fall schlechtreden. Aber im Kampf um die Demokratie ist das zu wenig. Dafür braucht es drastischere Maßnahmen, um in irgendeiner Form Zugriff auf einzelne Nutzer:innen zu bekommen. Vor allem dann, wenn es um Gewalt geht.

netzpolitik.org: Du meinst so etwas wie die Vorratsdatenspeicherung oder Quick Freeze?

Strobl: Ich will gar nicht sagen, was das für ein Verfahren sein sollte. Mir sind die Gefahren bewusst, die damit einhergehen. Aber wir haben es in den sozialen Medien mit Menschen zu tun, die aktiv politische Gewalt ausüben. Die kann man nicht wegmoderieren und wegdiskutieren. Nur mit Debunking, mit nett zureden oder Community Notes wird man das nicht loswerden.

netzpolitik.org: Eine Kritik an der Vorratsdatenspeicherung ist, dass diese Form der anlasslosen Massenüberwachung im Internet ebenfalls die Demokratie beschädigt.

Strobl: Das ist mir bewusst. Aber der Schaden an der Demokratie ist auch groß, wenn der faschistische Schlägertrupp einfach so weiter machen darf. Das ist nicht Hass im Netz, sondern politische Gewalt, die da verübt wird. Und wir brauchen Maßnahmen, die dem beikommt. Ich weiß, dass das eine kontroverse Meinung ist. Gleichzeitig sollten wir anerkennen, dass der bestehende Prozess nichts für die Opfer tut.

„Du stehst da mit null Schutz“

netzpolitik.org: Welche Verbindung siehst du zwischen Desinformationskampagnen und den gezielten persönlichen Gewaltandrohungen, von denen du sprichst?

Strobl: Desinformation wird dazu genutzt, um gezielt gegen Personen, Gruppen oder Institutionen zu hetzen. Das haben wir bei der österreichischen Landärztin Lisa Maria Kellermeyer gesehen…

netzpolitik.org: … bei der Hasskriminalität mit fatalen Folgen bagatellisiert wurde.

Strobl: Ja, da hieß es dann: Die hat gesagt, man soll alle, die nicht geimpft sind, einsperren. Daraus ist dann geworden: Fahrt sie nieder! Es geht unglaublich schnell, dass eine solche Kampagne als Waffe gegen jemanden persönlich eingesetzt wird. Das hat unmittelbar Auswirkungen auf Leute. Und es ist ja nicht so, als ob die Staaten dann Personenschutz geben würden. Du bist keine prominente Person, sondern ein Niemand. Auch dann, wenn du in den sozialen Medien auf einmal zur Person des Tages erkoren wurdest und von zehntausenden Leute durch die Arena gehetzt wirst. Du stehst da mit null Schutz.

Denkfehler und Versäumnisse

netzpolitik.org: Der Diskurs verschiebt sich spürbar. In dieser Hinsicht ist die neue Rechte in Deutschland bereits sehr erfolgreich. Friedrich Merz und Christian Lindner äußern im Wahlkampf Positionen, die noch vor einigen Jahren als rechtsextrem gegolten hätten. Geht die Strategie der sogenannten Mitte auf, wenn sie die Themen und Positionen von Rechtsaußen übernehmen?

Strobl: Die Idee dahinter ist schon falsch. Demnach hat die extreme Rechte ja schon recht, nur sagt sie es ein bisschen schmuddelig. Und wenn jetzt dasselbe seriös gesagt wird und mit ein bisschen weniger Geifer, dann könnte man die Wähler*innen zurückholen, so die Hoffnung, und alles wieder in die richtigen Bahnen lenken. Und hier liegt der zweite Denkfehler, nämlich dass man das nur ein wenig umleiten muss, damit wieder alles gut wird.

Deshalb ist auch die aktuell diskutierte Annahme falsch: Wenn wir jetzt genug abschieben, dann lösen sich damit alle Probleme. Das ist ein naiver Diskurs, der kein Problem löst. Aus meiner Sicht traut man sich in der Migrationsdebatte schon nicht mehr zu sagen, dass es tatsächlich Probleme gibt. So wie es überall, wo Menschen zusammenleben, Probleme gibt. Es sind vielleicht sogar Probleme, die wir schon seit langem kennen. Etwa die psychischen Auswirkungen von Flucht. Diesem Problem hätte man sich schon vor zehn Jahren annehmen müssen. Stattdessen hat man die Menschen sich selbst überlassen. Über diese Versäumnisse können wir sprechen.

Man muss den Menschen klarmachen, dass es keinerlei Probleme löst, wenn wir Migration und Asyl auf diese Weise diskutieren. Nicht für die Menschen, die geflohen sind. Und auch nicht für die Menschen, die Angst haben und nicht wissen, wie sie mit Veränderungen zurechtkommen sollen. Und hier müsste man das Ganze vom Kopf auf die Füße stellen. Solange das Thema Migration aber – und das betrifft auch linke Parteien – immer nur so diskutiert wird, wie die extreme Rechte, kommen wir auch nicht raus aus dem Ganzen.

Wir müssen uns diesem diskursiven Sog entziehen, den die extreme Rechte ausübt. Denn er zielt darauf aus, grausam gegen Menschen zu sein.

netzpolitik.org: Ist die aktuelle Strategie der Mitte, von den Rechten die Positionen zu übernehmen, in anderen Ländern aufgegangen?

Strobl: Kurzfristig ja. Mittelfristig aber stärkt das in der Regel die extreme Rechte. In Frankreich ist es nur eine Frage der Zeit, bis eine rechtsextreme Partei die Mehrheit bekommt. In Österreich ist das schon der Fall. Dieser Diskurs hat also überall nur der extremen Rechten genutzt. Die einzige Ausnahme, und so ehrlich muss man sein, ist Dänemark. Dänemark hat mittlerweile überaus strikte Asyl- und Migrationsgesetze, eingeführt von den Sozialdemokraten. Ob wir uns das aber zum Vorbild nehmen sollten, lasse ich jetzt mal dahingestellt. Fest steht, dass die Strategie, sich die extremen Rechte als Vorbild zu nehmen, der Demokratie in Deutschland, Frankreich, Österreich, Italien, Ungarn und in der Schweiz geschadet hat.

„Wir müssen unser aller Zukunft in den Blick nehmen“

netzpolitik.org: Wo siehst du Orte im Netz, um sich gegen den grassierenden Rechtspopulismus und Rechtsextremismus zu vernetzen und zur Wehr zu setzen?

Strobl: Der eigene Radius wird online immer kleiner. Und es ist auch eine moralische Frage, ob man jetzt noch auf Meta-Plattformen sein sollte oder nicht? Ich bin der Meinung, man sollte sich erst so spät wie möglich von den Plattformen zurückziehen. Wenn man dort über ein großes Netzwerk und damit eine große Reichweite verfügt, dann sollte man diese nicht leichtfertig aufgeben. Auch wenn die Plattformen furchtbar sind. Auch wenn man sich dort mittlerweile auf feindlichem Territorium bewegt. Deswegen lösche ich auch meinen Twitter-Account nicht.

netzpolitik.org: Das klingt eher defensiv.

Strobl: Das Bleiben reicht nicht aus. Wir brauchen außerdem eine politische Alternative. Und diese politische Alternative darf nicht immer nur der Antagonismus sein. Wir dürfen uns nicht nur fragen, was die extreme Rechte macht – um dann dagegen zu sein.

Stattdessen müssen wir uns darüber Gedanken machen, wie die Welt in naher Zukunft aussehen soll. Wie wollen wir in fünf Jahren miteinander leben? Wie wollen wir zusammen arbeiten, Kinder erziehen? Wie möchten wir unsere Nachbarschaften gestalten?

Wenn wir solche Diskussionen miteinander führen, hat die extreme Rechte keine Chance. Weil sie dazu rein gar nichts beitragen kann. Und deswegen ist es so wichtig, sich ihrem Sog zu entziehen. Weil die extreme Rechte auch nur ein Symptom der Krise ist. Und wir müssen diese Krisen angehen. Und das geht nur, wenn wir unsere Gesellschaft, unsere Demokratie und unsere Wirtschaft in den Blick nehmen – wenn wir den gesellschaftlichen Wandel angehen. Nur wenn wir unser aller Zukunft in den Blick nehmen, können wir auch etwas zum Guten verändern.

Andernfalls verzweifeln wir an der Situation, in der wir uns jetzt befinden. Und dieses Verzweifeln hilft uns nicht, hilft der Welt nicht, es macht uns nur kaputt. Und gerade jetzt dürfen wir uns nicht kaputtmachen lassen.

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WhatsApp: Spyware-Angriff auf Medien und Zivilgesellschaft

netzpolitik.org - 3 Februar, 2025 - 17:10

WhatsApp meldet laut Medienberichten einen gezielten Angriff auf einige Nutzer:innen. Der Spähsoftware „Graphite“ der israelischen Firma Paragon Solutions soll ähnlich mächtig sein wie der berüchtigte Pegasus-Trojaner. Unter den Zielpersonen ist ein Journalist aus Italien.

WhatsApp-Nutzer:innen Opfer von Spyware – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Mika Baumeister

Rund 100 Journalist:innen und Mitglieder der Zivilgesellschaft sollen über den Messenger WhatsApp mit Spyware des Unternehmens Paragon Solutions angegriffen worden sein. Das berichtet der Guardian unter Berufung auf den Meta-Konzern, zu dem WhatsApp seit 2014 gehört. Einfallstor für die Schadsoftware war demzufolge der beliebte Messenger, genauer gesagt ein infiziertes PDF-Dokument, das über Gruppenchats verbreitet wurde.

Wer von dem Angriff betroffen war oder wo die Betroffenen leben, gab das Unternehmen nicht preis. Laut Guardian informierte WhatsApp allerdings die betroffenen Personen. Der italienische Journalist Francesco Cancellato machte öffentlich, dass er von dem Angriff betroffen ist. Er berichtet kritisch über die Partei von Regierungschefin Giorgia Meloni.

Unklar ist, wer hinter dem Angriff steckt. Typischerweise arbeiten Spyware-Firmen mit Regierungsbehörden zusammen. Das israelische Unternehmen Paragon Solutions hat laut dem Guardian rund 35 demokratischen Staaten auf der Kundenliste. Darunter soll keine der Demokratien sein, die in der Vergangenheit bereits mit Überwachungsskandalen gegen Oppositionelle oder Medien aufgefallen sind, etwa Griechenland, Polen, Ungarn, Mexiko oder Indien. WhatsApp prüft jetzt rechtliche Schritte und stellte dem Spyware-Hersteller eine Unterlassungserklärung zu.

Infiziert mit „Zero-Click“-Attacke

Immer wieder kommt ans Licht, wie Regierungen Staatstrojaner unter dem Deckmantel der Verbrechungsbekämpfung einsetzen, um Journalist:innen und Oppositionelle auszuspionieren. Besonders die weltweite Pegasus-Affäre erschütterte in den vergangenen Jahren die Öffentlichkeit. Bis heute kommen immer neue Fälle ans Licht, etwa in Polen, Ungarn oder Jordanien.

Paragons Spyware ist unter dem Namen „Graphite“ bekannt und hat offenbar ähnliche Eigenschaften wie der „Pegasus“-Trojaner. Die Software ermöglicht vollen Zugriff auf das Gerät, inklusive verschlüsselten Nachrichten bei Messaging-Diensten wie WhatsApp oder Signal. Infiziert wurden die Geräte dem Guardian zufolge mithilfe einer „Zero-Click“-Attacke. Bei dieser Art von Angriff reicht das alleinige Zustellen der Nachricht aus, um ein Gerät zu kompromittieren.

Erst vor einigen Wochen feierte WhatsApp in Sachen Pegasus einen gerichtlichen Erfolg gegen die Herstellerfirma NSO Group. Der Messenger verklagte das israelische Unternehmen 2019, nachdem 1.400 Nutzer:innen via WhatsApp mit Pegasus infiziert wurden. Im Dezember entschied ein US-Gericht, dass der Spyware-Hersteller gegen Bundesgesetze und die Nutzungsbedingungen von WhatsApp verstoßen hatte.

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Ampel-Bilanz: Zivilgesellschaft fordert Beteiligung auf Augenhöhe

netzpolitik.org - 3 Februar, 2025 - 14:29

Die Ampel versprach der digitalen Zivilgesellschaft mehr Beteiligung und Teilhabe. Auf Anfrage von netzpolitik.org ziehen mehrere Organisationen nun eine gemischte Bilanz, formulieren teils scharfe Kritik – und stellen Forderungen an die nächste Regierung.

Mitunter sei der Eindruck eines „Beteiligungstheaters“ entstanden, so die Kritik. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Kyle Head

In ihrem Koalitionsvertrag hat die Ampel gleich an mehreren Stellen betont: Sie will die Zivilgesellschaft besser in digitalpolitische Vorhaben einbeziehen als die Vorgängerregierung. SPD, Grüne und FDP strebten einen Staat an, „der die Kooperation mit Wirtschaft und Zivilgesellschaft sucht“ und „mehr Transparenz und Teilhabe in seinen Entscheidungen bietet“.

Der Wille, dieses Versprechen umzusetzen, sei da gewesen, so das Fazit vieler zivilgesellschaftlicher Organisationen. Insgesamt aber überwiegt die Enttäuschung. Aus Sicht vieler Organisationen beließ die Bundesregierung es oftmals bei „Scheinbeteiligung“. Und auch inhaltlich zeigen sich viele NGOs von der Ampel desillusioniert. Für die kommende Legislatur ziehen sie bereits ihre Schlüsse.

Wo ein Wille ist, …

So erkennt die Open Knowledge Foundation (OKF) auf Anfrage von netzpolitik.org an, dass sich die partizipativen Prozesse im Digitalbereich in den vergangenen Jahren verbessert hätten.

Zivilgesellschaftliche Akteur:innen seien bei Initiativen wie Civic Coding oder auch bei der Gründung des Sovereign Tech Fund von Anfang an eingebunden gewesen, sagt Henriette Litta, Geschäftsführerin der OKF. Und auch beim Beirat für die Digitalstrategie habe sich die Bereitschaft der Regierung gezeigt, „starke Stimmen aus der Zivilgesellschaft gleichberechtigt mit Wissenschaft und Wirtschaft an den Tisch zu holen“, so Litta, die selbst eine der Vertreter:innen der Zivilgesellschaft im Beirat war.

Die Organisation Superrr Lab erkennt ebenfalls an, dass es Fortschritte gegeben hat. So seien die von der Ampel durchgeführten Konsultationsverfahren offener und partizipativer gewesen „als die übliche Konsultation in Textform“. Als Beispiel führt die Organisation das Konsultationsverfahren zur EUDI Wallet an, an dem neben Partner:innen aus Staat und Verwaltung auch Vertreter:innen von Verbänden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Unternehmen und aus der Wissenschaft teilnehmen.

Auf der Arbeitsebene seien die Ministerien zugänglicher gewesen als in den Vorjahren, so ein Fazit des sozialdemokratische geprägten Vereins D64. Darüber hinaus habe es einen „regelmäßigen und institutionalisierten Austausch mit Abgeordneten der Regierungsfraktionen“ gegeben.

… da fehlt ein Weg

Bei allem guten Willen habe es aber oftmals bei der Umsetzung gehapert. Die versprochene Einbindung der Zivilgesellschaft habe bei weitem nicht überall funktioniert, sagt etwa Henriette Litta. Allzu oft sei deren Gelingen von einzelnen handelnden Akteur:innen abhängig gewesen.

Auch Wikimedia Deutschland erkennt Ansätze, die Expertise aus der digitalen Zivilgesellschaft abzufragen, etwa beim Mobilitätsdatengesetz durch das Bundesverkehrsministerium. Insgesamt aber sei eine Einbindung „eher punktuell und ohne Systematik“ erfolgt. Mitunter sei „der Eindruck eines ‚Beteiligungstheaters‘ denn echter Beteiligung“ entstanden.

Von einzelnen Bemühungen und fehlender struktureller Einbindung berichtet auch der Verein Digitale Gesellschaft und betont: „Dabei hätte die Zivilgesellschaft einiges beizutragen gehabt, insbesondere zu Themen wie der Gesundheitsdigitalisierung, Grundrechtseingriffen im Namen der Sicherheit oder der Bändigung von Big Tech und dem Aufbau einer öffentlichen digitalen Infrastruktur.“

Die Kritik von AlgorithmWatch setzt an den Abläufen an – eine Kritik, die auch andere Organisation teilen. Die Fristen, bis zu denen die Zivilgesellschaft komplexe Gesetzesentwürfe kommentieren konnte, seien oftmals extrem kurz gewesen, so der Verein. Außerdem seien zivilgesellschaftliche Vertreter:innen „sehr spontan“ zu Gesprächen eingeladen worden, „bei denen weder die Agenda bekannt noch ein Ziel definiert war“.

Dieses Vorgehen der Ampel-Regierung sei eine große Herausforderung gewesen, sagt Maren Heltsche, Sonderbeauftragte für Digitalisierung des Deutschen Frauenrats, „vor allem für zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit wenig Ressourcen auskommen müssen und sich viel auf ehrenamtliche Arbeit stützen.“

Kritik am Digitalgipfel

Eher gemischt fällt die Einschätzung des jährlich stattfinden Digitalgipfels aus. Dieser sei einst ein „großes Lobbyfest ohne relevante Inhalte“ gewesen, sagt Henriette Litta. Die Ampel-Regierung habe hingegen versucht, die Zivilgesellschaft stärker einzubeziehen. Das habe dazu beigetragen, „dass der Gipfel deutlich mehr Formate anbietet, in denen wirklich über Technologieentwicklung und Regulierung diskutiert und gestritten wird.“

AlgorithmWatch erkennt an, dass auf dem Digitalgipfel im vergangenen Jahr erstmals eine Organisation aus der Zivilgesellschaft die Co-Leitung einer Plattform übernehmen durfte. So heißen die thematischen Schwerpunkte beim Digitalgipfel. Bei insgesamt acht solcher Plattformen sei dies aber eher Ausdruck davon, „dass wir leider noch sehr weit davon entfernt sind, dass zivilgesellschaftliche Akteur:innen auf Augenhöhe mit der Bundesregierung über Digitalthemen sprechen können.“

Auch für Friederike Hildebrandt von Bits & Bäume, einem Zusammenschluss aus mehreren Organisationen, geht die Beteiligung der Zivilgesellschaft nicht weit genug. „Die Regierung hat viele der kritischeren Formate, die von NGOs eingereicht wurden, nicht angenommen“, sagt die Koordinatorin des Bündnisses. „Viele unserer Kolleginnen haben das Format als eher oberflächlich bewertet.“ Es habe „wenig politische Debatte und stattdessen viel Sehen und Gesehen werden mit der Wirtschaft“ stattgefunden.

Eine Kritik, die Maren Heltsche vom Deutschen Frauenrat teilt. Für sie ist der Digitalgipfel kein Ort, „wo Digitalpolitik gestaltet wird“. Hier könne und müsse in den kommenden Jahren noch deutlich mehr passieren.

Ungleichgewicht zur Wirtschaft

Die Dominanz der Wirtschaft ist aus Sicht vieler zivilgesellschaftlicher Akteure ein grundsätzliches Problem.

D64 zeigt sich enttäuscht, dass der Einfluss der Industrie auch in den Jahren der Ampel-Koalition hoch blieb. Das habe etwa die Positionierung der Bundesregierung zur KI-Verordnung (AI Act) gezeigt.

Und auch Maren Heltsche kommt zu dem Schluss, dass die Ampel „eine viel engere Bande“ zu Wirtschaftsverbänden habe. Der formelle wie informelle Austausch sei hier viel größer als bei der Zivilgesellschaft, so Heltsche, was für ein deutliches Ungleichgewicht sorge.

Friederike Hildebrandt von Bits & Bäume sieht hier ein klares Versäumnis der Ampel: „Die Wirtschaft wird immer mehr Geld für Lobbyarbeit haben“, sagt sie. „Deswegen muss die Politik aktiv priorisieren, damit alle Stimmen gleichberechtigt Gehör finden.“

Das Sicherheitspaket als Bruchpunkt

Bei besonders wichtigen Themen wie dem Sicherheitspaket, habe die Ampel-Regierung die Zivilgesellschaft sogar weitestgehend außen vorgelassen, kritisiert D64.

Das Gesetzespaket, das die Bundesregierung nach den Anschlägen in Mannheim und Solingen im Eiltempo auf den Weg brachte, hatten Kirchen, Menschenrechtsverbände, Digitalverbände und die Beauftragte für den Datenschutz weitgehend einhellig als unverhältnismäßig und rechtswidrig kritisiert.

Darüber hinaus hatten zahlreiche Organisation die Regierung in einer gemeinsamen Stellungnahme dazu aufgefordert, das „gefährliche Überwachungsvorhaben“ fallenzulassen. Die massive Kritik ignorierte die Ampel-Regierung allerdings weitgehend.

Aus Sicht von Superrr Lab steht dieser Umgang geradezu exemplarisch für die Missstände, die auch schon in den Regierungen vor der Ampel bestanden: „Intransparenz, Abwiegelung und Leugnung der Probleme, die wir als Zivilgesellschaft anprangern“.

Und Friederike Hildebrandt wertet das Sicherheitspaket „als Bruch zwischen dem Innenministerium und den digitalpolitischen Organisationen“.

Schlussfolgerungen für den Prozess

In der kommenden Legislatur dürfe die Zivilgesellschaft „nicht mit Scheinbeteiligung abgespeist werden“, fordert AlgorithmWatch.

Das beginne schon bei der Kommunikation: „Früh einladen, klar sagen, wer eingeladen ist und was erreicht werden soll, Ergebnisse dokumentieren, den Teilnehmer:innen mitteilen und über den weiteren Verlauf informieren“, so die Organisation. Das sei eigentlich nicht viel verlangt, werde aber so gut wie nie praktiziert. Außerdem sollten Minister:innen und Staatssekretär:innen für die Zivilgesellschaft ebenso zu Gesprächen bereit sein wie für Wirtschaftsverbände und -lobbyist:innen.

Die Einbindung der Zivilgesellschaft setze voraus, dass es „Verständnis und Respekt für die Zeit der Ehrenamtlichen“ gebe, so der Chaos Computer Club (CCC). Das schließe ein, ausreichend Zeit für Konsultationsverfahren einzuplanen und den Input von zivilgesellschaftlichen Organisationen messbar umzusetzen.

Das unterstreicht auch Wikimedia Deutschland. Eine Einbindung sei nur dann wirksam, wenn von Anfang an feststehe, „welche Konsequenzen sich aus Empfehlungen der Stakeholdergruppen ergeben und in welchem Rahmen diese Gruppen Einfluss nehmen können“. Alle Entscheidungen sollten außerdem nachvollziehbar aufbereitet werden und für die Öffentlichkeit und Medienvertreter:innen einsehbar sein.

Für mehr Wirksamkeit und Transparenz seien am besten institutionalisierte Austauschformate geeignet, betonen D64 und die OKF. Zugleich würde die zivilgesellschaftliche Beteiligung damit auch unabhängiger von der jeweiligen Regierung.

Der Dialog mit der Zivilgesellschaft müsse mehr sein „als ein lästiger Tagesordnungspunkt, bei denen das Wahlvolk ein bisschen Demokratie spielen darf“, sagt der CCC. Vielmehr setze ein partizipativer Prozess „ehrliches Interesse und den Willen voraus, beim Vorliegen entsprechender Argumente das kritisierte Vorhaben anzupassen.“

Das betont auch die Digitale Gesellschaft und weist auf die kulturellen Voraussetzungen einer sinnvollen Zusammenarbeit hin: „Eine gute Einbindung würde voraussetzen, dass Zivilgesellschaft nicht lediglich als störender Faktor, sondern als Korrektiv wahrgenommen wird.“ Ganz praktisch aber würde sich der Verein eine Einbindung wünschen, die den Namen verdient: „Dazu wären umfassende Transparenz und Zugangsmöglichkeiten jenseits von millionenschweren Lobby- und etablierten Interessenvertretungen nötig.“

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Festnahmen und Einschüchterungen: Georgien geht immer repressiver gegen Demokratiebewegung vor

netzpolitik.org - 3 Februar, 2025 - 13:22

Die georgische Regierung attackiert die Oppositionsbewegung mit Festnahmen, Hausdurchsuchungen und Einschüchterung unabhängiger Medien. Seit mehr als zwei Monaten demonstrieren täglich Menschen gegen die immer autoritärere Regierung.

Tausende Menschen haben am Sonntag versucht, die Autobahn in Tiflis zu blockieren. Die Polizei ging brutal mit maskierten Einsatzkräften gegen sie vor. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / NurPhoto

In Georgien spitzt sich die Menschenrechtslage zu. Die umstrittene georgische Regierung, die im Oktober durch eine von Betrugsvorwürfen begleitete Wahl im Amt bestätigt wurde, fährt die Repression gegen die demokratische Oppositionsbewegung hoch. Unter anderem wurden gestern zwei bekannte Oppositionspolitiker bei Protesten festgenommen.

Am Sonntag, dem 67. Tag der Proteste, hatte die Opposition geplant, die Autobahn nach Tiflis zu blockieren. Die Regierung reagierte schon im Vorfeld mit einem Dekret, das eine Blockade von Autobahnen als kriminellen Akt einstuft, der mit bis zu vier Jahren Haft bestraft werden kann. In den Tagen vor Sonntag gab es dann Hausdurchsuchungen bei mutmaßlichen Organisator:innen und Oppositionsfiguren. Am Tag des Protests erwartete der Staat die Demonstrierenden mit einem massiven Aufgebot großteils maskierter Polizeikräfte.

Oppositionspolitiker festgenommen

Während der Demonstration gingen die Polizeikräfte vielfach gewalttätig gegen die Demonstrierenden vor. Im Laufe des Tages sollen laut dem Medium Civil.ge 31 Personen festgenommen worden sein. Unter den Festgenommenen ist der Vorsitzende der proeuropäischen liberalen Partei Achali, Nika Melia, der ehemalige Tifliser Bürgermeister Gigi Ugulawa sowie der ehemalige Präsident der georgischen Nationalbank, Giorgi Kadagidze. Festgenommene wurden während der Festnahme auch misshandelt, wie Videoaufnahmen zeigen. Vier der Festgenommenen mussten mit Verletzungen im Krankenhaus behandelt werden. Melia wurde laut Medienberichten später wieder freigelassen.

Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas verurteilte „das brutale Vorgehen gegen friedliche Demonstranten, Journalisten und Politiker“. Das sei inakzeptabel, so die frühere estnische Premierministerin. „Georgien bleibt hinter jeglichen Erwartungen an einen Beitrittskandidaten zurück. Die EU steht an der Seite der Menschen in Georgien in ihrem Kampf für Freiheit und Demokratie.“

Mit Wut, Tanz und Courage

Vermehrt Angriffe auf die Presse

Mitte Januar hatte georgische Polizei die Journalistin Mzia Amaglobeli auf einer Demonstration festgenommen. Die Gründerin und Geschäftsführerin der unabhängigen Publikationen Batumelebi und NetGazeti wurde wegen eines angeblichen Angriffs auf einen Polizeibeamten festgenommen, worauf eine Haftstrafe von bis zu sieben Jahren steht. Amaglobeli ist seit 23 Tagen im Hungerstreik aus Protest gegen ihre Inhaftierung. Mehr als ein Dutzend Botschaften fordern ihre Freilassung.

Auf den gestrigen Protesten am Sonntag verletzte die Polizei zudem einen Kameramann des Oppositionssenders TV Pirveli. Die Plattform Publika.ge berichtet zudem von weiteren Einschüchterungsversuchen gegen die Presse, so drohte die Polizei, dass sie einem Kameramann den Kopf brechen würde, wenn er weiter filme.

Das Oppositionsmedium Publika.ge ist zudem selbst in den Fokus von Repressionen geraten. Der Parlamentssprecher der Regierungspartei, Schalwa Papuaschwili, beschuldigte das Medium, rechtswidrige Aktivitäten zu fördern, weil es eine Erklärung von Organisator:innen eines für den 2. Februar geplanten Protests veröffentlicht hatte. Das Medium verurteilte die Erklärung von Papuaschwili als „Druck auf unsere redaktionelle Unabhängigkeit“, indem er Feindseligkeit und Gewalt gegen die Redaktion fördere. Gleichzeitig griff Papuaschwili die EU an, die das Medium finanziell fördert. Publika ist neben Netgazeti eines der wichtigen unabhängigen Online-Medien, die kontinuierlich über die Proteste berichten.

Seit mehr als zwei Monaten protestieren Menschen gegen die Regierung der Partei Georgischer Traum. Die russlandnahe Partei wird vom Oligarchen Bidsina Ivanishvili dominiert und hat bei den vergangenen, unter Fälschungsverdacht stehenden Parlamentswahlen eine absolute Mehrheit errungen. Die Demonstrierenden fordern Neuwahlen, die Freilassung der politischen Gefangenen und eine Rückkehr zum Beitrittskurs in die EU.

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Verdachtsfall Rechtsextremismus: Wir veröffentlichen das 1.000-seitige Verfassungsschutz-Gutachten zur AfD

netzpolitik.org - 3 Februar, 2025 - 05:01

Die Alternative für Deutschland steht im Verdacht, rechtsextrem und verfassungsfeindlich zu sein. Der Verfassungsschutz beobachtet die Partei und hat 2021 ein ausführliches Gutachten erstellt. Wir veröffentlichen dieses Dokument in voller Länge.

Kommen im Gutachten sehr häufig vor: AfD-Bundeschefin Alice Weidel und AfD-Landeschef Björn Höcke. Bilder: FreeImages.com/MeHere, IMAGO/Revierfoto, IMAGO/Funke Foto Services. Montage: netzpolitik.org.

In ganz Deutschland haben am Wochenende wieder hunderttausende Menschen gegen Rechtsextremismus und ein Erstarken der AfD protestiert. 42 Prozent der Deutschen fordern ein Verbot der extrem rechten Partei. Letzte Woche hat der Bundestag debattiert, ob die AfD verboten werden soll.

Der Verfassungsschutz verdächtigt die Alternative für Deutschland bereits seit vier Jahren, rechtsextrem und verfassungsfeindlich zu sein. Das Bundesamt stuft die Partei als „rechtsextremistischen Verdachtsfall“ ein. Grundlage dafür ist ein 1.000-seitiges Gutachten.

Das veröffentlichen wir jetzt in voller Länge: Folgegutachten zu tatsächlichen Anhaltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Alternative für Deutschland (AfD).

Tatsächliche Anhaltspunkte

Im Januar 2019 hat der Verfassungsschutz die AfD als „Prüffall“ eingestuft, die erste Stufe der Beobachtung. Das Bundesamt stellte „erste tatsächliche Anhaltspunkte fest, die für eine extremistische Bestrebung sprechen“. Dafür erstellte der Verfassungsschutz ein 400-seitiges Gutachten. Das haben wir 2019 veröffentlicht.

Im Februar 2021 hat der Verfassungsschutz die AfD zum „Verdachtsfall“ hochgestuft, die zweite Stufe der Beobachtung. Laut Bundesamt „belegen die festgestellten tatsächlichen Anhaltspunkte den Verdacht, dass die Partei […] verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt“. Dafür erstellte der Verfassungsschutz das 1.000-seitige Folgegutachten.

Das Fazit des Gutachtens: Es „liegen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor“, dass die AfD „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ verfolgt. Diese Anhaltspunkte liegen „von hinreichendem Gewicht und in hinreichender Anzahl“ vor. Auch „unter besonderer Berücksichtigung der Parteienfreiheit“ machen die Anhaltspunkte eine Beobachtung der Partei „erforderlich“.

Mit Menschenwürde unvereinbar

Der Verfassungsschutz hat „zahlreiche gewichtige Anhaltspunkte festgestellt, die belegen, dass in der Partei AfD Bestrebungen gegen die Garantie der Menschenwürde“ verfolgt werden. Artikel 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ In der AfD gibt es relevante Bestrebungen gegen diesen obersten Verfassungsgrundsatz.

Der Verfassungsschutz belegt völkisch-nationalistische Aussagen und Positionen in der AfD. Auf allen Ebenen der Partei wird demnach ein „menschenwürdewidriger völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff vertreten“. Das Gutachten verweist auf Konzepte wie Ethnopluralismus, Begriffe wie Umvolkung und Forderungen wie Remigration. Dieses Volksverständnis ist laut Verfassungsschutz „mit der Achtung der Menschenwürde unvereinbar“ und verfassungsfeindlich.

Der Verfassungsschutz belegt verfassungswidrige Fremdenfeindlichkeit in der AfD. Auf allen Ebenen der Partei werden demnach Zugewanderte kontinuierlich „pauschal diffamiert und verächtlich gemacht“. Das zeigt sich „insbesondere bei rassistisch motivierter Diskriminierung und einer grundsätzlichen Behandlung einzelner Personen und Personengruppen wie Menschen zweiter Klasse“. Dies belegt, „dass die Achtung der Menschenwürde für bestimmte Minderheiten außer Geltung gesetzt werden soll“.

Der Verfassungsschutz belegt verfassungswidrige Muslim- und Islamfeindlichkeit in der AfD. Auf allen Ebenen der Partei werden demnach „muslimische Gläubige aufgrund ihres Glaubens kontinuierlich pauschal diffamiert, herabgewürdigt und ausgegrenzt“. Zudem gibt es Forderungen, die sich „gegen die freie Ausübung der Religionsfreiheit“ richten und damit verfassungsfeindlich sind.

Gegen Demokratie und Rechtsstaat

Der Verfassungsschutz belegt Bestrebungen gegen das Demokratieprinzip in der AfD. Auf allen Ebenen der Partei wird demnach die demokratische Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik diffamiert sowie der Staat und die Parteien verunglimpft. „Gewichtigen Teilen der Partei“ geht es „nicht mehr um eine scharfe kritische Auseinandersetzung in der Sache“. Stattdessen soll das Vertrauen in die verfassungsmäßige Ordnung „von Grund auf erschüttert“ werden, damit „die freiheitliche demokratische Grundordnung als Ganzes fragwürdig erscheine“.

Der Verfassungsschutz belegt Bestrebungen gegen das Rechtsstaatsprinzip in der AfD. In der Partei wird demnach die Gewaltenteilung abgelehnt, das staatliche Gewaltmonopol infrage gestellt und sich auf ein vermeintlich legitimes Widerstandsrecht berufen. Einerseits ergeben diese Aussagen laut Gutachten „kein verfestigtes Bild innerhalb der Gesamtpartei“. Andererseits wäre die Verwirklichung der „menschenwürdewidrigen und diskriminierenden Vorstellungen letztlich nicht ohne eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips umsetzbar“.

Darüber hinaus belegt der Verfassungsschutz verfassungswidrigen Antisemitismus sowie verharmlosende oder positive Positionierungen zum Nationalsozialismus in der AfD. Dafür benennt das Gutachten relevante Anhaltspunkte. Der Verfassungsschutz verzichtet aber darauf, den Verdacht auf Verfassungsfeindlichkeit auch mit diesen Phänomenbereichen zu begründen.

Einfluss von Rechtsextremisten

Im März 2020 hat der Verfassungsschutz die AfD-Gruppierung „Der Flügel“ als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung eingestuft. Daraufhin hat der AfD-Bundesvorstand den informellen Zusammenschluss aufgefordert, sich aufzulösen. Der Vorstand hat die „Flügel“-Mitglieder jedoch weder aus der Partei ausgeschlossen noch zum Austritt aufgefordert. Folglich „konnten diese in der Partei bleiben und ihre politischen Vorstellungen weiter verfolgen“.

Laut Verfassungsschutz hat der rechtsextreme „Flügel“ trotz „formaler Auflösung“ weiterhin „nennenswertes Gewicht“ und „strukturellen Einfluss“ in der AfD. Das begründet der Verfassungsschutz einerseits mit der Größe des „Flügel“. Darüber hinaus listet das Gutachten Belege für den Rückhalt des „Flügel“ in der Gesamtpartei auf allen Ebenen und statistische Analysen zu Verbindungen in Sozialen Netzwerken.

Ein weiteres Kapitel belegt Verbindungen der AfD zu rechtsextremistischen Gruppierungen. Auf allen Ebenen der Partei gibt es demnach Verbindungen zu Rechtsextremisten im Rahmen eines neurechten Netzwerks, zu rechtsextremen Verlagen und Publizisten, zur Identitäre Bewegung, zu rechtsextremen Personen, Parteien, und Gruppierungen sowie zu ausländischen Rechtsextremisten und rechtsextremen Vereinigungen.

Diese Verbindungen „gehen besonders im Bereich der Neuen Rechten über eine reine Überschneidung hinaus und sind als strukturelle Verbindungen innerhalb eines strategisch agierenden Netzwerkes zu bezeichnen“.

Gewichtiger Teil offen rechtsextrem

Der Verfassungsschutz hat auch entlastende Belege wie „Abgrenzungsbemühungen, Ordnungsmaßnahmen und Distanzierungen gegenüber extremistischen Teilelementen festgestellt“. Demnach war es vor vier Jahren nicht ausgeschlossen, „dass eine knappe Mehrheit in der Partei noch eine Zusammenarbeit mit extremistischen Kräften meidet“.

Die entlastenden Belege widerlegen jedoch das Gesamtergebnis nicht. Einerseits sind manche Abgrenzungsmaßnahmen nur „strategisch-taktischer bzw. formal-rechtlicher Art ohne substantielle Aussagekraft“. Andererseits tritt „ein gewichtiger Teil“ der AfD „offen extremistisch auf oder ist zumindest an einer strategischen Zusammenarbeit oder Koexistenz mit ebenjenen extremistischen Teilen der Partei interessiert“.

Rechtsextremismus und Verfassungsschutz

Der Verfassungsschutz hat für das Gutachten ausschließlich öffentliche Quellen ausgewertet. Das sind vor allem Verlautbarungen der Partei, ihrer Organisationseinheiten sowie Funktionäre. Die Analysten haben „4.600 Belege einer umfassenden und kritischen Prüfung unterzogen“. Das Gutachten enthält über 3.100 Fußnoten. Sie verweisen auf rund 1.800 Facebook-Posts, 250 Tweets und 200 YouTube-Videos von mehr als 300 Personen.

Das Gutachten enthält keine Informationen aus „nachrichtendienstlichen Mitteln“ wie Observationen, V-Leute oder Kommunikationsüberwachung. Viele Belege, die der Verfassungsschutz zitiert, wurden bereits von Medien, Forschern und Zivilgesellschaft beleuchtet. Teilweise referenziert der Verfassungsschutz diese Arbeit.

Im Gegensatz zur Zivilgesellschaft ist der Verfassungsschutz ohnehin nicht gerade Vorreiter im Kampf gegen Rechtsextremismus. Hans-Georg Maaßen war Präsident des Bundesamtes, heute wird er vom Verfassungsschutz als Rechtsextremist abgespeichert. Helmut Roewer war Präsident des Landesamtes Thüringen, heute schreibt er für das Magazin Compact, das der Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch einstuft.

AfD verliert vor Gericht

Für andere Akteure steht schon länger fest, dass die AfD rechtsextrem und verfassungsfeindlich ist. Gerade deshalb ist das Gutachten so wichtig. Der Verfassungsschutz hat methodisch gearbeitet und eine große Menge Informationen geprüft und kontextualisiert. Der Verfassungsschutz hat nach eigenen Angaben ergebnisoffen gearbeitet, das Fazit hätte auch anders ausfallen können. Der Verfassungsschutz hat die rechtlichen Vorgaben erklärt und seine Ergebnisse ausführlich juristisch begründet.

Die Arbeit und das Gutachten wurden vor Gericht verhandelt. Die AfD hat den Verfassungsschutz verklagt und verloren. Das Verwaltungsgericht Köln und das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen haben dem Verfassungsschutz Recht gegeben.

Nach Überzeugung der Gerichte besteht der „begründete Verdacht“, dass „maßgebliche Teile der AfD“ rechtsextreme und verfassungsfeindliche „Bestrebungen verfolgen“. Der Verfassungsschutz darf die Partei „als Verdachtsfall beobachten und die Öffentlichkeit hierüber unterrichten“.

Wichtiges Dokument der Zeitgeschichte

Diese Informierung der Öffentlichkeit ist jedoch ausbaufähig. Eine Suche auf verfassungsschutz.de nach AfD findet dazu nur die jährlichen Verfassungsschutzberichte und zwei Pressemitteilungen zu den Gerichtsurteilen. Zur ersten Stufe der Beobachtung veröffentlichte der Verfassungsschutz 2019 zumindest noch das vollständige Ergebnis des Gutachtens, heute ist selbst diese Information entfernt.

Wir haben den Verfassungsschutz gefragt, wie er die Öffentlichkeit informiert und wo wir Informationen zum Verdachtsfall AfD finden. Die Antwort war kürzer als unsere Fragen: Der Verfassungsschutz informiert „nach den Maßgaben des Bundesverfassungsschutzgesetzes“ und „auf verschiedene Weise“, beispielsweise mit den beiden Pressemitteilungen und öffentlichen Äußerungen. „Im Übrigen“ äußert sich der Verfassungsschutz „grundsätzlich nicht zu internen Arbeitsabläufen“.

Also veröffentlichen wir, was öffentlich sein muss. Bereits beim ersten Gutachten schrieben wir: „Die Verfassungsschutz-Analyse ist ein wichtiges Dokument der Zeitgeschichte. Es gehört in die Öffentlichkeit und nicht in einen Panzerschrank neben dem Schredder.“

Damals wie heute gilt: „Dass ein Geheimdienst eine politische Partei beobachtet, ist ein harter Eingriff in einer Demokratie. Gerade deshalb müssen die Erkenntnisse öffentlich verhandelt werden. Wo Behörden Transparenz verweigern, müssen Medien diese Informationen öffentlich machen, auch entgegen staatlicher Geheimnistuerei.“

Immer mehr gesichert rechtsextrem

Mit dem Originaldokument kann sich die Öffentlichkeit selbst eine Meinung bilden. Auf Basis des Gutachtens können Journalisten, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft weiter recherchieren und aktiv werden. Das ist auch notwendig. Das Gutachten ist bereits vier Jahre alt und untersucht vor allem die Jahre 2019 und 2020. Seitdem ist viel passiert.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz stufte die AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ im April 2023 als gesichert rechtsextremistisch ein. Die Landesämter für Verfassungsschutz stufen die AfD-Landesverbände Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen als gesichert rechtsextremistisch ein. Die AfD-Landesverbände Brandenburg, Bayern, Bremen, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Hessen werden als Verdachtsfälle beobachtet. Andere Landesämter sagen nicht öffentlich, ob sie ihren AfD-Landesverband beobachten.

Viele Akteure der Neuen Rechten sind mittlerweile ebenfalls als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Darunter sind das Institut für Staatspolitik, Compact, Ein Prozent, Identitäre Bewegung, Zukunft Heimat, Pegida, PI-News und Arcadi. Der Verfassungsschutz nennt all diese rechtsextremen Organisationen im Gutachten und bezeichnet ihre Verbindungen mit Rechtsextremisten in der AfD als „strategisch agierende Netzwerke“.

Ex-Chef sieht totalitäre Anklänge

Vor vier Jahren war laut Verfassungsschutz noch offen, „ob sich die extremistischen Teile in der Partei durchsetzen“ und sich „der Verdacht der verfassungsfeindlichen Bestrebung“ so erhärtet, dass die gesamte AfD als gesichert rechtsextremistisch einzustufen ist. Seitdem hat sich die AfD weiter radikalisiert.

Jörg Meuthen war fast sieben Jahre lang Vorsitzender der AfD. Im Januar 2022 trat er aus der Partei aus und begründete das mit dem Rechtsruck innerhalb der AfD. Er sagte: „Das Herz der Partei schlägt heute sehr weit rechts“, Teile der AfD stünden „nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, er sehe dort „ganz klar totalitäre Anklänge“.

Birgit Malsack-Winkemann war bis 2021 Bundestagsabgeordnete der AfD. Im Dezember 2022 wurde sie festgenommen, seitdem sitzt sie in Untersuchungshaft. Der Generalbundesanwalt wirft ihr vor, Mitglied in einer rechts-terroristischen Vereinigung zu sein. Die so genannte „Patriotische Union“ wollte bewaffnet den Bundestag stürmen und das System stürzen. Seit Mai 2024 steht sie vor Gericht.

In großen Teilen rechtsextrem

Björn Höcke ist Vorsitzender des AfD-Landesverbands Thüringen und Vorsitzender der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag. Das Landgericht Halle verurteilte den Rechtsextremisten mehrere Male, weil er die verbotene Nazi-Parole „Alles für Deutschland“ nutzte. Davon unbeeindruckt nutzte die AfD auf ihrem Bundesparteitag vor drei Wochen den ähnlich klingenden Slogan „Alice für Deutschland“.

Der Spiegel schrieb: „Die AfD ist eine Partei der Rechtspopulisten, Rechtsradikalen und Rechtsextremen. Ihr Ziel ist die Überwindung des etablierten Systems der liberalen Demokratie in diesem Land. Der Parteitag der Rechtsaußen am vergangenen Wochenende ließ daran keinen Zweifel.“

Die Politik-Redakteurin Ann-Katrin Müller analysierte: „Auf dem Parteitag in Riesa hat die AfD offen wie nie gezeigt, dass die Gesamtpartei für völkischen Nationalismus steht. Sechs Wochen vor der Bundestagswahl versucht sie nicht, sich zu mäßigen. Sie versucht auch nicht, die rechtsextreme Ausrichtung irgendwie zu verkleistern, das Programm und die Reden sprechen eine klare Sprache.“

Die CDU/CSU macht im Bundestag gemeinsame Sache mit der AfD. Sogar Union-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sagte im Bundestag über die AfD: „Diese Partei ist eine in großen Teilen rechtsextreme Partei. Diese Partei untergräbt das Fundament unserer Demokratie.“

Gesamtpartei gesichert rechtsextrem?

Eigentlich wollte auch der Verfassungsschutz seine Bewertung der AfD längst aktualisieren. Seit Jahren arbeitet das Bundesamt an einem neuen, dritten Gutachten. Im Oktober kündigte der Verfassungsschutz-Präsident noch „im Laufe des Jahres“ 2024 eine Entscheidung an. Laut Medienberichten will der Verfassungsschutz die Partei AfD als „gesichert extremistisch“ einstufen, die dritte und höchste Stufe der Beobachtung.

Doch drei Wochen nach der Ankündigung zerbrach die Ampel-Koalition. Daraufhin verschob der Verfassungsschutz die Einstufung erneut: „Die Verkündung dieses Prüfergebnis noch in diesem Jahr war mit der vorgezogenen Neuwahl obsolet – das wäre zu nah an den Wahltermin gerückt.“ Juristen widersprechen: „Das Bundesamt für Verfassungsschutz muss seine Einschätzung der AfD zeitnah öffentlich machen“, noch vor der Bundestagswahl.

Viele halten die AfD nicht nur für verfassungsfeindlich, sondern für verfassungswidrig. Mehrere zivilgesellschaftliche Initiativen fordern ein AfD-Verbot und wollen ein eigenes Gutachten verfassen. Im Oktober hielten 42 Prozent der Deutschen die Einleitung eines Verbotsverfahrens für angemessen. Über 600 Juristen fordern ein AfD-Verbotsverfahren.

Verfassungsfeindlich oder verfassungswidrig

In einer Stellungnahme für den Bundestag schreiben 17 Verfassungsrechtler: „Die rechtliche Beurteilung der Erfolgsaussichten eines Verbots fällt positiv aus. Demnach ist die AfD verfassungswidrig.“ 113 Bundestags-Abgeordnete fordern, die Verfassungswidrigkeit der AfD festzustellen. In ihrem Antrag schreiben sie: „Die AfD wendet sich gegen zentrale Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“ Vor wenigen Tagen debattierte der Bundestag über ein AfD-Verbotsverfahren.

Der CDU-Abgeordnete Marco Wanderwitz hat den Verbots-Antrag organisiert. Er begrüßt unsere Veröffentlichung: „Meiner Ansicht nach sollten derartige Gutachten grundsätzlich weitergehend öffentlich gemacht werden, damit die Bürgerinnen und Bürger einschätzen können, wie die Fakten sind.“ Wanderwitz weiter: „Aus meiner Sicht ist die AfD rechtsextremistisch. Es liegen so viele öffentliche Quellen dazu vor, dass diese bereits ausreichen, zu dieser Beurteilung zu kommen.“

Die Linken-Abgeordnete Martina Renner unterstützt ein AfD-Verbot. Sie begrüßt unsere Veröffentlichung ebenfalls: „Die Veröffentlichung des Gutachtens ist aus meiner Sicht richtig.“ Auch Renner findet: „Dort sind viele Tatsachen und Belege dargestellt, die aus meiner Sicht ergänzend mit der weiteren Entwicklung dieser Partei ein mögliches Verbotsverfahren stützen werden.“

Hier ist das Gutachten in Volltext:

  • Geheimhaltungsgrad: Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch
  • Von: Bundesamt für Verfassungsschutz
  • Stand: 22. Februar 2021
Folgegutachten zu tatsächlichen Anhaltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Alternative für Deutschland (AfD) Gliederung
  1. Einführung
  2. Methodik
    1. Material
    2. Hinweise zu aufgeführten Belegen
  3. Rechtliche Vorgaben
    1. Voraussetzungen für die Einstufung einer Partei als Verdachtsfall
      1. Parteien als Beobachtungsobjekte
      2. Verfassungsfeindliche Bestrebungen
        1. Freiheitliche demokratische Grundordnung als Schutzgut
          1. Menschenwürde
          2. Demokratieprinzip
          3. Rechtsstaatsprinzip
          4. Positionierung zum Nationalsozialismus
        2. Feindliche Ausrichtung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung
      3. Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen
        1. Meinungsäußerungen und sonstige Verhaltensweisen als tatsächliche Anhaltspunkte
        2. Verfassungsrechtliche Gruppierungen innerhalb eines inhomogenen Personenzusammenschlusses als tatsächliche Anhaltspunkte
        3. Aufgrund von Überschneidungen mit anderen Organisationen
      4. Hinreichende Gewichtung und Anzahl an Anhaltspunkten
    2. Rechtsfolgen
      1. Einstufung als Beobachtungsobjekt
      2. Prüffallbearbeitung
  4. Struktur und Entwicklung der Partei
    1. Aufbau und Struktur der Partei
    2. Parteiinterne Gruppierungen und Personenzusammenschlüsse in der AfD
      1. Organisationsformen
      2. Christen in der AfD
      3. Juden in der AfD
      4. Alternative Mitte
      5. Desiderius-Erasmus-Stiftung
    3. Entwicklung der Partei
      1. Februar 2013 bis Januar 2019
      2. Januar 2019 bis März 2020
      3. März 2020 bis zur Gegenwart
    4. Bewertung
  5. Einflussnahme der erwiesen extremistischen Bestrebung „Der Flügel“ auf die Gesamtpartei
    1. Struktureller Einfluss – Rückhalt in der Gesamtpartei
      1. Bundesebene
      2. Landesebene
      3. Kreisebene
    2. Quantitative Analyse der Verbindungen zur Einflussnahme der erwiesen extremistischen Bestrebung „Der Flügel“ auf die Gesamtpartei
  6. Belege zur Feststellung tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung
    1. Menschenwürde
      1. Völkisch-nationalistische Aussagen und Positionen
        1. Programmatische Schriften
        2. Bundesebene
        3. Landesebene
        4. Kreisebene und andere
      2. Fremden- und minderheitenfeindliche Aussagen und Positionen
        1. Programmatische Schriften
        2. Bundesebene
        3. Landesebene
        4. Kreisebene und andere
      3. Muslim- und islamfeindliche Aussagen und Positionen
        1. Programmatische Schriften
        2. Bundesebene
        3. Landesebene
        4. Kreisebene und andere
      4. Antisemitische Aussagen und Positionen
        1. Bundesebene
        2. Landesebene
        3. Kreisebene und andere
    2. Demokratieprinzip
      1. Diffamierung der demokratischen Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland / Revisionismus
        1. Bundesebene
        2. Landesebene
        3. Kreisebene und andere
      2. Verunglimpfungen des Staates und der Parteien
        1. Programmatische Schriften
        2. Bundesebene
        3. Landesebene
        4. Kreisebene und andere
    3. Rechtsstaatsprinzip
      1. Ablehnung der Gewaltenteilung und der Rechtsbindung öffentlicher Gewalt
        1. Landesebene
        2. Kreisebene und andere
      2. Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols / Berufung auf ein vermeintlich legitimes Widerstandsrecht
        1. Landesebene
        2. Kreisebene und andere
    4. Positionierung zum Nationalsozialismus
      1. Bundesebene
      2. Landesebene
      3. Kreisebene und andere
  7. Verbindungen zu Gruppierungen, Organisationen und Einzelpersonen aus dem rechtsextremistischen Spektrum
    1. Verbindungen zu Rechtsextremisten im Rahmen eines neurechten Netzwerks
      1. Bundesebene
      2. Landesebene
      3. Kreisebene und andere
    2. Verbindungen zu rechtsextremistischen Verlagen und Publizisten
      1. Bundesebene
      2. Landesebene
      3. Kreisebene und andere
    3. Verbindungen zur Identitäre Bewegung
      1. Bundesebene
      2. Landesebene
      3. Kreisebene und andere
    4. Kontakte und Bezüge zu rechtsextremistischen Personen, Parteien, und Gruppierungen
      1. Bundesebene
      2. Landesebene
      3. Kreisebene und andere
    5. Kontakte zu ausländischen Rechtsextremisten und rechtsextremistischen Vereinigungen
      1. Bundesebene
      2. Landesebene
      3. Kreisebene und andere
    6. Quantitative Analyse der Verbindungen zu neurechten und rechtsextremistischen Gruppierungen und ihren Protagonisten in den Sozialen Netzwerken
  8. Gesamtwürdigung
    1. Tatsächliche Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht und in hinreichender Zahl
      1. Einfluss des „Flügel“ mit nennenswertem Gewicht
        1. Größe und Repräsentanz
        2. Rückhalt in der Gesamtpartei
        3. Kein Entfallen des Einflusses durch formale Auflösung des „Flügel“
        4. Zwischenfazit
      2. Anhaltspunkte durch Verlautbarungen von qualitativem und quantitativem Gewicht
        1. Klassifizierungen durch ethnisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis
        2. Fremdenfeindlichkeit
        3. Muslim- und Islamfeindlichkeit
        4. Antisemitismus
        5. Demokratieprinzip
        6. Rechtsstaatsprinzip
        7. Positionierung zum Nationalsozialismus
      3. Verbindungen zu rechtsextremistischen Gruppierungen, Organisationen und Einzelpersonen
      4. Entlastende Belege
      5. Zwischenfazit
    2. Tatsächliche Anhaltspunkte zur Gewissheit verdichtet
    3. Intensität der Beobachtung
    4. Hinweise zur Öffentlichkeitsunterrichtung
  9. Fazit: Verdachtsfall wegen hinreichend gewichtiger tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung
    1. Einfluss des formal aufgelösten „Flügel“
    2. Hinreichend gewichtige Anhaltspunkte durch Verlautbarungen
    3. Verbindungen zu rechtsextremistischen Gruppierungen
    4. Entlastende Belege
    5. Ergebnis
  10. Anhang
    1. Personenglossar
    2. Abkürzungsverzeichnis
    3. Fußnoten
A. Einführung

Das Bundesamt für Verfassungsschutz stufte im Januar 2019 die Partei Alternative für Deutschland (AfD) als Prüffall im Phänomenbereich Rechtsextremismus ein. Gleichzeitig wurden die Jugendorganisation der AfD, die Junge Alternative (JA) für Deutschland und der Personenzusammenschluss innerhalb der Partei „Der Flügel“ zu Verdachtsfällen erhoben. Letztgenannter wurde im März 2020 als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung eingestuft.

Im Rahmen der Prüffalleinstufung wurden hinsichtlich der Programmatik und Aussagen der AfD erste tatsächliche Anhaltspunkte festgestellt, die für eine extremistische Bestrebung sprechen. Im Zuge der Prüffallbearbeitung wurde diesen ersten verdächtigen Informationssplittern weiter nachgegangen.

Das vorlegende Gutachten untersucht nun die im Rahmen der Prüffallbearbeitung seit Januar 2019 neu angefallenen Erkenntnisse zur AfD und bewertet diese im Hinblick auf deren weitere Bearbeitung. Dabei ist zu prüfen, ob für die AfD fortgesetzt tatsächliche Anhaltspunkte für eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebung vorliegen. Sollte dies der Fall sein, ist weiterhin zu prüfen, wie diese Anhaltspunkte in aller Gesamtschau zu bewerten sind. Würden sich die gefundenen Anhaltspunkte nur als vereinzelt und nicht hinreichend gewichtig darstellen, so wäre die Prüffallphase durch Einstellung zu beenden. Sollten die Anhaltspunkte dagegen hinreichend gewichtig sein und eine Beobachtung nach § Abs. 1 Nr. 1 Fall 1, § 4 Abs. 1 Satz lit. c, § 4 Abs. 1 Satz 3 BVerfSchG einfordern, wäre eine Höherstufung zum Verdachtsfall notwendig. Möglich wäre außerdem, dass sich die Anhaltspunkte im Lauf der vergangenen zwei Jahre bereits zur Gewissheit verdichtet haben. In diesem Fall wäre eine direkte Einstufung als erwiesen extremistische Bestrebung erforderlich.

B. Methodik I. Material

Verlautbarungen der Funktionärinnen und Funktionäre[1] sowie der Organisationseinheiten der AfD und ihrer Teilorganisationen wurden hinsichtlich des Vorliegens tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung geprüft. Diese Belege wunden nach Bundes-, Landes- und Kreisebene differenziert.

Belege von Mitgliedern des Europaparlaments, des Bundestages, des AfD-Bundesvorstands, des Bundesvorstands von Personenzusammenschlüssen innerhalb der Partei wie z. B. der Junge Alternative sowie Belege, die dem AfD-Bundesverband und dem Bundesverband der Jungen Alternative selbst zuzuordnen sind, sind im Folgenden auf der Bundesebene aufgeführt. Auf der Landesebene sind Belege der Mitglieder der Landtage und der Vorstände der Landesverbände aufgelistet (hier z. B. auch Landesverbände der Junge Alternative). Auf der Kreisebene sind die Belege von Kreisverbänden und deren Vorständen aufgeführt.

In Einzellfällen sind dort auch Belege von einfachen Mitgliedern sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der AfD angegeben. Aussagen von einfachen Mitgliedern – ohne aktuellen Funktionsposten – wurden der Partei nur dann zugerechnet, wenn die entsprechenden Aussagen auf offiziellen Kommunikationskanälen oder Parteiveranstaltungen getätigt wurden und damit im unmittelbaren Zusammenhang zu Aktivitäten der Partei standen. Auch zugerechnet wurden Aussagen ehemaliger Funktionäre‚ die zum Zeitpunkt der Äußerung einen Funktionsposten innehatten oder Aussagen einfacher Mitglieder, die auch auf anderen Organisationsebenen durch Funktionärinnen und Funktionäre der Partei aufgegriffen und unterstützt wurden.[1a]

Soweit im Übrigen vereinzelt Aussagen von einfachen Mitgliedern aufgeführt sind, die in keinem derartigen Zusammenhang mit Aktivitäten der Partei stehen oder eine Distanzierung der Partei erfolgte, wurden diese weder direkt noch indirekt als entscheidungserhebliche Anhaltspunkte berücksichtigt, sondern lediglich zur Darstellung der innerhalb der Partei bestehenden Diskurse aufgeführt.

Belege von Personen mit Doppelfunktion wurden in der Regel auf der höchsten Ebene der ausgeübten Funktionen aufgeführt (z. B. gleichzeitiges Landtagsmandat und Amt im Bundesvorstand wird auf Bundesebene dargestellt). Sollte es im Lauf des Prüfungsprozesses zu Funktions- und Ämterwechseln, Austritten oder Ausschlüssen der Personen aus der Partei gekommen sein, sind diese – sofern die Informationen dem BfV vorlegen – in Fußnoten und im Personenglossar (im Anhang) vermerkt.[2] Diese Änderungen wurden im Rahmen der Gewichtung entsprechend berücksichtigt.

Dabei wurden Verlautbarungen von ausgeschlossenen Mitgliedern oder von Mitgliedern, gegen die Ausschlussverfahren anhängig sind, für sich genommen als nicht entscheidungsrelevant behandelt. Im Sinne einer umfassenden Belegzusammenstellung wurden die Verlautbarungen jedoch in den folgenden Kapiteln aufgenommen, sofern die gegenständlichen Verlautbarungen zur Zeit einer noch aktiven Parteimitgliedschaft getätigt wurden. Dieses Vorgehen dient dadurch der umfassenden Darstellung des innerparteilichen Meinungsspektrums, da die entsprechenden Aussagen zumeist auch Reaktionen von anderen Mitgliedern und Parteigliederungen hervorriefen.

Die Bewertung der Verlautbarungen als nicht entscheidungsrelevant im Rahmen der Gewichtung, bedeutet jedoch nicht automatisch, dass das initiierte bzw. abgeschlossene Ausschlussverfahren als Distanzierung der Gesamtpartei von verfassungsfeindlichen Positionen einzelner Mitglieder zu sehen ist. Da die Ausschlussanträge und die Entscheidungen der Parteischiedsgerichte nicht veröffentlicht werden, ist vielfach nicht erkennbar, welche Gründe jeweils tragend für den Parteiausschluss waren und von welchen Positionen sich die Partei damit distanziert hat.

Soweit Verlautbarungen von Parlamentsabgeordneten im Gutachten berücksichtigt wurden, ist darauf hinzuweisen, dass damit keine gezielte personenbezogene systematische Datenverarbeitung (Beschaffung und Speicherung in Personenakten oder NADIS WN) verbunden war.[3a] Die offen zugänglichen Verlautbarungen wurden nur insoweit erhoben, wie dies für die notwendige Bearbeitung des Prüffalls erforderlich war.

Diese Erfassung verdeutlicht zugleich, dass keine gezielte Beobachtung von Abgeordneten erfolgt ist, sondern lediglich Erkenntnisse zur Ausrichtung der Partei – aus offenen Quellen – gesammelt worden sind. Zudem handelt es sich um Informationen, die extremistische Bestrebungen indizieren, damit in Bezug auf den Abgeordneten seine individuelle Verantwortlichkeit für solche Bestrebungen aufgezeigt wird. Für die Verdachtsfallprüfung wird auf tatsachengegründete Verdachtsbelege abgestellt. In jeder Phase der Gefahrenforschung – auch für den Verdachtsfall – sind dabei Äußerungen von Abgeordneten regelmäßig in besonderer Weise geeignet, die von einer Partei verfolgten Ziele und Konzepte nachzuvollziehen, und danach für deren Bewertung besonders bedeutsam.[3b] Im Ergebnis rechtfertigen die besondere Bedeutung dieser Informationen zum Schutz herausragender Rechtsgüter, die geringe Eingriffsintensität (der nicht personenbezogenen strukturierten Informationssammlung aus offenen Quellen) und der tatsachengegründete individuelle Verstrickungsverdacht zum Betroffenen den Einbezug dieser Informationen in die Sammlung auch unter Berücksichtigung des besonders schutzwürdigen Abgeordnetenstatus.

Relevante Anhängerinnen und Anhänger der erwiesen rechtsextremistischen Bestrebung „Flügel“ wurden entsprechend ihrer Funkionen in der Partei oder ihres Mandats in den Landtagen und im Bundestag eingeordnet. Zusätzlich wurden nur relevante Protagonistinnen und Protagonisten berücksichtigt, wie z. B. Obleute. Gleiches gilt für Mitglieder der Junge Alternative.

Belege, die bereits in den beiden vorangegangenen Gutachten zur AfD (Januar 2018) und zum „Flügel“ (März 2020) genannt wurden, sind i. d. R. als solche gekennzeichnet. Sie dienen hauptsächlich der Einbettung von aktuell getätigten Aussagen und Positionen in einen Gesamtkontext und zum etwaigen Nachweis von z. B. langjährigen Verbindungen zu (rechts)extremistischen Bestrebungen.

Als Belege dienten programmatische Schriften und Grundsatzpapiere der Partei wie auch Verlautbarungen auf Internetpräsenzen der Organisationseinheiten und der genannten Personen. Weiter wurden Aussagen im öffentlichen Raum, wie z. B. in Sozialen Netzwerken, Publikationen und Reden außerhalb des parlamentarischen Raums, etwa auf Wahlkampfveranstaltungen und Demonstrationen verwendet. Ebenso flossen entsprechende Erkenntnisse der Landesbehörden für Verfassungsschutz in die Materialsammlung ein. Insgesamt wurden Belege für knapp 400 Organisationseinheiten und über 650 Personen berücksichtigt und ca. 300 Reden und weiteres Videomaterial ausgewertet. In der Gesamtheit wurden 4.600 Belege einer umfassenden und kritischen Prüfung unterzogen. Diese Informationszusammenstellung im Vorfeld der Beobachtung ist zulässig, weil sich im Ergebnis nur durch sie klären lässt, ob tatsächliche Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht überhaupt in hinreichender Zahl vorliegen.

Da sich die Prüffallbearbeitung auf die für eine solche Vorprüfung erforderliche Sichtung offen verwertbarer Materialien und Erkenntnisse zu beschränken hat, wurde für die Erstellung des Gutachtens auf die Anlage von P-Akten, die Vornahme von NADIS-Speicherungen und den Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln verzichtet. Auch in zeitlicher Hinsicht sind der Prüffallbearbeitung enge Grenzen gesetzt.

II. Hinweise zu aufgeführten Belegen

Bei der Zitierung von Verlautbarungen wurden orthografische und grammatikalische Fehler stets aus den vorliegenden Originalbelegen übernommen. Eine gesonderte Markierung dieser erfolgte nicht. Im Fall der Verwendung von Rede- und Videobeiträgen wurden diese möglichst wortgenau transkribiert. Zur Verbesserung der Lesbarkeit wurden Wortwiederholungen und die Wiedergabe von Stocken im Redefluss sowie Füllwörtern vermieden.

Anmerkungen zur Verbesserung des Textverständnisses wurden innerhalb der Zitate als solche gekennzeichnet und in eckige Klammer gesetzt: [Anm.:]. Auslassungen innerhalb der Zitate wurden ebenfalls mit eckigen Klammern […] markiert. Auslassungen vor und nach den aufgeführten Zitaten erhielten keine gesonderte Kennzeichnung. Grammatikalische Anpassungen im Sinne der Lesbarkeit wurden ebenso mit eckigen Klammern gekennzeichnet.

Alle verwenden Belegstellen wurden mit dem Datum der getätigten Aussage und dem Abrufdatum versehen. In vereinzelten Fällen, bei denen das Abrufdatum nicht erkennbar und auch eine Nachsicherung unmöglich war, wurde dies in der Referenz kenntlich gemacht.

Im Falle von geteilten Beiträgen in den Sozialen Netzwerken wurden diese – unter entsprechender Gewichtung – dem Urheber und ggf. den teilenden Personen oder Organisationseinheiten zugeschrieben. In diesem Fall wurde – wenn nicht bereits auf beiden Ebenen aufgefallen – von einer doppelten Sicherung des Belegs abgesehen.

Insgesamt wurden im vorliegenden Gutachten Verlautbarungen von 302 Personen in den für die Bewertung maßgeblichen Kapiteln „Einflussnahme der erwiesen extremistischen Bestrebung ‚Der Flügel‘ auf die Gesamtpartei“, „Tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grunderdung“ sowie „Verbindungen zu rechtsextremistischen Gruppierungen, Organisationen und Einzelpersonen“ verarbeitet (Tabelle 1). Auf der Bundesebene wurden 88 Personen mit Funktion im Bundesvorstand der AfD oder mit Funktion in deren Teilorganisationen und/oder Mandat im Bundestag und im Europäischen Parlament betrachtet. Äquivalent dazu wurden auf der Landesebene 118 Personen aus allen 16 Landesverbänden und der jeweiligen Teilorganisationen sowie auf Kreisebene 96 Personen aus 86 Kreisverbänden erfasst.

Zusätzlich wurden Verlautbarungen von 213 Organisationseinheiten, Untergliederungen und Teilorganisationen im Gutachten berücksichtigt. Insgesamt sind Verlautbarungen des AfD-Bundesverbands, des Bundesverbands der Junge Alternative und der Christen in der AfD, 11 AfD-Landesverbände, 13 Landesverbände der Junge Alternative sowie 185 Bezirks- und Kreisverbände der AfD und der Junge Alternative berücksichtigt worden.

Tabelle 1: Anzahl der berücksichtigten Personen und Organisationseinheiten

  Personen Organisationseinheiten Bundesebene 88 3 Landesebene 118 25 Kreisebene und andere 96 185 Gesamt 302 213 C. Rechtliche Vorgaben I. Voraussetzungen für die Einstufung einer Partei als Verdachtsfall

Gegenstand des Prüfgutachtens ist die Frage, ob hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb der Gesamtpartei Alternative für Deutschland (AfD) vorliegen, die zu einer Einstufung als Verdachtsfall und damit als Beobachtungsobjekt des Bundesamtes für Verfassungsschutz führen.

Gemäß §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 4 Abs. 1 S. 1 lit. c, 4 Abs. 1 S. 3 BVerfSchG haben die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder den Auftrag, Informationen über Personenzusammenschlüsse zu sammeln und auszuwerten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass in diesen verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt werden. Liegen diese Voraussetzungen vor, sind die Verfassungsschutzbehörden zur Beobachtung entsprechender Bestrebungen und Tätigkeiten nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet.[4]

Das BVerfSchG normiert in § 4 Abs. 1 S. 3 zunächst das Vorliegen „tatsächlicher Anhaltspunkte“ als Voraussetzung für das Tätigwerden des Bundesamtes für Verfassungsschutz und fordert in § 16 BVerfSchG „hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte“ für eine Aufklärung der Öffentlichkeit. Hierbei ist zwischen Prüffällen und Beobachtungsobjekten zu differenzieren. Ergeben sich tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen von verfassungsfeindlichen Bestrebungen, ist zu prüfen, ob diese ausreichend sind, um eine Einstufung als Beobachtungsobjekt vorzunehmen. Innerhalb der Beobachtungsobjekte wird weitergehend zwischen Verdachtsfällen und gesichert extremistischen Bestrebungen differenziert. Bei dem Verdachtsfall ist noch nicht erwiesen, dass es sich um eine extremistische Bestrebung handelt, es liegen aber hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vor.

1. Parteien als Beobachtungsobjekte

Die Beobachtung von Parteien bewegt sich im Spannungsfeld zwischen den Rechten der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG einerseits und den zu schützenden Rechtsgütern der freiheitlichen demokratischen Grundordnung andererseits. Dabei ist Ausdruck der sogenannten streitbaren Demokratie des Grundgesetzes, dass auch die für die Demokratie konstituierenden Freiheitsbetätigungen, wie die von Parteien, Beeinträchtigungen unterliegen können. In diesem Sinne ist die Beobachtung von Parteien durch das Bundesamt für Verfassungsschutz nicht von vornherein unvereinbar mit den Rechten der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG.[5] Es kann im Einzelfall geboten sein, dass die Rechte der Parteien zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zurücktreten. Beobachtungsmaßnahmen betreffen dabei das Recht der Parteien, sich frei, d. h. unabhängig von staatlicher Einflussnahme und Überwachung, betätigen zu können.[6] Sie können ferner das Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG beeinträchtigen, wenn sie öffentlich gemacht werden.[7] Daher sind bei der Anwendung und Auslegung der Befugnisnormen aus §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 4 Abs. 1 S. 1 lit. c, 4 Abs. 1 S. 3 BVerfSchG der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung einerseits und die Rechte der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG anderseits stets zu berücksichtigen und ihr Ausgleich über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu gewährleisten.[8]

Einer Beschränkung der Parteienfreiheit im Wege einer Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz steht des Weiteren auch nicht das Parteienprivileg aus Art. 21 Abs. 4 GG entgegen.[9] Nach dieser Vorschrift sind Eingriffe in die Parteienfreiheit grundsätzlich dem BVerfG vorbehalten. Allein das BVerfG darf über das Verbot von politischen Parteien und ihren Ausschluss von staatlicher Finanzierung entscheiden; vor dem Ergehen einer solchen verfassungsgerichtlichen Entscheidung ist jedes administrative Einschreiten gegen den Bestand der politischen Partei unzulässig.

Das Gleiche gilt für rechtliche Sanktionen gegen ihre Funktionäre, Mitglieder und Anhänger, soweit diese Sanktionen wegen parteioffizieller, mit allgemein erlaubten Mitteln arbeitender Tätigkeiten verhängt werden sollen. Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist aber kein gegen den Bestand der politischen Partei gerichtetes Einschreiten, auch keine Sanktion ihrer Funktionäre, Mitglieder und Unterstützer.[10] Sie dient vielmehr der Aufklärung des gegen die Partei gerichteten Verdachts; die grundsätzliche Zulässigkeit einer solchen Aufklärung wird vom Grundgesetz vorausgesetzt.[11]

Den hier und im Folgenden zitierten Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Urteil vom 21. Juli 2010[12] steht der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 17. November 2013[13] nicht entgegen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aufgehoben. Die im Urteil entwickelten abstrakten Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Anwendung und Auslegung der Befugnisnormen aus §§ 3 und 4 BVerfSchG hinsichtlich verfassungsfeindlicher Bestrebungen durch Personenzusammenschlüsse wurden vom Bundesverfassungsgericht allerdings nicht beanstandet, sondern lediglich die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene Wahrung der Verhältnismäßigkeit hinsichtlich individueller Eingriffsakte bezogen auf Dauer und Intensität der Beobachtung eines einzelnen Abgeordneten als fehlerhaft beschieden. Insofern sind die rechtlichen Ausführungen des Bundesverwaltungsgesichts als Maßstab für die Beobachtung von Parteien bei diesem Prüfgutachten berücksichtigt worden.

2. Verfassungsfeindliche Bestrebungen

Der Begriff der verfassungsfeindlichen Bestrebungen ist in § 4 Abs. 1 S. 1 lit. c BVerfSchG legaldefiniert. Danach sind Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung solche politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, der darauf gerichtet ist, einen der in § 4 Abs. 2 BVerfSchG genannten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen.

2.1 Freiheitliche demokratische Grundordnung als Schutzgut

Schutzgut der Vorschrift sind die in § 4 Abs. 2 BVerfSchG genannten Verfassungsgrundsätze. Bei der Prüfung der verfassungsfeindlichen Ausrichtung gegen einen dieser Grundsätze darf allerdings nicht allein auf den Wortlaut des § 4 Abs. 2 BVerfSchG abgestellt werden. Vielmehr ist der dortige Katalog im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung auszulegen.

Der Katalog gibt die in den Urteilen des BVerfG zum Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 und der Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) 1956 herausgearbeiteten einzelnen Elemente derselben wieder.[14]

Die Beobachtung einer politischen Partei ist aufgrund der hohen Bedeutung der Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 und 2 GG nur zum Schutz besonders hochwertiger Rechtsgüter zulässig. Für eine verfassungskonforme Auslegung des § 4 Abs. 2 BVerfSchG muss daher sichergestellt sein, dass eine Beobachtung von Parteien und ihren Teilorganisationen nur zum Schutz von Verfassungsgrundsätzen erfolgt, die auch vom BVerfG als Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung anerkannt werden.

Daraus folgt, dass die in § 4 Abs. 2 BVerfSchG aufgezählten Verfassungsgrundsätze nur als Ausprägung für die hinter ihnen stehenden drei zentralen Grundprinzipien zu verstehen sind; die Garantie der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG und das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG.[15] Zudem hat das BVerfG betont, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung auf diese wenigen zentralen Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind, zu reduzieren ist. Die Grundentscheidung des Grundgesetzes für einen offenen Prozess der politischen Willensbildung hat zur Folge, dass auch das kritische Hinterfragen einzelner Elemente der Verfassung möglich sein muss. Dies gilt selbst für einzelne von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG umfasste Staatstrukurprinzipien, namentlich die republikanische Regierungsform und das Bundesstaatsprinzip. Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist erst betroffen, wenn dasjenige in Frage gestellt und abgelehnt wird, was zur Gewährleistung eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens schlechthin unverzichtbar ist und daher außerhalb jeden Streits stehen muss.

Kein eigenständiger Verfassungsgrundsatz nach § 4 Abs. 2 BVerfSchG ist hingegen ein Verbot der nationalsozialistischen Betätigung. Im Übrigen ist ein solches Verbot nationalsozialistischer Betätigung nach der Rechtsprechung des BVerfG auch kein Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.[16] Auch wenn der Nationalsozialismus gegenbildlich identitätsprägend für das Grundgesetz ist, dieses also als Gegenentwurf zum totalitären Nationalsozialismus angesehen werden kann, lässt sich daraus doch kein eigenständiges, antinationalsozialistisches Verfassungsprinzip ableiten. Dies ändert allerdings nichts daran, dass die nationalsozialistische Ideologie alle drei o.g. Kernelemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ablehnt. Wenn eine Partei oder eine Teil- oder Nebenorganisation sich „der Vorstellungswelt des Nationalsozialismus verbunden fühlt“, entfaltet dies daher „erhebliche indizielle Bedeutung hinsichtlich der Verfolgung verfassungsfeindlicher, auf eine Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichteten Ziele“.[17]

Im Ergebnis kommt ein Tätigwerden des Verfassungsschutzes daher in Betracht, wenn innerhalb des Personenzusammenschlusses eine feindliche Ausrichtung gegen die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG, das Demokratieprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG oder das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG vorherrscht; ein starkes Indiz dafür können auch Verbindungen zur Ideologie des Nationalsozialismus sein.

2.1.1 Menschenwürde

Die Garantie der Menschenwürde schützt den einzelnen Menschen im Kern seiner personalen Individualität, Identität und Integrität und in seiner elementaren Rechtsgleichheit.[18] Der Mensch darf niemals zum bloßen Objekt staatlichen Handelns degradiert werden, sondern ist immer auch als Subjekt zu behandeln, dem um seiner selbst willen, allein kraft seines Menschseins ein Achtungsanspruch zukommt.[19]

Damit unvereinbar sind zunächst Vorstellungen von einem ursprünglichen und unbedingten Vorrang eines wie auch immer gearteten Kollektivs gegenüber dem einzelnen Menschen. Die Menschenwürde wird nur geachtet, wenn der Einzelne als grundsätzlich frei und die ihm auferlegten Sozialbindungen als rechtfertigungsbedürftig gedacht werden. Dies bedeutet zwar nicht, dass Verweise auf die Sozialgebundenheit des Menschen dessen Würde in irgendeiner Weise in Frage stellen würden. Wer aber eine Gesellschaft will, in der der Einzeile dem Kollektiv untergeordnet ist, ohne dass es dafür im Einzelfall einer Begründung bedürfe, wendet sich damit gegen die Garantie der Menschenwürde.[20]

Mit der Garantie der Menschenwürde sind auch Vorstellungen unvereinbar, die den grundsätzlichen Achtungsanspruch des Menschen von etwas anderem als seiner bloßen Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung abhängig machen wollen.[21] Dies bedeutet zwar nicht, dass schon jeder Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG oder die besonderen Diskriminierungsverbote aus Art. 3 Abs. 2 und 3 GG auch die Menschenwürde verletzen. Erst recht stellen sachlich begründete Ungleichbehandlungen keinen Verstoß gegen die Menschenwürde dar. Wer aber eine Gesellschaft will, in der bestimmten Gruppen von Menschen ein von vornherein abgewerteter rechtlicher Status zugeschrieben wird oder in welcher diese Gruppe von Menschen einer demütigenden Ungleichbehandlung ausgesetzt werden, wendet sich gegen die Garantie der Menschenwürde.

Durch das Lob des Patriotismus, der Liebe zum Heimatland und des Zusammengehörigkeitsgefühls in der sozialen Gemeinschaft wird zwar die Menschenwürde nicht in Frage gestellt. Die Grenze wird aber dann überschritten, wenn der Einzelne als der Gemeinschaft unbedingt untergeordnet gedacht und seine Würde von der Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft abhängig gemacht wird. Dies ist etwa der Fall, wenn in völkisch-nationalistischer Weise allein das Überleben des Volkes als Organismus zum Ziel des politischen Handelns gemacht wird, hinter dem die Interessen des Einzelnen vollständig zurückzutreten haben.

Auch Vorstellungen, die in diesem Sinne den Erhalt des Volkes in seinem ethnischen Bestand fordern und ethnische „Fremde“ nach Möglichkeit ausschließen, verstoßen gegen die Garantie der Menschenwürde,[22] da ein dergestalt völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff eine Ausrichtung des Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrechts an ethnischen Kriterien impliziert, wonach bestimmte Menschen qua Geburt und ihrer Natur nach aus dem Volk ausgeschlossen wären. Ein solcher Volksbegriff stellt die Subjektivität des Individuums und den aus der Menschenwürde folgenden Achtungsanspruch des Einzelnen in Frage und führt überdies zu einer Verweigerung elementarer Rechtsgleichheit für all jene, die nicht der ethnisch definierten „Volksgemeinschaft“ angehören.[23] Letztlich führt dies auch für Personen, die bereits über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen, zu einer Klassifizierung und Abstufung auf Grundlage der ethnischen Zugehörigkeit in solche erster und zweiter Klasse. Dies gilt selbst dann, wenn der ethnische Volksbegriff Ausnahmen zuließe und auf Ausbürgerungen verzichten würde.[23a]

Die Behandlung von Sachthemen wie die Entwicklung von Parallelgesellschaften und daraus resultierende Problematiken als solches begründen jedoch ebenso wenig Verfassungsschutzrelevanz wie das Eintreten für eine restriktive Einwanderungspolitik.[24] Wenn in diesem Zusammenhang allerdings das politische Ziel propagiert wird, das deutsche Volk in seinem „ethnisch-kulturellen Bestand“ zu erhalten, ist dies als Anhaltspunkt für ein ethnisch-kulturelles Volksverständnis zu werten.

Auch Kritik an den Angehörigen von Minderheiten oder die Forderung nach der gesetzlichen Einschränkung der von ihnen in Anspruch genommenen Grundrechte stellt nicht per se deren Menschenwürde in Frage. Die Grenze wird dann überschritten, wenn in solcher Kritik oder solchen Forderungen eine grundsätzliche Abwertung der Angehörigen der Minderheit allein aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit zum Ausdruck kommt oder wenn die Forderungen sich auf einen Eingriff in den Menschenwürdegehalt ihrer Grundrechte richten.

Demzufolge ist es zulässig, tatsächliche und vermeintliche Kriminalität von Migranten zu thematisieren und zum Gegenstand des politischen Diskurses zu machen oder die tatsächlich oder vermeintlich fehlende Anpassung von bestimmten Bevölkerungsgruppen an die Lebensgewohnheiten der Mehrheitsbevölkerung zu problematisieren und eine stärkere Anpassung zu fordern. Auch Kritik an der Einwanderungs- und Asylpolitik ist nicht verfassungsschutzrelevant. So stellt die Forderung nach einer weitgehenden Beschränkung von Zuwanderung keinen Anhaltspunkt für fremdenfeindliche Bestrebungen dar. Anders ist es allerdings zu beurteilen, wenn Äußerungen unmittelbar an die Asylbewerber und Asylbewerberinnen sowie Migranten und Migrantinnen adressiert sind und diese pauschal verächtlich machen.[25]

Nicht zu beanstanden ist zudem, die Religion oder eine sonstige Lebensanschauung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe inhaltlich zu kritisieren, ohne die Mitglieder dieser Bevölkerungsgruppe persönlich abzuwerten. Auch Forderungen nach einer gesetzlichen Beschränkung der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG oder ihrer Modifikation durch Verfassungsänderung bewegen sich grundsätzlich im Rahmen des allgemeinen politischen Diskurses. Keine Verfassungsschutzrelevanz begründen in diesem Zusammenhang auch Äußerungen, die lediglich als muslim- oder islamkritisch anzusehen sind, sich z. B. nur gegen bestimmte Erscheinungsformen der Religion und ihrer Ausübung richten. Die Grenze wird aber dann überschritten, wenn die Religion und ihre Gläubigen im Sinne eines pauschalen Feindbildes abgelehnt oder bestimmte Bevölkerungsgruppen als ihrer Natur nach kriminell, aggressiv, triebgesteuert und gefährlich dargestellt werden. Sie ist auch überschritten, wenn den Angehörigen einer solchen Bevölkerungsgruppe das Recht auf freie Selbstentfaltung, Religionsausübung und Mitwirkung am politischen Entscheidungsprozess vollkommen abgesprochen wird, indem ihre vollständige Anpassung in Verhalten und Denken an den autochthonen Deutschen verlangt wird.

Verunglimpfungen in Form von tatsachenwidrigen pauschalen Verdächtigungen und Unterstellungen würdigen dabei Menschengruppen in ihrer Gesamtheit ab und rufen Ablehnung hervor. Solche Agitationen schüren Ängste, Unsicherheiten und Vorurteile und sind damit letztlich auch geeignet, den Boden für unfriedliche Verhaltensweisen gegenüber einzelnen Bevölkerungsgruppen zu bereiten.[26]

2.1.2 Demokratieprinzip

Das Demokratieprinzip verbürgt die freie Selbstbestimmung aller Bürgerinnen und Bürger. Politische Freiheit und Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger sind die Grundbedingungen der Demokratie. In einer Demokratie muss sich die Willensbildung stets vom Volk zu den Staatsorganen und nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk vollziehen. Dieser Prozess der politischen Meinungsbildung muss zudem offen gestaltet und für alle wahlmündigen Bürgerinnen und Bürger zugänglich sein; er setzt somit die gleichberechtigte Teilhabe aller voraus. Darüber hinaus beinhaltet das Demokratieprinzip die Volkssouveränität, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Die Staatsgewalt darf keine anderen Legitimationsquellen als das Volk haben (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG). Unverzichtbar für ein demokratisches System sind danach die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbindung und die Rückbindung der Ausübung aller Staatsgewalt an das Volk.[27]

Nach der Rechtsprechung des BVerfG bedeutet die Ablehnung des Parlamentarismus an sich noch keine Missachtung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, sofern sie mit der Forderung nach der Ersetzung durch ein plebiszitäres System verbunden ist.[28] Dementsprechend können Forderungen nach der Ablösung der im Grundgesetz vorgesehenen parlamentarisch-repräsentativen Demokratie mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar sein, sofern Alternativen aufgezeigt werden, die einen ununterbrochenen Legitimationszusammenhang zwischen dem Volk und den mit der Ausübung staatlicher Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern garantieren. Die Staatsgewalt darf aber niemals als Werkzeug zur Perpetuierung der Herrschaft einer bestimmten Mehrheit dienen.[29]

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Kritik an der Regierung nicht gegen das Demokratieprinzip verstößt. Des Weiteren ist es auch ohne jede Verfassungsschutzrelevanz, wenn eine Partei eine grundlegende Veränderung der politischen Verhältnisse und der Ausrichtung der Sachpolitik anstrebt, etwa indem sie bestehende Parteien grundlegend kritisiert, deren Auffassungen als vollkommen überholt und schädlich darstellt und diese in Wahlen zu verdrängen sucht. Auch sind Fragen nach notwendigen Veränderungen der aktuellen konkreten Ausgestaltung des demokratischen Entscheidungsprozesses legitim. Den Rahmen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verlässt eine Partei aber dann, wenn sie den Parlamentarismus und die aktuellen politischen Verhältnisse verächtlich macht, ohne aufzuzeigen, auf welchem Weg sie sonst dem Grundsatz der Volkssouveränität Rechnung tragen und die Offenheit des politischen Willensbildungsprozesses gewährleisten will.[30]

Anhaltspunkte für einen derartigen Verstoß gegen das Demokratieprinzip durch nicht sachbezogene Verächtlichmachungen können sich insbesondere aus gehäuften Beschimpfungen, Verdächtigungen, Verleumdungen und Verunglimpfungen des Staates und seiner Repräsentanten ergeben, bei denen es nicht mehr um Kritik und Auseinandersetzung geht‚ sondern darum, das Vertrauen der Bevölkerung in die verfassungsmäßige Ordnung von Grund auf zu erschüttern, damit ihr die freiheitliche demokratische Grundordnung als Ganzes fragwürdig erscheine.[31]

2.1.3 Rechtsstaatsprinzip

Das Rechtsstaatsprinzip zielt auf die Bindung und Begrenzung öffentlicher Gewalt zum Schutz individueller Freiheit. Es ist ebenso wie das Demokratieprinzip durch eine Vielzahl einzelner Elemente geprägt. Das BVerfG hat im NPD-Verbotsverfahren verdeutlicht, dass von den Elementen des Rechtsstaatsprinzips die Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt (Art. 20 Abs. 3 GG) und die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte sowie die Beibehaltung des Gewaltmonopols des Staates bestimmend für die freiheitliche demokratische Grundordnung sind.[32]

Die Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt umfasst dabei die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung sowie die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Die Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung hat zunächst normenhierarchische Wirkung, da hiermit der Vorrang der Verfassung vor dem (einfachen) Gesetz statuiert wird (Art. 20 Abs. 3 GG). Die Bindung der Exekutive an das Gesetz bezieht sich auf alle Handlungsformen der Verwaltung. Sie beinhaltet eine unabhängigkeitssichernde Schutzfunktion und hat zudem legitimationstiftende Bedeutung für das Verwaltungshandeln. Hinzu kommt der sogenannte Vorbehalt des Gesetzes, wonach das Handeln der vollziehenden Gewalt – insbesondere bei Eingriffen in Rechte der Bürgerinnen und Bürger – einer parlamentsgesetzlichen Grundlage bedarf.

Nach dem sogenannten Gewaltmonopol des Staates ist die Anwendung physischer Gewalt staatlichen Organen vorbehalten, die an Gesetze gebunden sind und einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Dem Einzelnen steht insoweit kein Selbsthilferecht zu.

Das Element der gerichtlichen Kontrolle wird durch die im Rechtsstaatsprinzip verankerte Justizgewährung verkörpert. Diese beinhaltet zugleich die staatliche Pflicht zur Gewährung wirksamen Rechtsschutzes durch Gerichte und den individuellen Anspruch des Einzelnen auf effektiven Rechtsschutz. Die Justizgewährung bildet die Kehrseite zum Gewaltmonopol des Staates.

2.1.4 Positionierung zum Nationalsozialismus

Fühlt sich eine Partei mit den zentralen Prinzipien des Nationalsozialismus verbunden, kann hieraus etwa mit Blick auf das Führerprinzip, den ethnischen Volksbegriff sowie rassistische und antisemitische Haltungen ein Verstoß gegen die Menschenwürde und das Demokratieprinzip in Form der politischen Freiheit und Gleichheit resultieren. Eine mögliche Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus ist daher bei der Prüfung der einzelnen Tatbestandsmerkmale der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu berücksichtigen.[33] Einschlägige Verbindungen liegen eindeutig vor, wenn der historische Nationalsozialismus im Ganzen oder zumindest einzelne ideologische Fragmente befürwortet werden. Auch die Relativierung des nationalsozialistischen Unrechts oder Kritik an der zentralen Rolle des nationalsozialistischen Unrechts in der deutschen Erinnerungskultur kann als Verstoß gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gewertet werden, sofern dies mit einer Befürwortung nationalsozialistischer Ziele einhergeht.

2.2 Feindliche Ausrichtung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung

Die Annahme verfassungsfeindlicher Bestrebungen setzt gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 lit. c BVerfSchG weiter voraus, dass sie darauf gerichtet sind, die beschriebenen Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen.

Dies erfordert zunächst, dass der Personenzusammenschluss die Verfassungsgrundsätze nicht nur passiv ablehnt und kritisiert, sondern auf ihre Beeinträchtigung mit äußerlich feststellbaren Aktivitäten – wie z. B. der Schulung und Mobilisierung eigener Mitglieder, öffentlichen Auftritten oder der Teilnahme an Wahlen – hinwirkt. Politisch bestimmt sind diese Aktivitäten, wenn sie auch objektiv geeignet sind, politische Wirkungen zu entfalten, also die für das Gemeinwesen als solches geltenden verbindlichen Regeln zu verändern. Ziel- und zielgerichtet sind die fraglichen Aktivitäten schließlich, wenn sie mit einer gewissen Ernsthaftigkeit, Dauerhaftigkeit und Zielstrebigkeit ausgeführt werden.

Dementsprechend genügt für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz nicht, dass der fragliche Personenzusammenschluss bzw. seine Mitglieder Beeinträchtigungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nur in Kauf nehmen.[34] Insbesondere kann die bloße innere Übereinstimmung oder Sympathie mit den Zielen einer anderen verfassungsfeindlichen Organisation eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz nicht rechtfertigen. Eine Beobachtung kommt erst in Betracht, wenn der Personenzusammenschluss bzw. die für ihn verantwortlich Handelnden selbst auf die Beeinträchtigung des Schutzgutes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hinarbeiten.

Unerheblich ist aber, ob die Beseitigung oder die Außer-Kraft-Setzung des Schutzgutes das politische Haupt- oder Endziel des Personenzusammenschlusses sind. Es genügt, dass sie ein maßgeblicher Zweck sind, den der Personenzusammenschluss und die für ihn verantwortlich Handelnden ggf. nur neben anderen politischen Zielen verfolgen.[35]

Unerheblich ist zudem, ob es möglich erscheint, dass die fraglichen Aktivitäten in absehbarer Zeit zu einer Beseitigung oder Außer-Kraft-Setzung eines Elementes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung führen könnten. Auch Aktivitäten, die auf eher utopisch wirkende Ziele gerichtet sind, die nach menschlichem Ermessen nicht in absehbarer Zukunft verwirklicht werden, dürfen und müssen vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Es genügt, dass die Aktivitäten zu einer Einwirkung auf das Schutzgut potenziell tauglich erscheinen.[36]

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des BVerfG im Verbotsverfahren gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD). Nach diesem Urteil hängt zwar die Zulässigkeit eines Parteiverbots davon ab, dass die verfassungsfeindlichen Aktivitäten einer Partei „Potenzialität“, also eine gewisse Aussicht auf Erfolg, haben. Diese Ausführungen beziehen sich aber nur auf das Parteiverbot und nicht auch auf sonstige Eingriffe in die Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 und 2 GG, wie etwa die Beobachtung durch den Verfassungsschutz.[37]

Des Weiteren kommt es auch nicht darauf an, ob der Personenzusammenschluss gewalttätige oder in sonstiger Weise illegale Aktivitäten entfaltet. Der Verfassungsschutz darf und muss auch Bestrebungen beobachten, die mit legalen Mitteln auf die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hinarbeiten.[38]

Schließlich ist auch nicht erforderlich, dass die fraglichen Aktivitäten die Schwelle zum Aggressiv-Kämpferischen überschreiten. Das Vorliegen aggressiv-kämpferischer Verhaltensweisen ist nach der Rechtsprechung des BVerfG zwar Voraussetzung für ein Parteiverbot und ggf. für die Beobachtung eines Abgeordneten.[39] Im Übrigen ergeben sich aus dem Gesetz und der Rechtsprechung des BVerfG aber keine Vorgaben, die den Auftrag des Verfassungsschutzes auf aggressiv-kämpferische Aktivitäten beschränken würden.

Im Ergebnis ist damit bei Parteien und ihren Teilorganisationen insbesondere zu prüfen, ob tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie sich eine Ablehnung von Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu eigen (gemacht) und zum Bestimmungsgrund ihres politischen Handelns gemacht haben. Die weiteren gesetzlichen Voraussetzungen für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz, nämlich die Entfaltung aktiver, politisch bestimmter, ziel- und zweckgerichteter Verhaltensweisen, dürften bei ihnen hingegen in aller Regel zu bejahen sein. Charakteristisches Ziel von Parteien und damit auch ihrer Teilorganisationen ist gerade die Einflussnahme auf die politische Willensbildung (§ 2 Abs. 1 PartG).

3. Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen

Für eine Bearbeitung als Verdachtsfall müssen zunächst gemäß § 4 Abs. 1 S. 3 BVerfSchG „tatsächliche Anhaltspunkte“ für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen. Dies erfordert nicht, dass schon sicher feststeht, dass der Personenzusammenschluss verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt. Es muss sich nicht um eine „erwiesene extremistische Bestrebung“ handeln; insofern muss keine Gewissheit vorliegen. Die tatsächlichen Anhaltspunkte müssen weniger konkret sein als „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ i. S. d. § 152 Abs. 2 StPO, die zur Einleitung eines strafprozessualen Ermittlungsverfahrens erforderlich sind. Vielmehr ist das Bundesamt für Verfassungsschutz zur Beobachtung eines Personenzusammenschlusses befugt und verpflichtet, sobald aufgrund empirisch beobachtbarer, konkreter Tatsachen vernünftigerweise zu befürchten ist, dass dieser verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt.[40]

Von einem solchen vernünftigen Verdacht ist insbesondere dann auszugehen, wenn es sich bei den festgestellten Tatsachen um Meinungsäußerungen und sonstige Verhaltensweisen handelt, die der Partei zurechenbar sind, wenn in diesen Tatsachen außerdem zum Ausdruck kommt, dass der Handelnde Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung inhaltlich ablehnt und dies auch zum Bestimmungsgrund seines politischen Handelns in der Partei macht und solche Tatsachen schließlich in hinreichender Zahl und von hinreichendem Gewicht vorliegen.

3.1 Meinungsäußerungen und sonstige Verhaltensweisen als tatsächliche Anhaltspunkte

Tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen innerhalb einer Partei könnten aufgrund von zurechenbaren Meinungsäußerungen und sonstigen Verhaltensweisen vorliegen.

Einer Partei sind zunächst ihre Satzung und andere, in einem formellen Verfahren beschlossene Dokumente, wie z. B. Wahlprogramme und Parteitagsbeschlüsse, ohne weiteres zuzurechnen.[41] Gleiches gilt für offizielle Stellungnahmen der leitenden Funktionäre und Mandatsträger sowie für die Verlautbarungen offizieller Publikationsorgane, wie z. B. Schulungs- und Propagandamaterial, Zeitungen, Zeitschriften, Flugblätter, Broschüren, Plakate und Internetauftritte. Sie alle lassen sich auf einen formellen Willensbildungsprozess innerhalb des fraglichen Personenzusammenschlusses zurückführen.

Verlautbarungen, Erklärungen und sonstige politische Aktivitäten der maßgeblichen Funktionäre der Partei sind dieser zuzurechnen. Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen von maßgeblichen Funktionären können eine Beobachtung auch dann rechtfertigen, wenn sie nicht von den satzungsmäßigen oder sonstigen, in formellen Verfahren beschlossenen Zielen der Partei gedeckt werden.[42] Ein Personenzusammenschluss kann einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz nicht dadurch entgehen, dass er sich in seinen offiziellen Dokumenten formal zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt und auf das Propagieren verfassungsfeindlicher Ziele verzichtet, wenn seine Mitglieder eben doch die Ablehnung eines Elements der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Bestimmungsgrund ihres politischen Handelns machen. Im Ergebnis ist festzustellen, dass jedenfalls die auf formellen Willensbildungsprozessen beruhenden Dokumente und die politischen Äußerungen und politischen Verhaltensweisen der maßgeblichen Funktionäre der Partei zugerechnet werden können und daher als Tatsachenbasis zu berücksichtigen sind.

Daneben sind der Partei aber auch sonstige Äußerungen und Verhaltensweisen von Mitgliedern und Anhängen grundsätzlich zuzurechnen,[43] wenn diese Ausdruck einer der gesamten Partei zuzurechnenden Grundtendenz sind.[44] Ausnahmen gelten für die Äußerungen und Verhaltensweisen einfacher Mitglieder und Anhänger, insbesondere wenn diese nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit Veranstaltungen oder Aktivitäten der Partei stehen. Liegt ein derartiger Zusammenhang nicht vor, kann die Äußerung oder Handlung eines einfachen Parteimitglieds nur zugerechnet werden, wenn sie von der Partei trotz Kenntnis geduldet oder gar unterstützt wird, obwohl Gegenmaßnahmen möglich sind.[45]

Ebenso sind Anhaltspunkte aus anderen Personenzusammenschlüssen mit in die Gesamtschau einzubeziehen, mit denen sich der betroffene Personenzusammenschluss identifiziert oder mit denen er sympathisiert.[46] Eine förmliche Zusammengehörigkeit ist für eine wechselseitige Zurechnung dabei nicht erforderlich, da grundsätzlich eine enge faktische Verflechtung ausreicht.[47] Daher sind auch Verlautbarungen, Erklärungen und sonstige politische Aktivitäten einer satzungsmäßig anerkannten Jugendorganisation – wie im Falle der AfD die Junge Alternative für Deutschland – der Partei zuzurechnen.

Die handlungsorientierte Ablehnung von Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung kann sowohl in Form von politischen Forderungen und sonstigen Meinungsäußerungen bekundet werden als auch in sonstigen Verhaltensweisen, insbesondere in der Verbindung zu anderen extremistischen Organisationen, zum Ausdruck kommen.

Politische Forderungen und sonstige Meinungsäußerungen können eine handlungsorientierte Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung darstellen, wenn der Erlass von Gesetzen oder die Ergreifung von behördlichen Maßnahmen gefordert werden, die gegen einen Grundsatz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstoßen, also z. B. den Menschenwürdegehalt eines Grundrechts verletzen. Bei Äußerungen innerhalb einer Partei oder einer Teilorganisation ist davon aber auch auszugehen, wenn nur allgemeinere Theorien und Konzepte beschrieben werden, die mit den grundsätzlichen Wertungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar sind, ohne dass konkrete Maßnahmen gefordert werden. Beispiel dafür wäre etwa das Propagieren eines rassistischen Weltbildes. Bei Äußerungen innerhalb einer Partei oder einer Teilorganisation einer Partei liegt es regelmäßig auf der Hand, dass die beschriebenen Theorien und Konzepte auch in politisches Handeln umgesetzt werden sollen.

Auch auf den ersten Blick mehrdeutige Äußerungen, die aber durch die Berücksichtigung des Kontexts, in dem sie getätigt wurden, und durch die Einbeziehung nachrichtendienstlichen Hintergrundwissens über den in Rede stehenden Phänomenbereich eindeutig ausgelegt werden können, sind verwendbar, wann sich die im Subtext verdeckt enthaltene zusätzliche Aussage dem angesprochenen Publikum als „unabweisbare Schlussfolgerung“ aufdrängt.[48] Der Verfassungsschutz ist nicht gehalten, extremistische Äußerungen gegen jede Logik als noch verfassungskonform auszulegen.[49] Er muss auch nicht alle nach dem abstrakten Wortlaut einer Äußerung theoretisch denkbaren Deutungsmöglichkeiten berücksichtigen. Vielmehr darf er darauf abstellen, wie die konkreten Adressaten in dem jeweiligen Personenzusammenschluss eine Äußerung vernünftiger Weise verstehen dürfen. Vor allem sind besondere Terminologien, Signalwörter und Vorverständnisse des jeweiligen Phänomenbereichs zu berücksichtigen. Des Weiteren sind auch vorherige Positionierungen des jeweiligen Sprechers zu berücksichtigen, an die eine Äußerung sich anschließt.

Daneben können mehrdeutige Äußerungen neben eindeutigen Äußerungen als zusätzliche tatsächliche Anhaltspunkte zur Verdichtung des Verdachts herangezogen werden. Insofern geht die Rechtsprechung davon aus, dass strafrechtliche und zivilrechtliche Sanktionen nicht nur auf zweideutige Äußerungen gestützt werden dürfen. Soweit es um Maßnahmen der Gefahrenaufklärung geht, sei eine Gesamtschau anzustellen. Ein Verdacht könne sich auch aus der Gesamtschau von für sich genommen unverdächtigen Tatsachen ergeben.[50]

Neben Meinungsäußerungen können auch das Verlinken oder Teilen von Beiträgen tatsächliche Anhaltspunkte darstellen, wenn die geteilten bzw. verlinkten Beiträge ihrerseits Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen enthalten. Dies gilt insbesondere dann, wenn im Teilen bzw. der Verlinkung eine Solidarisierung oder Identifizierung mit dem entsprechenden Inhalt zum Ausdruck kommt. Dabei kommt es darauf an, ob ein durchschnittlicher Empfänger, der die Positionen des Teilenden kennt, von einer inhaltlichen Identifizierung bzw. zustimmenden Leseempfehlung mit dem geteilten Beitrag ausgehen würde.[51] Fügt sich der geteilte Beitrag in die inhaltlichen Positionen des Teilenden ein, und liegt keine ausdrückliche oder sich aus dem Kontext ergebene Missbilligung oder Distanzierung vor,[52] kann in der Regel von einem Zu-eigen-Machen im verfassungsschutzrechtlichen Sinne ausgegangen werden. Daneben kann das Teilen bzw. die Verlinkung von Beiträgen jedoch auch ohne ein entsprechendes konkretes Zu-eigen-Machen einen Anhaltspunkt darstellen, da auch in der Weiterverbreitung entsprechender Inhalte eine objektive Unterstützungshandlung zu sehen ist.[53]

Daneben sind auch Verhaltensweisen und Äußerungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Partei, die keine Mitglieder sind, zuzurechnen. Das Gesetz bestimmt in § 4 Abs. 1 lit. c BVerfSchG Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung als bestimmte Verhaltensweisen in, aber eben auch für einen Personenzusammenschluss. Gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 BVerfSchG handelt für einen Personenzusammenschluss, wer ihn in seinen Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Als tatbestandliches Unterstützen ist jede Tätigkeit anzusehen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeiten des Personenzusammenschlusses auswirkt.[54] Dazu zählen Tätigkeiten, die die innere Organisation und den Zusammenhalt des Personenzusammenschlusses, seinen Fortbestand oder die Verwirklichung seiner Bestrebung fördern und damit seine potenzielle Gefährlichkeit festigen und sein Gefährdungspotenzial stärken.[55]

3.2 Verfassungsfeindliche Gruppierungen innerhalb eines inhomogenen Personenzusammenschlusses als tatsächliche Anhaltspunkte

Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen einer Partei sind nicht nur dann gegeben, wenn diese in ihrer Gesamtheit solche Bestrebungen entfaltetet, sondern können auch bestehen, wenn eindeutig verfassungsfeindliche Bestrebungen nur bei einzelnen Gruppierungen innerhalb des Personenzusammenschlusses bestehen.[56] Neben dem Vorliegen einer eindeutig verfassungsfeindlichen Gruppierung innerhalb der Partei ist hierbei nach der Rechtsprechung des BVerwG erforderlich, dass die Gruppierung einen nennenswerten Einfluss innerhalb der Partei innehat.[57] Anhaltspunkte für die Bewertung eines nennenswerten Einflusses können danach unter anderem die programmatische und personelle Beschlusslage innerhalb der Partei, die personelle Vertretung in den Organen, die Möglichkeit tatsächlicher Einflussnahme in den Gremien sowie das verfassungsfeindliche Personenpotenzial auch in bereits als extremistisch eingestuften Organisationen der Partei und der Umgang mit innerparteilichen Gegnern oder Parteiausschlussverfahren sein. Gerade die innere Zerrissenheit einer Partei, Flügelkämpfe und eine Annäherung an extremistische Gruppierungen können eine Beobachtung erfordern, da nur so festzustellen ist, in welche Richtung sich diese letztlich bewegt, und weil nur so Regierung, Parlament und Öffentlichkeit über den Fortgang der weiteren, noch nicht abgeschlossenen Entwicklung sachkundig und angemessen unterrichtet werden können.[58]

Insbesondere können eindeutig verfassungsfeindliche Bestrebungen einzelner Gruppierungen innerhalb eines Personenzusammenschlusses Anhaltspunkte dafür liefern, in welche Richtung dieser sich entwickeln kann. Das erfordert die Beobachtung des Personenzusammenschlusses insgesamt, nicht nur der einzelnen Gruppierung darin, selbst wenn diese auch für sich Personenzusammenschlüsse i. S. d. § 4 Abs. 1 S. 1 BVerfSchG darstellen.[59] Dabei ist bei einer vernünftigen Betrachtung aller vorhandenen tatsächlichen Anhaltspunkte im Rahmen einer Gesamtbetrachtung die Gesamtpartei als Bezugspunkt nicht aus den Augen zu verlieren, sondern stets danach zu fragen, inwieweit die verfassungsfeindlichen Bestrebungen innerhalb einzelner Gruppierungen für die künftige Entwicklung der Gesamtpartei von Bedeutung sein können.

3.3 Aufgrund von Überschneidungen mit anderen Organisationen

Tatsächliche Anhaltspunkte für eine handlungsorientierte Ablehnung von Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung können schließlich auch in Überschneidungen mit anderen vom Verfassungsschutz zu beobachtenden Organisationen zum Ausdruck kommen.[60] Allein aus dem Umstand, dass Mitglieder und Funktionäre eines Personenzusammenschlusses, der sich grundsätzlich zu einem Abgrenzungsbeschluss bekennt, dennoch eine deutliche Nähe zu extremistischen Organisationen aufweisen, ergeben sich dabei zwar noch keine hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Verfassungsfeindlichkeit.[61] Von erheblicher Bedeutung sind aber Verbindungen zu erwiesenen verfassungsfeindlichen Bestrebungen, die über bloße Überschneidungen in der Mitgliedschaft hinausgehen und auch strukturelle Verbindungen beinhalten, wie z. B. personelle Überschneidungen auf der Vorstandsebene, die Herausgabe gemeinsamer Erklärungen oder eine grundsätzliche inhaltlich-programmatische und faktisch-konzeptionelle Anlehnung an die andere Organisation.[62]

Kontakte zu Personen und Organisationen, die kein Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes sind, spielen im Rahmen der rechtlichen Prüfung keine Rolle.

4. Hinreichende Gewichtung und Anzahl an Anhaltspunkten

Für eine Bearbeitung der AfD als Verdachtsfall müssen die verfassungsschutzrelevanten tatsächlichen Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht sein und in hinreichender Zahl vorliegen. Das hinreichende Maß darf dabei einerseits mit Blick auf die Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 und 2 GG bzw. die Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 GG und die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG des betroffenen Personenzusammenschlusses und seiner Mitglieder nicht zu niedrig angesetzt werden. Andererseits sind aber auch die besonders hohe Wertigkeit des Rechtsgutes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die grundgesetzliche und gesetzgeberische Konzeption des Verfassungsschutzes als Frühwarnsystem zu berücksichtigen.

Daher können einzelne Anhaltspunkte auf verfassungsfeindliche Bestrebungen eine Bearbeitung als Verdachtsfell nicht rechtfertigen. Es dürfen also nicht bloß einzelne Entgleisungen von Funktionsträgern oder Mitgliedern vorliegen. Dass einzelne verfassungsschutzrelevante Tatsachen eine Beobachtung nicht rechtfertigen können, bedeutet aber nicht, dass eine quantitative Betrachtung anzustellen wäre, also dass etwa die Zahl der verfassungsschutzrelevanten Tatsachen in ein Verhältnis zu den nicht verfassungsschutzrelevanten Äußerungen zu setzen wäre.[63] Die Beobachtung eines Personenzusammenschlusses kann auch dann gerechtfertigt sein, wenn nur für einen Teilbereich seiner Zielsetzungen, Verlautbarungen und Aktivitäten tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Es genügt, dass der Personenzusammenschluss verdächtig ist, dass einer seiner maßgeblichen Zwecke sich gegen ein Element der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richtet.

Dementsprechend kann einer Beobachtung auch nicht entgegengehalten werden, dass neben den verfassungsschutzrelevanten Tatsachen auch noch eine Vielzahl von Äußerungen vorliegen, die der freiheitlichen demokratischen Grundordnung neutral oder gar positiv gegenüberstehen.

Insbesondere dürfen und müssen die Verfassungsschutzbehörden auch schon im Vorfeld einer polizeilich relevanten, konkreten Gefahr oder eines strafprozessualen Anfangsverdachts i. S. d. § 152 StPO tätig werden.[64] Aus § 4 Abs. 1 S. 3 BVerfSchG folgt auch, dass im Hinblick auf die verfassungsfeindliche Bestrebung keine feste Gewissheit notwendig ist. Vielmehr genügen auf Tatsachen gestützte Anhaltspunkte, die bei vernünftiger Betrachtung einen Verdacht für verfassungsfeindliche Bestrebungen begründen und die deshalb eine weitere Klärung erforderlich erscheinen lassen.[65]

II. Rechtsfolgen 1. Einstufung als Beobachtungsobjekt

Wenn tatsächliche Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht und in hinreichender Zahl vorliegen, ist der Verfassungsschutz zur Beobachtung der verfassungsfeindlichen Bestrebung verpflichtet.[66] Folglich hat das Bundesamt für Verfassungsschutz nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 6 Abs. 5 BVerfSchG) zu entscheiden, mit welchen – insbesondere nachrichtendienstlichen – Mitteln bzw. mit welcher Intensität es die Partei beobachtet.

2. Prüffallbearbeitung

Sofern noch nicht hinreichend verdichtete tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorliegen, liegt weiterhin eine Prüffallbearbeitung vor, die unter Zugrundelegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf das zeitlich notwendige Maß zu beschränken ist. Die Prüfphase der Verdachtserhärtung dient dem Zweck, auf der Grundlage offen zugänglicher Informationen die Voraussetzungen für die planmäßige nachrichtendienstliche Beobachtung verifizieren zu können. Danach ist der Prüffall in der Regel entweder durch Einstufung als Beobachtungsobjekt (Verdachtsfall bzw. erwiesen extremistische Bestrebung) oder durch Einstellung abzuschließen. Im begründeten Einzelfall kann unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch eine darüber hinausgehende Prüffallbearbeitung angezeigt sein.

D. Struktur und Entwicklung der Partei I. Aufbau und Struktur der Partei

Im Folgenden werden Aufbau, Struktur und Gremien der Partei vorgestellt, wobei sich die Ausführungen auf die relevantesten Organe beschränken.

Die Alternative für Deutschland gliedert sich gegenwärtig in einen Bundesverband und 16 Landesverbände sowie eine Vielzahl von Bezirks-, Kreis- und Stadtverbände. In diesen Strukturen sind die ungefähr 32.000 Mitglieder der Partei organisiert.[67] Die Landesverbände verfügen über eine Satzungs-, Finanz- und Personalautonomie.

Die konkrete innere Verfasstheit der AfD ist in der Bundessatzung vom 29. November 2015 niedergelegt.[68] Dieser zufolge ist das oberste Organ der Partei der Bundesparteitag, der mindestens einmal jährlich stattfindet. Einzuberufen ist er, wenn der Bundesvorstand dies beschließt, eine Mehrheitsentscheidung des Konvents oder mindestens sechs Landesvorstände dies fordern. Er besteht aus 600 Delegierten der Landesverbände und denjenigen Mitgliedern des Bundesvorstands, die nicht gewählte Delegierte sind. Der Bundesparteitag ist befugt, jegliche Entscheidungskompetenz an sich zu ziehen und dem Bundesvorstand und dem Konvent Weisungen zu erteilen. Darüber hinaus beschließt er über das Parteiprogramm, die Bundessatzung, die Auflösung des Bundesverbandes und einzelner Landesverbände sowie die Verschmelzung mit anderen Parteien.

Ein weiteres wichtiges Gremium ist der Bundeskonvent, der für alle politischen und organisatorischen Fragen der AfD zuständig ist. Er besteht aus 50 Vertretern und Vertreterinnen der Landesverbände, dem Bundesschatzmeister und vier weiteren vom Bundesvorsand aus seiner Mitte zu wählenden Mitgliedern. Vorsitzender der Mitglieder des Bundesvorstands im Konvent ist der Landtagsabgeordnete, Bundesschatzmeister und Mitarbeiter von Martin Hebner (MdB), Carsten Hütter (SN), sein Stellvertreter ist der Beisitzer im Bundesvorstand Jochen Haug (MdB). Die Vertreter der Landesverbände im Konvent werden von der Vorsitzenden Edeltraud Schwarz (BY) und ihrem Stellvertreter Peter Bohnhof (NW, Sprecher im Bezirksverband Arnsberg und im Kreisverband Dortmund) repräsentiert.[69]

Die operative Leitung der Partei obliegt dem Bundesvorstand. Er führt die Geschäfte auf Grundlage der Beschlüsse des Bundesparteitags und des Konvents. Ihm gehören zwei oder drei Bundessprecher bzw. Bundessprecherinnen, drei stellvertretende Bundessprecher bzw. stellvertretende Bundessprecherinnen, der Bundesschatzmeister und sein Stellvertreter bzw. seine Stellvertreterin, ein Schriftführer bzw. eine Schriftführerin sowie sechs weitere Mitglieder an.

Bundessprecher sind seit dem Bundesparteitag vom 30. November und 1. Dezember 2019 in Braunschweig (NI) Jörg Meuthen (MdEP) und Tino Chrupalla (MdB und Vorsitzender des Kreisverbands Görlitz). Ihre Stellvertreterinnen und Stellvertreter sind Alice Weidel (MdB, Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Vorsitzende im AfD-Landesverband Baden-Württemberg und stellv. Vorsitzende im Kreisverband Bodenseekreis), Stephan Brandner (MdB) und Beatrix von Storch (MdB und stellv. Vorsitzende im AfD-Landesverband Berlin). Weiterhin gehören der Bundesschatzmeister Carsten Hütter (MdL, SN) sowie der Bundesschriftführer Joachim Kuhs (MdEP, Sprecher im Kreisverband Baden-Baden/Rastatt, BW) und Mitglied im Bundesvorstand der ChrAfD) und die Beisitzer Sylvia Limmer (MdEP), Jochen Haug (MdB), Stephan Protschka (MdB und Vorsitzender im Bezirksverband Niederbayern, BY), Alexander Wolf (MdHB und stellv. Sprecher im AfD-Landesverband Hamburg) und Joachim Paul (MdL, RP, Beisitzer im AfD-Landesverband Rheinland-Pfalz und 1. stell. Vorsitzender im Kreisverband Koblenz) dem Bundesvorstand an.[70] Der in Braunschweig ursprünglich gewählte Bundesschatzmeister Klaus Fohrmann trat im Januar 2020 von seinem Amt zurück. Sein bisheriger Stellvertreter Carsten Hütter (MdL, SN) wurde auf dem Bundesparteitag in Kalkar (NW) am 28. November 2020 zu seinem Nachfolger gewählt. Neuer stellvertretender Bundesschaltmeister ist Christian Waldheim (SH). Weiterhin schied Andreas Kalbitz (MdL, BB, ehemaliger Vorsitzender im AfD-Landesverband Brandenburg und Landesobmann des „Flügel“ für Brandenburg aufgrund der Annullierung seiner Parteimitgliedschaft aus dem Bundesvorsand aus. Für ihn wurde in Kalkar Joana Cotar (MdB) nachgewählt.[71]

Die Parteischiedsgerichtsbarkeit wird auf Bundesebene vom Bundesschiedsgericht wahrgenommen. Dieses wird vom Bundesparteitag gewählt und besteht aus neun Schiedsrichtern und Schiedsrichterinnen. In seine Zuständigkeit fallen unter anderem Anträge auf Überprüfung von Entscheidungen der Landesschiedsgerichte und Anfechtungen von Wahlen auf Ebene der Bundespartei sowie Anfechtungen sonstiger Beschlüsse von Organen des Bundesverbandes.[72] Derzeit ist Monica-Ines Oppel (BY) Präsidentin des Bundesschiedsgerichts der AfD, Vizepräsident ist Ralf Bommermann (NW, Fraktionsvorsitzender der AfD-Kreistagsfraktion Mettmann und der AfD-Stadtratsfraktion Hilden).[73]

Für die inhaltlich-programmatische Arbeit der Partei zwischen den Parteitagen sind besonders zwei weitere Gremien verantwortlich: Zum einen die Bundesprogrammkommission, die Vorschläge für Partei-, Wahl- und Fachprogramme zu politischen Schwerpunktthemen erarbeiten soll. Sie besteht aus zwei Mitgliedern des Bundesvorstands, einem Vertreter der Landesverbände‚ einem Vertreter der Bundesfachausschüsse und je einem Vertreter der Bundestagsabgeordneten und der Europaabgeordneten der AfD. Vorsitzende sind Albrecht Glaser (MdB) und Ingo Hahn (MdL, BY).[74]

Zum anderen bestehen derzeit 13 Bundesfachausschüsse, die sich jeweils mit konkreten Politikfeldern beschäftigen. Innerhalb der einzelnen Ausschüsse werden jeweils ein Vorsitzender bzw. eine Vorsitzende und eine Vertretung gewählt.[75]

Neben den erwähnten Parteiorganen und Gremien bestehen weiterhin unterschiedliche Vereinigungen und Gruppierungen innerhalb der Partei.

Eine herausragende Stellung nimmt in diesem Kontext die Jugendorganisation Junge Alternative für Deutschland (JA) ein. Die bereits im Juni 2013 gegründete JA ist seit dem AfD-Bundesparteitag in Hannover (NI) im November 2015 nach § 17a der Bundessatzung offizielle Jugendorganisation der AfD. Als eigenständiger Verein verfügt sie über Satzungs-, Programm-, Finanz- und Personalautonomie. Die satzungsgemäßen Rahmenbedingungen sind in § 17a der Bundessatzung der AfD fixiert. Die JA soll sowohl die Anliegen der Jugend innerhalb der Partei vertreten als auch das „Gedankengut der Partei in ihrem Wirkungskreis […] verbreiten“.[76] Nach eigenen Angaben hat die JA derzeit ca. 1.600 Mitglieder, die in nur 15 Landesverbänden organisiert sind, nachdem der niedersächsische Landesverband im November 2018 aufgelöst worden war, laut Presseberichten aufgrund von Verstößen gegen die Bundessatzung und die freiheitliche demokratische Grundordnung.[77]

Dem Bundesvorstand der JA gehören seit Februar 2019 der Vorsitzende Damian Lohr (MdL, RP und Beisitzer im AfD-Landesverband Rheinland-Pfalz)[78] die stellvertretenden Vorsitzenden Dominic Fiedler (NW), Mary Khan-Hohloch (HE, außerdem Besitzerin im Landesvorstand der JA Hessen, kooptiert), Jan Hornuf (BB), Tomasz Froelich (HH), Felix Koschkar (ST) als Bundesschatzmeister, Manuel Wurm (HE) als dessen Stellvertreter, der Bundesschriftführer und Vorsitzende der JA Bayern Sven Kachelmann (BY) sowie Lydia von Wangenheim (BY), Vadim Derksen (BE, Vorsitzender der JA Berlin und Vorstandsmitglied der VAdM) und Christopher Lehmann (ST, stellv. Vorsitzender der JA Sachsen-Anhalt) als Beisitzer an.[79] Die JA wird vom BfV seit Januar 2018 als rechtsextremistischer Verdachtsall bearbeitet.

Über die JA hinaus können nach § 17 der Bundessatzung weitere Vereinigungen innerhalb der Partei anerkannt werden, welche die Interessen der von ihnen repräsentierten Gruppen in der Politik der Partei vertreten. Die Anerkennung erfolgt auf Beschluss des Bundeskonvents.[80]

II. Parteiinterne Gruppierungen und Personenzusammenschlüsse in der AfD 1. Organisationsformen

Innerhalb der AfD existieren verschiedene solcher formellen wie informellen parteiinternen Gruppierungen, die als eigenständige Vereine oder lediglich als lose Personenzusammenschlüsse mit geringerem Organisationsgrad bestehen. Bei den meisten Gruppierungen ist nicht bekannt, ob es sich bei ihnen um solche i.S.d. § 17 Bundessatzung handelt. Formale Voraussetzung für die Genehmigung durch den Bundeskonvent ist das Vorlegen einer Satzung. Weiterhin darf das gemeinsame Merkmal der Mitglieder, welches die Vereinigung definiert, auf Bundessatzung nicht im Zusammenhang mit der Abstammung, Nationalität, sexuellen Orientierung oder dem Geschlecht stehen.

Eine Darstellung der wichtigsten innerparteilichen Gruppierungen ist für die Beurteilung der Gesamtpartei dahingehend relevant, als anhand von ihnen bestimmte Interessengruppen, Themenschwerpunkte und inhaltliche Positionierungen aufgezeigt werden können und damit eine genauere Binnenbetrachtung der Gesamtpartei möglich wird. Im Folgenden sollen daher die wichtigsten von ihnen kurz vorgestellt werden, konkret Christen in der AfD, Juden in der AfD, Alternative Mitte sowie die von der AfD als parteinahe Einrichtung anerkannte Desiderius-Erasmus-Stiftung.

2. Christen in der AfD

Die Bundesvereinigung Christen in der Alternative für Deutschland (ChrAfD) hat sich am 10. Oktober 2013 in Darmstadt (HE) als parteinahe Organisation gegründet.[81] Sie ist aus dem Zusammenschluss des im Sommer 2013 gegründeten Arbeitskreises Christen in der AfD und dem aus Baden-Württemberg stammenden Pforzheimer Kreis hervorgegangen.[82] Der Verein verfügt gegenwärtig über sechs Regionalverbände.[83]

Bundesvorsitzende sind der Europaabgeordnete Joachim Kuhs (BW), Vertreter der evangelischen und freikirchlichen Mitglieder, und der Bundestagsabgeordnete und Unterstützer des „Flügel“ Ulrich Oehme, Vertreter der katholischen und orthodoxen Mitglieder. Weiterhin besteht der Bundesvorstand aus insgesamt zehn Personen, darunter die beiden stellvertretenden Vorsitzenden Michael Adam (BE) und der Bundestagsabgeordnete und kirchenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion sowie beratender Vorstand im Kreisverband Göppingen, Volker Münz.

Die Entwicklung der Bundesvereinigung der Christen in der AfD wurde bereits seit ihrer Gründung von führenden Bundespolitikern unterstützt, z. B. durch Bernd Lucke und Frauke Petry (MdB). Weiterhin ist die Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Bundessprecherin Beatrix von Storch (MdB) Gründungsmitglied der ChrAfD. Neben ihr gehört mit Joachim Kuhs (MdEP) außerdem einer der beiden ChrAfD-Vorsitzenden dem AfD-Bundesvorstand an. Neben einigen Landtagsabgeordneten sind mit Beatrix von Storch, Volker Münz, Waldemar Herdt und Ulrich Oehme also vier Bundestagsabgeordnete Mitglied bei ChrAfD.[84] Diese Beispiele verdeutlichen die starke Repräsentanz und gute Vernetzung von ChrAfD innerhalb der Partei und den unterschiedlichen Fraktionen.

Ziel der Vereinigung ist das Einbringen der nach ihrem Verständnis christlichen Werte in die programmatische Arbeit der AfD. Die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Vereinigung liegen in einer AfD-Parteimitgliedschaft, einem Bekenntnis zum christlichen bzw. apostolischen Glauben sowie der Unterzeichnung der Grundsatzerklärung der Christen in der AfD. Derzeit gehören der Vereinigung nach eigenen Angaben über 300 Mitglieder an (Stand 1. Januar 2020), von denen ca. 35 % der katholischen oder orthodoxen und ca. 65 % der evangelischen oder einer freikirchlichen Konfession zuzurechnen sind.[85] Am 2. Mai 2020 wurde im Rahmen einer Klausurtagung des Vorstands folgender Leitsatz der Bundesvereinigung formuliert:

„Die ChrAfD ist ein wesentlicher Bestandteil der AfD, der die Bedeutung der christlichen Wurzeln für ein Leben in Freiheit und Wohlstand betont und damit die politischen Ziele der AfD prägt. Sie setzt sich auf den Ebenen für einen fairen und würdigen politischen Diskurs ein.“[86]

Die Grundsatzerklärung der Vereinigung spiegelt christlich-konservative Werte wider, die u. a. diverse ethische Grundsatzfragen im Zusammenhang mit politischen Entscheidungen betreffen.[87] Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem Postulat, die Zahl der in Deutschland durchgeführten Abreibungen zu verringern. Des Weiteren tritt die ChrAfD für die Wahrung von traditionellen Familienbildern und klassischen Geschlechterrollen ein. Dabei geht es ihr um eine konservative Definition der Ehe als Bund zwischen Mann und Frau und der Familie als Zusammenschluss von Vater, Mutter und Kind(ern). Die gleichgeschlechtliche Ehe wird entsprechend abgelehnt. Die Christen in der AfD plädieren für die Schaffung von Rahmenbedingungen, die es Eltern in den drei ersten Lebensjahren ihres Kindes ermöglichen sollen, dessen Erziehung frei von den ökonomischen Zwängen einer Erwerbstätigkeit selbst zu übernehmen, und wenden sich gegen die Einführung einer „staatlich gelenkte[n] Kindererziehung“. Einen weiteren Schwerpunkt der Erklärung stellt das Thema Islam dar. Die ChrAfD fordert, die – vermeintliche und tatsächliche – Unterdrückung christlicher Minderheiten in islamischen Ländern bei der perspektivischen Bewertung des Islam in Deutschland einzubeziehen, sollte dieser seinen Einfluss maßgeblich ausweiten. Diesbezüglich müsse eine vorurteilslose Diskussion ohne „Denk- und Sprechverbote“ möglich sein. Die Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Islam würden generell in Deutschland überschätzt.

In anderen Verlautbarungen betont die ChrAfD deutlicher eine angebliche Inkompatibilität des Islam mit einer christlich geprägten Gesellschaft und beschreibt diesen z.T. als expansive ideologische und politische Bedrohung für Deutschland und Europa. Eine Differenzierung zwischen Islam und Islamismus wird dabei nicht durchgehend vorgenommen. So wurde z. B. auf der Facebook-Seite der ChrAfD nach dem islamistischen Attentat in Wien am 2. November 2020 ein Beitrag der AfD NRW geteilt und mit dem folgenden Zitat kommentiert:

„‚Islamismus‘ ist ein westlicher Kunstbegriff um, politisch korrekt, das Problem nicht beim Namen nennen zu müssen. Das Problem ist nämlich auch nicht der ‚Alkoholismus‘- sondern der Alkohol. (TJ Urogallus)“.[88]

Der Bundestagsabgeordnete und erste Sprecher des ChrAfd-Regionalverbandes Nord, Waldemar Herdt, äußerte sich diesbezüglich im Rahmen eines Presseartikels folgendermaßen:

„Der Islam ist gar keine Religion, das ist eine Ideologie. Das müssen Sie mal lesen, da kommen Sie auch selbst drauf. Weil Islam ist eigentlich feindlich eingestellt gegen alle andere Religionen. Wie können wir eine Ideologie schützen, die andere Religionen verachtet und bei der Mehrheit auch vernichtet.[89]

Die Bundesvereinigung, die Regionalverbände und auch einzelne Vertreterinnen und Vertreter der Christen in der AfD sind in den Sozialen Medien aktiv. Besonders ist hierbei der Facebook-Account der Bundesvereinigung mit derzeit ca. 5.700 Likes und gut 6.000 Abonnenten zu erwähnen. Neben den offiziellen Accounts der Bundesvereinigung sind Volker Münz (MdB), Waldemar Herdt (MdB) und insbesondere Klaus Sydow (HE), ebenfalls Mitglied des Bundesvorstands sowie Schatzmeister im Kreisverband Lahn-Dill (HE), auf ihren eigenen Sozialen-Netzwerk-Kanälen sehr aktiv und äußern sich regelmäßig zu den Themenschwerpunkten der ChrAfD.

Anfangs ließen sich Bezüge zwischen ChrAfD und dem „Flügel“ finden. Als Beispiel hierfür kann die im Jahr 2018 stattgefundene Tagung „AfD und Amtskirchen – gemeinsam für ein christliches Abendland“ des Regionalverbandes Nord-Ost der ChrAfD dienen, die gemeinsam mit der AfD-Landtagsfraktion in Brandenburg organisiert wurde. Der damalige Vorsitzende der AfD-Landtagsfraktion, Andreas Kalbitz (MdL, BB), gleichzeitig neben Björn Höcke (MdL, TH‚ Sprecher AfD-Landesverband Thüringen, Vorsitzender im Kreisverband Nordhausen-Eichsfeld-Mühlhausen und Führungsfigur des „Flügel“) die zentrale Führungsfigur des „Flügel“, hob in seiner Eröffnungsrede in Bezug auf die „abendländische Identität“ die christlichen Wurzeln „des kulturellen Erbes Brandenburgs“ hervor. In dem Zusammenhang sprach Kalbitz von einem „Kulturkampf gegen die Islamisierung“.[90] Sowohl der Beitrag von Kalbitz als auch die im Rahmen der Veranstaltung verabschiedete „Potsdamer Erklärung für Christen in der AfD Nordost“ verdeutlichen die Anschlussfähigkeit der inhaltlichen Positionen der ChrAfD an die des inzwischen formal aufgelösten „Flügel“.[91] Im Rahmen des Jahresrückblicks 2019 berichten die Bundessprecher allerdings über einen Entschluss der ChrAfD, zu „Flügel“ und internen AfD-Angelegenheiten keine Stellungnahmen abzugeben. Die Vereinigung hat sich demnach explizit dazu entschlossen, von einer parteiinternen Positionierung abzusehen.[92]

Abschießend lässt sich feststellen, dass sich Themen der Gesamtpartei, die in der Öffentlichkeit intensiv und kontrovers diskutiert werden, auch in den Verlautbarungen der ChrAfD wiederfinden und gesellschaftsfähig gemacht werden sollen. Vor diesem Hintergrund warnt die Vereinigung regelmäßig vor einer vermeintlichen Islamisierung – nicht zuletzt infolge der Migration – als Bedrohung christlicher Werte und damit der „abendländischen Identität“ insgesamt.

Die skizzierte Vernetzung der ChrAfD verdeutlicht deren vielseitige und stabile Einbettung in die Gesamtpartei.

3. Juden in der AfD

Der in Berlin eingetragene Verein Juden in der Alternative für Deutschland (JAfD) wurde am 7. Oktober 2018 von insgesamt 24 AfD-Mitgliedern in Wiesbaden (HE) gegründet. Nach eigener Darstellung der Gruppierung blieb die Mitgliederzahl bei einigen Aus- und Neueintritten im ersten Jahr in der Summe konstant bei 24 Personen.[93] Rund ein Drittel der Mitglieder stammt nach Angaben der JAfD aus der ehemaligen Sowjetunion.[94] Bei der Mitgliedschaft wird zwischen Mitgliedern und Fördermitgliedern unterschieden. Der Internetpräsenz der JAfD ist zu entnehmen, dass „ein Anrecht auf Mitgliedschaft“ eine „Zugehörigkeit zum Judentum“ und „eine Mitgliedschaft in der AfD“ voraussetzt.[95] Während der größte Teil der Fördermitgliedschaften auf nichtjüdische AfD-Mitglieder zurückgeht, sind auch Juden unter den Fördermitgliedern, die nicht Mitglied der AfD sind.[96]

Der Vorstand unter dem Vorsitz von Vera Kosova (BW) besteht aus insgesamt sieben Personen. Stellvertretender sind Wolfgang Fuhl (BW, Sprecher im Kreisverband Lörrach) und Artur Abramovych (BY, Schatzmeister der JA Bayern).

Vera Kosova charakterisierte den Verein in einem Interview folgendermaßen:

„Wir sind ein politischer Verein, parteinah, aber unabhängig. Die Fokussierung auf eine Gruppe wie die Juden hilft, die Partei weiter zu professionalisieren. Wir erarbeiten judenspezifische Themen, gewinnen dabei Expertise und werden zu Ansprechpartnern bei entsprechenden Fragen.“[97]

Der Verein hat in seiner Grundsatzerklärung[98] zwei Argumente definiert, welche in der Notwendigkeit der Gründung einer Interessenvertretung von Juden in der AfD mündeten.

Zum einen wird eine „unkontrollierte Masseneinwanderung junger Männer aus dem islamischen Kulturkreis“[99] genannt, wodurch es zu einem „starken Anstieg des muslimischen Bevölkerungsanteils“ mit einer „antisemitischen Sozialisation“ komme. Zum anderen gehe die Erosion der kulturellen Identität einher mit der „Zerstörung der traditionellen, monogamen Familie“ durch „Gender-Mainstreaming und Frühsexualisierung“[99]

Mit dem Ziel, den genannten Entwicklungen entgegenzuwirken, versteht sich der Verein laut dem stellvertretenden Vorsitzenden Wollgang Fuhl (BW), der ehemals dem Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland angehörte, als eine „von staatlichen Geldern unabhängige Interessenvertretung von Juden“[100]

Die Grundsatzerklärung fußt auf insgesamt vier zusammenhängenden Säulen.[101] Zum einen wird im vermeintlichen Sinne eines jüdischen Lebens in Deutschland ein islamfeindliches Bild skizziert und der mit einer unbegrenzten Einwanderung angeblich einhergehende islamische Antisemitismus als primäre Gefahr jüdischen Lebens in Deutschland dargestellt. Ähnlich wie in der Grundsatzerklärung der ChrAfD wird der Islam als Ideologie und nicht als Religion charakterisiert. Teil dieses politischen Islam sei auch immer eine antisemitische Sozialisation. In der Grundsatzerklärung hieß es dazu:

„Zugleich sind wir davon überzeugt, dass die AfD die einzige Partei der Bundesrepublik ist, die sowohl eine redliche Ideologiekritik beitreibt, welche die Unvereinbarkeit islamischer Dogmata mit dem Grundgesetz nicht zu verschleiern versucht, als auch in diesem Rahmen muslimischen Judenhass thematisiert, ohne diesen zu verharmlosen, zumal er unstrittig und untrennbar schon mit der Entstehung des Islam verbunden ist.“[102]

Zum Verhältnis zwischen Tradition und Zukunft äußerte die JAfD in ihrer Grundsatzerklärung:

„Wir glauben, als Juden nur dann eine Zukunft in Deutschland zu haben, wenn eine Wiedererweckung dieses geschichtsvergessenen und seinen eigenen Traditionen entfremdeten Abendlands gelingt, und setzen uns daher für dieses Gelingen ein.[103]

In einem weiteren Punkt der Grundsatzerklärung strebt die JAfD im Einklang mit den Zielen der Gesamtpartei an, der „sukzessive durch Gender-Mainstreaming und Frühsexualisierung betriebenen Zerstörung der traditionellen, monogamen Familie“ entgegenzuwirken. Dieser Aspekt ist – ähnlich wie die Islamkritik – nahezu identisch mit der programmatischen Ausrichtung der Christen in der AfD.[104]

Stellvertretend für die Vereinigung äußert sich die Vorsitzende Vera Kosova (BW) regelmäßig gegenüber den Medien zu diversen Vorwürfen gegen die AfD, u. a. auch zum Antisemitismus. Sie konzedierte, im Hinblick auf Antisemitismus gebe es „problematische Personen“ in der AfD, doch erfolge eine „kritische Auseinandersetzung“ mit diesen Personen in der Partei.[105] Die JAfD-Vorsitzende bemüht sich in Stellungnahmen gegenüber der Presse – auch taktisch bedingt zur Entlastung der Partei – um eine stärkere Differenzierung bei den Themenfeldern Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, als dies bei Verlautbarungen der JAfD selbst zu erkennen ist, die als Gruppierung eine schroffe Dichotomie zwischen Islam und westlicher Gesellschaft postuliert.

In den Sozialen Medien ist die JAfD zweifach vertreten. Bei Facebook weist der am 4. Oktober 2018 eröffnete Account[106] der Vereinigung ca. 12.000 Likes auf, 12.700 Personen haben diese Seite abonniert. Vonseiten der Administratoren werden mehrmals wöchentlich eigene Beiträge erstellt und Beiträge geteilt. Einzelne Beiträge weisen bis zu 500 Reaktionen (Likes oder ähnliches) auf und die Anzahl der Kommentare reicht in Einzelfällen bis in den niedrigen dreistelligen Bereich. Demnach hat der Account im Verhältnis zu der personell eher kleinen Vereinigung eine große Reichweite. Auf Twitter ist die JAfD seit Dezember 2018 vertreten.[107] Derzeit verzeichnet der Account knapp 2.800 Follower. Ähnlich dem Facebook-Account werden auf Twitter mehrere Beiträge pro Woche veröffentlicht. Die Resonanz der eigenen Beiträge liegt überwiegend im niedrigen zweistelligen Bereich (Likes, Kommentare, Retweets). Die Reichweite ist also geringer als auf Facebook.

Die Positionen der JAfD – Islamkritik, Erhalt der kulturellen Identität und konservativer Wertemuster – stehen im überwiegenden Einklang mit der programmatischen Ausrichtung der Gesamtpartei AfD, die sich dadurch als legitimierte und authentische Vertreterin jüdischer Interessen stilisieren kann, wie dies im Falle der ChrAfD in Bezug auf vermeintlich christliche Werte erfolge. Nur bei den Themen Schächtung[108] und Beschneidungsverbot[109] besehen deutliche Divergenzen zwischen JAfD und AfD-Programmatik.

Die Gründung der JAfD wurde in der AD überwiegend positiv aufgenommen. Dabei wurde teilweise explizit der Standpunkt vertreten, die Gründung einer parteinahen jüdischen Vereinigung entkräfte vollständig den Vorwurf des Antisemitismus in der AfD. Grundsätzlich streitet die JAfD das Vorhandensein von Antisemitismus in der AfD nicht gänzlich ab, versucht jedoch, diesen zu relativieren. Die Grundsatzerklärung hält diesbezüglich Folgendes fest:

„Wir unterstützen die Anstrengungen der Bundes- und Landesvorstände der AfD, sich von den in der Partei anzutreffenden Restbeständen des rechen Antisemitismus zu trennen, sind dabei aber davon überzeugt, dass das Gewicht fraglicher Personen in der medialen Berichterstattung zum Zwecke der Diffamierung der gesamten Partei maßlos überschätzt wird.“[100]

Der ChrAfD-Vorsitzende Joachim Kuhs (MdEP) sprach in Bezug auf die Gründung der JAfD von einem „Glücksfall“ für die AfD, da man mit der neuen Vereinigung den anderen Parteien das „Spielzeug der Nazikeule“ wegnehme.[111]

Auch wenn Vertreterinnen und Vertreter der JAfD eine taktische Instrumentalisierung ihrer Gruppierung durch die AfD mit dem Hinweis verneinen, die Gründung sei nicht auf Initiative des Bundesvorstands, sondern basismotiviert erfolgt, soll die JAfD objektiv als öffentlich wahrnehmbar Entlastungsfaktor in der Debatte um Extremismus und Antisemitismus in der AfD wirken.[112]

Kritik an der Gründung der JAfD kam von den inzwischen aus der Partei ausgeschlossenen AfD-Mitgliedern und baden-württembergischen Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon und Stefan Räpple (MdL, BW und Unterstützer des „Flügel“). Sie lehnen „die Durchsetzung israelischer Interessen auf deutschem Boden“ ab, da eine „zionistische Lobbyorganisation“ den „Interessen Deutschlands und der Deutschen zuwiderläuft.“[113]

Bezeichnend für die – ungeachtet der gesellschaftspolitisch sehr konservativen Grundausrichtung – eher lagerneutralen Verortung der JAfD in der Gesamtpartei ist die Reaktion der Vorsitzenden Vera Kosova (BW) auf Äußerungen von Björn Höcke (MdL, TH) vom 8. März 2020, als dieser auf einem „Flügel“-Treffen fordere, innerparteiliche Gegner müssten „ausgeschwitzt“ werden. In der Kontroverse über diese Wortwahl nahm Kosova Höcke – nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer aus ihrer Sicht generell diffamierenden Medienberichterstattung über die AfD – in Schutz und sprach in einem Facebook-Beitrag von einem „gängigen Ausdruck“, der nicht reflexhaft mit dem Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen sei. Gleichzeitig kritisierte die JAfD-Vorsitzende aber Höcke für die Schärfe seiner Angriffe auf parteiinterne Konkurrenten, die die von ihm ständig beschworene Einheit der AfD nicht stärkten, sonder gefährdeten.[114] Wörtlich äußert Kosova auf der Facebook-Seile der JAfD:

„Dass dieser Angriff mit einem Verweis auf die Notwendigkeit von ‚Einheit‘ verbunden war, zeigt deutlich auf, dass sich Höcke auf das Niveau jener Linken begibt, die ‚menschenverachtende‘ Menschen verachten.“[115]

Trotz ihrer Medienresonanz dürft die JAfD angesichts einer geringen Mitgliederzahl und der – im Vergleich mit der ChrAfD – fehlenden personellen Vertretung auf Bundesebene im innerparteilichen Diskurs über keine relevanten Einflussmöglichkeiten verfügen.

4. Alternative Mitte

Die Alternative Mitte (AM) ist bzw. war ein loser Personenzusammenschluss der bürgerlich-konservativen Kräfte innerhalb der AfD, der sich in innerparteilichen Auseinandersetzungen als Gegengewicht zum „Flügel“ sah. Im Juli 2017 gründete der damalige Vorsitzende des Bundeskonvents Berengar Elsner von Gronow (MdB und Sprecher im Kreisverband Soest) in Nordrhein-Westfalen die Alternative Mitte NRW mit der Intention, einen Ausgleich zu der zunehmenden Dominanz des „Flügel“ zu schaffen. Aus seiner Sicht wurde die Bildung dieser Interessengruppe notwendig, um „Endlich auch den Gemäßigten, den Bürgerlichen eine wahrnehmbare und konzertierte Stimme zu geben.“[116]

Nahezu zeitgleich formierte Dirk Driesang, damals Mitglied des Bundesvorstands der AfD, die „Interessengemeinschaft Alternative Mitte“ in Bayern. Auch Driesang, der sich zuvor bereits deutlich gegen Björn Höcke und den „Flügel“ positioniert hatte, bezweckte die Schaffung eines Gegengewichts zum „Flügel“ mit dem Ziel, dass die AfD „befriedend wirken“ solle.[117] In dem Sinne wollte er „die Vernetzung der bürgerlich-konservativen Kräfte in der AfD intensivieren.[118]

Bis ins Frühjahr 2018 folgen die Gründungen der Landesverbände Sachsen-Anhalt, Hessen, Niedersachsen, Thüringen, Baden-Württemberg, Brandenburg, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Die Gründung einer „Bundesarbeitsgruppe“ der Alternative Mitte durch die bestehenden Landesgruppen erfolgte am 3. Oktober 2017 in Tettau (BY).[119]

Nach eigenen Angaben der AM gegenüber der ZEIT im Frühlahr 2018 verzeichnete die Gruppierung ungefähr 3.000 Mitglieder und vereinte somit rund ein Zehntel der gesamten Mitgliedschaft im gemäßigten Spektrum.[120]

Der Charakter eines losen Personenzusammenschlusses verdeutlichte sich im nur rudimentären Organisationsgrad. Auf der eigenen Website wurde die Alternative Mitte folgendermaßen beschrieben:

„Die Alternative Mitte (AM) ist eine Interessengemeinschaft, in der sich Mitglieder der Partei Alternative für Deutschland (AfD) freiwillig und völlig unverbindlich zusammengefunden haben. Es gibt sie in vielen Bundesländern. Jede Landesgruppe ist für sich unabhängig und hat einen oder mehrere Sprecher.[121]

Auf der Bundesebene machte die AM durch die Veröffentlichung eines offenen Briefs im Oktober 2017 im Hinblick auf den anstehenden Bundesparteitag von sich reden.[122] Darin spiegelte sich die grundsätzliche Zielrichtung der AM wider, einen Gegenpol zum „Flügel“ zu bilden. Mit einem eindeutigen Aufruf warnten die Sprecher der Bundes-AM vor einer weiteren Verschiebung der Partei in eine völkisch-nationalistische Richtung und damit an den „Rand der Verfassungstreue“:

„Wählen Sie als Delegiere auf dem Bundesparteitag nur Bewerber in den Bundesvorstand, die unverrückbar zu unserem Grundsatzprogramm stehen! Wählen Sie nicht die, denen dieses Programm nicht weit genug geht. Wählen Sie nicht die, die Themen auf die politische Tagesordnung setzen, die nicht in diesem Programm stehen und geeignet sind, um die AfD an den Rand der Verfassungstreue zu bringen.[123]

Im März 2019 wurde Aufgabendefinition und Struktur der Bundesarbeitsgruppe reformiert und der Fokus noch stärker auf die Landesgruppen verlagert. Dazu hieß es in einer Pressemitteilung der AM:

„Die Führung der Bundes-AM wird nicht mehr durch Sprecher dargestellt. Bewusst entschieden sich die Ländervertreter zur Einsetzung einer Bundesarbeitsgruppe, in der 7 Arbeitsfelder definiert und personell untersetzt sind. Die Abkehr von Bundessprechern wurde bewusst gewählt, um dem Initiativcharakter der AM auf Bundesebene Rechnung zu fragen und ein deutliches Signal nach innen zu senden. Nicht Partei in der Partei wolle man sein, sondern aktiver Bestandteil der Alternative für Deutschland in maximal loser Form, so die Aussage der Mitglieder der Bundesarbeitsgruppe.[124]

Nach Ausweitung des parteiinternen Einflusspotenzials durch den „Flügel“ im Laufe des Jahres 2019 kam es am Jahresende zur Auflösung der meisten AM-Landesverbände, die dies allerdings stark unterschiedlich begründeten. So erfolgte im November 2019 die Auflösung der AM NRW mit dem Hinweis, nach langem Richtungsstreit im Landesverband habe sich mit Rüdiger Lucassen (MdB, Landessprecher im AfD-Landesverband Nordrhein-Westfalen und stellv. Sprecher im Kreisverband Euskirchen) der Wunschkandidat der moderateren Strömung durchgesetzt, weshalb das AM-Ziel einer Mäßigung des Landesvorstands als erfüllt anzusehen sei.[125]

Der AfD-Bundesparteitag am 30. November und 1. Dezember 2019 war schließlich der Auslöser für die faktische öffentliche Auflösung der AM auf Bundesebene. Diese hatte im Vorfeld des Parteitags noch in einem eindringlichen Appell versucht, die Delegierten des Bundesparteitags zur Wahl ihrer eigenen Anhänger zu bewegen.[126] Dass dieser Appell keine Resonanz fand, stellte die Alternative Mitte am 5. Dezember 2019 in einer Pressemitteilung fest:

„Mit Bedauern nehmen wir zur Kenntnis, dass viele prominente Kandidaten und gestandene Funktionäre, die sich immer entschlossen für einen bürgerlichen Weg der Partei einsetzten, nicht wiedergewählt wurden. Es waren vor allem jene Kandidaten wie Georg Pazderski und Uwe Junge, die sich im Vorfeld gegen einen Personenkult um Björn Höcke ausgesprochen hatten. Eine völlig berechtigte Kritik, wie sie zuvor bereits an Bernd Lucke und Frauke Petry geübt wurde, seinerzeit übrigens such von Vertretern des „Flügels“. Björn Höcke zeigt sich darüber erfreut, indem er über diese Personen herabwürdigend als „Feindzeugen“ spricht. Gleichzeitig wählten über 300 Delegierte mit Andreas Kalbitz eine zentrale Flügelfigur, obwohl in den letzten Monaten immer mehr Details bekannt wurden, die eindeutig Kalbitz‘ rechtsextreme Vita belegten. Die Wahl von Kalbitz erfolgte dennoch, obwohl ein gestandener, unbelasteter und bürgerlicher Gegenkandidat zur Wahl stand. Die Außenwirkung dieser Entscheidung ist verheerend.“[127]

Neben den getroffenen Personalentscheidungen kritisierte die AM zudem allgemein die zentrale Rolle, die „Der Flügel“ inzwischen in der AfD spiele:

„Heute scheint der Flügel indes gefestigt wie nie. Die Dominanz, die er einst einem Bernd Lucke und einer Frauke Petry vorwarf, strebt er mit Höcke und Kalbitz als Galionsfiguren, nun selbst an, ohne über seine Rolle und Funktion in der Partei eine sinnvolle Antwort zu geben und ohne dazu legitimiert zu sein.“

Zum Abschluss kommt die AM zu einer fast fatalistischen Zukunftsprognose:

„Auch wenn einzelne Mitglieder des Bundesvorstands eine kritische Sicht auf den Flügel haben, sehen wir nur geringe Chancen, dass diese Sicht ab jetzt zur Geltung kommt. Eine Partei die der ‚Feindzeugen-Theorie‘ von Björn Höcke folgt und innerparteiliche Kritik als feindlichen Akt diffamiert, wird keine Zukunft haben.“

Zwar wird in der Erklärung nicht explizit die Auflösung der AM auf Bundesebene bekundet, allerdings kann sie zumindest im Nachhinein als solche gewertet werden, stellte sie doch den letzten Beitrag dar, der auf der Facebook-Seite der Gruppierung veröffentlicht wurde.

Dass die Ereignisse beim Bundesparteitag in Braunschweig (NI) innerhalb der AM diametral unterschiedlich bewertet wurden, zeigt ein Beitrag der AM Baden-Württemberg, der ebenfalls am 6. Dezember 2019 auf Facebook veröffentlicht wurde:

„Inzwischen sind durch klare, unmissverständliche Positionierungen der Parteiführung sowie durch operative Aktivitäten wie beispielsweise dem Arbeitskreis Verfassungsschutz deutliche rote Linien gezogen worden. Unsere Schiedsgerichte arbeiten ordentlich und ahnden parteischädigendes Verhallen angemessen. Der neue Bundesvorstand hat sich entschieden gegen Extremisten und Spalter geäußert und wird ein Garant für das Aufblühen der AfD sein. Die Alternative Mitte Baden-Württemberg hat ihr Ziel erreicht. Wir haben dazu beigetragen, dass die AfD Kurs hält und für bürgerliche Mitglieder, Interessenten und Wähler ein attraktives politisches Angebot darstellt. Die Alternative für Deutschland ist auf dem besten Weg, sich im Parteienspektrum als bürgerliche, freiheitlich-konservative Kraft zu etablieren. Die Alternative Mitte halten wir nunmehr für obsolet, ebenso wie den Flügel. Deshalb würden wir es begrüßen, wenn der Flügel sich in Baden-Württemberg ebenfalls auflöst.[128]

Analog zur AM Nordrhein-Westfalen begründete der baden-württembergische Verband seine Auflösung nicht mit eigenem Scheitern wie die Bundesarbeitsgruppe, sondern mit der erfolgreichen Umsetzung seiner Ziele, wobei die Aufforderung einer gleichzeitigen „Flügel“-Auflösung die weitere Sorge über dessen Potenzial und Einflussmöglichkeiten zum Ausdruck brachte.

Die Landesgruppen Thüringen und Niedersachsen schlossen sich hingegen der Sichtweise der Bundesgruppe an. So erklärte die AM Niedersachsen in einem Beitrag u.a.:

„Als Realpolitiker und Demokraten, aber auch Patrioten, nehmen wir die personellen Entscheidungen des 10. Bundesparteitages der AfD am 30.11. und 01.12.2019 in Braunschweig zur Kenntnis und erkennen an, dass der von uns vertretene Kurs in der AD mehrheitlich nicht gewünscht ist. Die Gruppierung „Der Flügel“ kann nun in der Partei als dauerhaft etabliert gelten.[129]

In einem nahezu identischen Post verkündete auch die AM Thüringen ihre Auflösung und konstatierte, dass trotz der mutmaßlich elementaren Notwendigkeit ihres Wirkens ein Beitrag der AM in der AfD offenbar nicht gewünscht sei.[130] Auch der Landesverband Bremen reagierte bestürzt hinsichtlich der neuen Zusammensetzung des Bundesvorstands nach dem Bundesparteitag.[131]

Durch die Auflösung im November und Dezember 2019 hat die AM ihre öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten faktisch eingestellt. Lediglich auf der Facebook-Seite der AM Sachsen-Anhalt werden noch regelmäßig Beiträge anderer Personen und Gruppierungen geteilt. Eigene Beiträge zu politischen Sachfragen oder zur innerparteilichen Entwicklung finden sich allerdings auch hier nicht mehr. Somit kann festgehalten werden, dass sich eine zwischenzeitlich durchaus gut vernetzte Gruppierung innerhalb der Partei Ende 2019 auflöste, da ein Großteil keine Erfolgsaussichten auf Durchsetzung der eigenen Interessen gegen die Opponenten vom „Flügel“ sah.

5. Desiderius-Erasmus-Stiftung

Die Desiderius-Erasmus-Stiftung (DES) wurde 2017 mit Sitz in Lübeck (SH) gegründet und 2018 von der AfD als parteinah anerkannt. Benannt ist die Stiftung nach Erasmus von Rotterdam, der sich selbst den Beinamen „Desiderius“ (Der Erwünschte) gab. Als Ziele gibt die DES die Förderung des demokratischen Staatswesens und die Vermittlung von staatsbürgerlicher Bildung an. Beides diene der Schaffung von Klarheit und Transparenz. Ferner sollen Wissenschaft und Forschung, Aus- und Fortbildung begabter junger Menschen und die internationale Gesinnung, Völkerverständigung und Toleranz auf allen Gebieten der Kultur gefördert werden.[132] Wie auch die anderen parteinahen Stiftungen verbreitet die DES mit ihren Bildungsangeboten, Seminaren und Publikationen somit die politischen Grundsätze und Standpunkte der AfD als ihrer Referenzpartei und kann damit als wichtiger Multiplikator und Ort der Vernetzung mit anderen (vor)politischen Akteuren verstanden werden.

Laut Satzung vom 15. September 2019 gehören zu den Organen des Stiftungsvereines die Mitgliederversammlung, das Kuratorium und der Vorstand.[133] Vorsitzende der Stiftung ist die ehemalige CDU- und ab 2017 fraktionslose Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach.[134]

Jahrelang war sich die AfD uneins, ob eine eigene Stiftung sinnvoll oder eher kontraproduktiv sei. In ihrem Grundsatzprogramm von 2016 wendet sich die Partei gegen „die juristische Konstruktion sogenannter parteinaher Stiftungen“ als eine Form der „verdeckten Parteienfinanzierung“,[135] Schließlich erfolgte eine parteiinterne Einigung auf folgenden Kompromiss: Während die Abschaffung des Stiftungssystems weiterhin ein langfristiges Ziel der AfD bleibe, wolle man kurzfristig doch eine parteinahe Stiftung, um im Vergleich zu den anderen Parteien keinen Nachteil zu erleiden.

Dass sich die innerparteilichen Konflikte auch innerhalb der DES widerspiegeln, zeigt ein Vorgang aus dem Jahr 2020. Im Mai 2020 wurde der bisherige Schriftführer Erik Lehnert aus dem Vorsand unter Verweis auf seine Tätigkeit als Geschäftsführer des Institut für Staatspolitik (IfS) und dessen zwischenzeitlich erfolgte Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz abgewählt. Die Vorsitzende Erika Steinbach erklärte dazu, dass sich die „Entscheidung des Bundesamtes für Verfassungsschutz, das IfS wegen extremistischer Tendenzen als Verdachtsfall einzustufen und damit permanent zu beobachten, nicht mit der Satzung der DES und damit seiner Mitgliedschaft im Vorstand“ vereinbaren lasse.[136] 27 Mitglieder des Trägervereins sprachen sich für die Abwahl Lehnerts aus. 21 Mitglieder votierten dagegen, weitere fünf Personen enthielten sich.[137] Lehnert akzeptierte die Abwahl nicht und warf Steinbach dagegen vor, ihr Versprechen gegenüber der AfD zu brechen, alle Parteiströmungen in die DES zu integrieren.[138]

Noch während des – aufgrund der Bestimmungen zur SARS-CoV-2-Pandemie online durchgeführten und sich über mehrere Wochen hinziehenden – Abstimmungsprozesses in dieser Personalie soll der AfD-Ehrenvorsitzende und Ehrenvorsitzende des AfD-Landesverbandes Brandenburg, Alexander Gauland (MdB), laut Medienberichten Erika Steinbach davor gewarnt haben, im Falle einer Abwahl Lehnerts der DES die Anerkennung als parteinahe Stiftung durch die AfD zu entziehen, denn Aufgabe der Stiftung sei es, alle politischen Strömungen innerhalb der AfD auch in ihrem Vorstand abzubilden. Gauland sprach im Nachgang nicht von einer Warnung, sondern lediglich von einem Hinweis, dass das eintreten könnte.[139]

Mit Jan Moldenhauer (stellv. Schatzmeister im AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt und Vorsitzender im Kreisverband Magdeburg), der ebenfalls dem IfS und dem Verlag Antaios verbunden ist, äußerte sich ein weiteres Mitglied des Stiftungsvorstands explizit gegen die Abwahl Lehnerts. Moldenhauer sprach von einer „unheilige[n] Allianz zwischen dem Bundesverfassungsschutz und der Stiftungsvorsitzenden Steinbach“. Diese sei „eine Katastrophe für die Stiftung und die ihr nahe stehende Partei“. Es handele sich wohl, so Moldenhauer, um einen „Privatkrieg“ zwischen Steinbach und der stellvertretenden AfD-Bundessprecherin und Co-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel (MdB), die dafür plädiert habe, alle Parteiströmungen in der Stiftung zu repräsentieren, was Steinbach widerstrebe.[140]

III. Entwicklung der Partei

Im Folgenden wird in aller gebotenen Kürze die Entwicklung der AfD seit ihrer Gründung im Jahr 2013 beschrieben. Die Darstellung orientiert sich dabei an den unterschiedlichen Bearbeitungsstatus der Partei und parteiinternen Personenzusammenschlüssen aus verfassungsschutzrechtlicher Sicht. Zuerst werden die Entwicklungen von 2013 bis zur Erhebung der Gesamtpartei zum Prüffall im Januar umrissen, danach die Zeit bis zur Einstufung des „Flügel“ zur erwiesen extremistischen Bestrebung und im letzten Abschnitt die Zeit von März 2018 bis in die Gegenwart.

1. Februar 2013 bis Januar 2019

Die AfD wurde am 6. Februar 2013 gegründet und war zu Beginn vor allem als euroskeptische Partei zu betrachten, die sich mit Kritik an der Europäischen Union (EU) sowie insbesondere an der Europäischen Währungsunion und der deutschen EU-Finanz- und Rettungspolitik der damaligen Zelt hervortat.[141] Auch wenn die Partei damit zunächst eine stark monothematische Ausrichtung aufwies, vereinigte sie bereits in ihren Anfängen unterschiedliche gesellschaftliche und politische Strömungen. So gehören neben dem anfangs dominierenden Lager der ordoliberalen Wirtschaftswissenschaftler um den Hamburger Ökonomieprofessor Bernd Lucke auch Vertreterinnen und Vertreter nationalkonservativer, rechtslibertärer und fundamentalchristlicher Positionen zu den Gründungsmitgliedern.[142] In dieser ausgesprochen heterogenen Grundkonstellation wählte die AfD auf ihrem Gründungsparteitag am 13. April 2013 in Berlin den Volkswirt Bernd Lucke, den Journalisten Konrad Adam (Parteiaustritt 1. Januar 2021) und die ehemalige Unternehmerin und Chemikerin Frauke Petry (MdB) zu gleichberechtigten Sprechern und zur Sprecherin des Parteivorstands.[143] Der Organisationsaufbau erfolgte außergewöhnlich schnell. Bereits im Mai 2013 war die Gründung von Landesverbänden in allen 16 Bundesländern abgeschlossen und die Partei hatte rund 10.000 Mitglieder.

In der Folgezeit rückten im Zuge der im Jahr 2014 beginnenden sogenannten europäischen Flüchtlingskrise auch verstärkt gesellschafts- und integrationspolitische Themen in den Blickpunkt der AfD.[144] Ausgangspunkt dieser Entwicklung waren primär die ostdeutschen Bundesländer, in denen sich bald ein Gegenpol zu den westdeutschen, vom Lucke-Lager dominierten Landesverbänden herausbildete. Besonders die Wahlerfolge bei der Europawahl im Mai 2014 (7,1 %) und den Landtagswahlen im August und September 2014 in Brandenburg (12,2 %), Sachsen (9,7 %) und Thüringen (10,6 %) bestätigten die Haltung der ostdeutschen AfD-Landesverbände und trugen entsprechend mit zu einer programmatischen Verschiebung bei.[145] Diese stieß in Teilen der Partei, besonders beim ordoliberalen Lager, auf Skepsis und Ablehnung. Für diese Phase waren die ab Herbst 2014 erheblichen Zuspruch findenden PEGIDA-Märsche in Dresden bedeutsam. Während die ostdeutschen Landesverbände sich zunehmend zu PEGIDA bekannten, forderten Lucke und der damalige AfD-Europaabgeordnete Hans-Olaf Henkel eine Abkehr vom Islamisierungsthema und eine deutliche Abgrenzung von PEGIDA.

Als demonstratives Zeichen gegen diese Aufforderung veröffentlichten im März 2015 mehrere AfD-Mitglieder, unter ihnen die damaligen Landesparteivorsitzenden von Thüringen und Sachsen-Anhalt, Björn Höcke und Andre Poggenburg, die sogenannte Erfurter Resolution, in der die Unterzeichnenden der Partei u. a. vorwerfen, „sich von bürgerlichen Protestbewegungen ferngehalten und […] sogar distanziert“ und „Mitglieder verprellt und verstoßen“ zu haben, „deren Profil unverzichtbar“ sei. Dies sei als fatales Signal zu sehen:

„Der provokative Umbau der AfD zu einer technokratisch ausgerichteten Partei gefährdet den im Vorfeld des Bremer Parteitags mit großer Selbstdisziplin der Beteiligten gefundenen Kompromiss.“[146]

Mit der Erfurter Resolution stellte sich das in der Folge unter der Bezeichnung „Der Flügel“ organisierte Personennetzwerk gegen die bisherige Ausrichtung der AfD und besonders gegen den Parteisprecher Bernd Lucke. Zudem treten in dieser Zeit vermehrt ehemalige Parteimitglieder der Republikaner und der Partei Die Freiheit in die AfD ein und streben Parteiämter an: so z. B. Lena Duggen, zuvor Vorstandsmitglied der Partei Die Freiheit, die 2015 zur AfD wechselte, nach 2016 als Fachreferentin der AfD-Fraktion und Mitarbeiterin eines AfD-Abgeordneten im Landtag Brandenburg tätig war und 2019 selbst als Abgeordnete in den brandenburgischen Landtag einzog. Sie ist ebenfalls Besitzerin im AfD-Landesverband Brandenburg.[147]

Um die bisherige politische Ausrichtung der Partei zu erhalten und die Kritiker des „Flügel“ in die Schranken zu weisen, versuchte Bernd Lucke mit der Gründung des nicht eingetragenen Vereins Weckruf 2015 im Mai 2015, seine Unterstützerinnen und Unterstützer in der Partei zu sammeln. Der Konflikt zwischen beiden Lagern eskalierte auf dem Parteitag am 4. und 5. Juni 2015 in Essen (NW), in dessen Folge Bernd Lucke und seine Anhängerschaft aus der AfD austraten. Bis August 2015 folgten ihm rund ein Fünftel der 21.000 Mitglieder, darunter die meisten Funktionäre und Funktionärinnen des wirtschaftsliberalen Teils der Partei.[148] Die einsetzende Verschiebung der programmatischen Ausrichtung wurde bereits auf dem Parteitag deutlich, als der Vorsitzende des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen und spätere Ehemann von Frauke Petry (MdB), Marcus Pretzell (MdEP), ankündigte, die AfD sei auch eine „PEGIDA-Partei“.[149]

In der Folgezeit brachen die Umfrageergebnisse der AfD aufgrund der sich abschwächenden Auswirkungen der Finanzkrise und der Spaltung der Partei ein und fielen im Verlauf des Jahres 2015 bundesweit sogar unter die Fünfprozentmarke. Eine demoskopische Trendwende wurde insbesondere durch den ansteigenden Zuzug von Geflüchteten ab Herbst 2016 begünstigt. Der damalige Bundessprecher Alexander Gauland (MdB) bezeichnete die sogenannte Flüchtlingskrise im Dezember 2015 folgerichtig gar als „Geschenk“ für seine Partei.[150] Auch die islamistischen Terroranschläge in den folgenden Monaten sowie Ausschreitungen und sexuelle Übergriffe im Kontext der Kölner Silvesternacht 2015/2016 befeuerten das Erstarken der AfD und bestätigten die neugewählten Schwerpunktthemen Zuwanderung und Asyl. Die AfD erzielte im Jahr 2018 auch in westdeutschen Bundesländern erstmals zweistellige Wahlergebnisse bei Landtagswahlen in Baden-Württemberg (15,1 %) und Rheinland-Pfalz (12,6 %), spektakuläre Erfolge bei ostdeutschen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt (24,3 %) und Mecklenburg-Vorpommern (20,8 %) sowie ein bemerkenswert gutes Wahlergebnis in der Hauptstadt Berlin (14,2 %).[151]

Trotz der Wahlerfolge des Jahres 2016 nahmen in dieser Zeit die innerparteilichen Spannungen abermals zu. Im Zentrum standen dabei sowohl Auseinandersetzungen über einzelne polnische Sachfragen als auch die übergeordnete Frage nach der strategischen und grundsätzlichen Ausrichtung der Partei. Das auf dem Bundesparteitag 2016 in Stuttgart (BW) beschlossene erste Grundsalzprogramm der Partei trägt zwar noch deutlich die ordoliberale Handschrift der Anfangsjahre, allerdings verschoben sich die Kräfteverhältnisse in der Partei im Laufe des Jahres immer stärker und der bis heute andauernde Richtungsstreit innerhalb der Partei nahm an Fahr auf.[152] Besonders der Umgang mit parteiinternen rechtsextremistischen Tendenzen und Beziehungen zu rechtspopulistischen und- extremistischen Akteuren außerhalb der Partei sorgten fortgesetzt für Konflikte.

Als Beispiel hierfür kann das noch unter Bernd Lucke angestrengte, von Frauke Petry (MdB) dann aber fortgeführte Parteiausschlussverfahren gegen Björn Höcke (MdL, TH) gesehen werden, das erst im Jahr 2018 mit dessen Einstellung endete. Grund für den beantragten Parteiausschluss war eine Rede Höckes auf einer JA-Veranstaltung in Dresden (SN) am 17. Januar 2017, als er das Holocaust-Mahnmal in der historischen Mitte Berlins als „Denkmal der Schande“ bezeichnete und eine erinnerungspolitsche Wende um 180 Grad forderte.[153] Das Verfahren wurde im Mai 2018 vor dem Thüringer Schiedsgericht eingestellt, da Höckes Äußerungen laut dem Pressesprecher der AfD Thüringen keine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus erkennen ließen. Jedoch gab es in dem Verfahren noch weitere Vorhaltungen gegen Höcke, so der nach objektiven Maßstäben nicht zu widerlegende Vorwurf, dass explizit den Nationalsozialismus bejahende Texte von ihm unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“ in verschiedenen NPD-Publikationen veröffentlicht wunden.[154]

Höcke und sein inzwischen erstarkter „Flügel“ versuchten in dieser Zeit, ihre Vorstellungen auf die gesamte Partei zu übertragen. So charakterisierte er die AfD im Jahr 2017 als „Fundamentalopposition“ und „Bewegungspartei“.[155] Auch war die zunehmende Verwendung völkisch-nationalistischer Begrifflichkeiten zu konstatieren. Beispielhaft hierfür stehen Zitate von Andre Poggenburg wie „Verantwortung für die Volksgemeinschaft“ oder „Wucherung am deutschen Volkskörper“ oder Höckes bereits oben erwähnte Dresdner Rede vom Januar 2017.[156]

Im gleichen Jahr kam es zu einem erneuten Wechsel an der Führungsspitze. Nachdem die Bundessprecherin Frauke Petry bereits auf dem Parteitag im April 2017 in Köln auf die Kandidatur als Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl verzichtet hatte, trat sie im Anschluss an diese Wahl vom 24. September 2017, bei der sie ein Direktmandat errungen und die AfD mit bundesweit 12,6 % der Zweitstimmen ein sehr gutes Ergebnis erzielt hatte, aus der Partei aus.[157] Auf dem folgenden Parteitag in Hannover (NI) im Dezember 2017 wurden Jörg Meuthen (MdEP) und Alexander Gauland (MdB) als Bundessprecher gewählt. Der Wahl des zweiten Sprecherpostens neben Meuthen war ein offener Machtkampf zwischen dem „Flügel“ und seinen Gegnern vorausgegangen. Der eigentlich für den Posten vorgesehene Georg Pazderski (MdA und Vorsitzender im AfD-Landesverband Berlin), einer der exponiertesten Kritiker des „Flügel“, kam in zwei Wahlgängen gegen seine überraschend angetretene Mitbewerberin Doris von Sayn-Wittgenstein (SH) zu keiner Mehrheit. Die umstrittene und rechtsextremistische Bezüge aufweisende van Sayn-Wittgenstein, die dem Lager des „Flügel“ zugerechnet werden konnte, verpasste die notwendige Mehrheit im zweiten Wahlgang nur knapp um eine Stimme. Um die Situation zu beruhigen, trat schließlich Alexander Gauland als damalige Integrationsfigur zur Wahl an und wurde mit 67,8 % der Stimmen gewählt. Die vorangegangenen Wahlgänge zeigen deutlich den steigenden Einfluss des „Flügel“, der allerdings ohne die Unterstützung anderer Teile der Partei nach nicht über eine eigene Mehrheit verfügte.[158]

Im Jahr 2018 vertieften sich die Gräben in der innerparteilichen Auseinandersetzung zusehends, was sich allerdings nicht gravierend auf die Landtagswahlergebnisse in Hessen (13,1 %) und Bayern (10,1 %) auswirkte. Mit der Desiderius-Erasmus-Stiftung wurde Mitte des Jahres 2018 auf dem Parteitag in Augsburg eine eigene parteinahe Stiftung etabliert.

Die häufiger werdende Forderung aus Gesellschaft und Politik nach einer Beobachtung der AfD durch die Verfassungsschutzbehörden erfuhr im Herbst 2018 eine zusätzliche Dynamik,[159] als prominente Vertreter der AfD bzw. des „Flügel“ auf einem sogenannten Trauermarsch am 1. September 2018 in Chemnitz gemeinsam mit rechtsextremistischen Gruppierungen und Personen auftraten.

Angesichts des wachsenden öffentlichen Drucks kündigte die Fraktionsvorsitzende und Mitglied des Bundestags, Alice Weidel, am 11. September 2018 an, dem Bundesvorstand die Einsetzung einer Kommission vorzuschlagen. Es gehe darum, „sowohl im rechtlich-organisatorischen als auch im inhaltlich-argumentativen Bereich und für die Öffentlichkeitsarbeit Gegenstrategien“ zu entwickeln.[160] Auf einer außerordentlichen Sitzung am Folgetag, dem 12. September 2018, beschloss der AfD-Bundesvorstand dann die Einrichtung einer Arbeitsgruppe Verfassungsschutz“ (AG VS), die sich unter der Leitung des Bundestagsabgeordneten und ehemaligen Justiziars des Bayer-Konzerns Roland Hartwig (MdB) mit dem Thema einer möglichen Beobachtung durch die Verfassungsschutzbehörden befassen sollte.

Da AG VS trat erstmals am 5. November 2018 auf einer Pressekonferenz mit Beteiligung der Bundessprecher Jörg Meuthen und Alexander Gauland und des AG-Leiters Roland Hartwig öffentlich in Erscheinung. Der Auftrag der Arbeitsgruppe bestehe darin, so Meuthen, „sich auf jedem rechtlichen Wege gegen eine mögliche Beobachtung“ zu wehren und „mögliche Anhaltspunkte für eine Verfassungsschutzbeobachtung dort, wo sie sich tatsächlich zeigen, abzustellen“.[161]

Weiterer Gegenstand der Pressekonferenz war das im Auftrag der AfD-Bundesgeschäftsstelle verfasste Gutachten eines Freiburger Rechtswissenschaftlers, der u. a. folgende Verhaltensweisen zur Vermeidung einer drohenden Beobachtung empfahl:

„Insbesondere müssen daher pauschale Diffamierungen beziehungsweise Herabwürdigungen von Ausländern / Immigranten / Flüchtlingen / Muslimen vermieden werden. Es darf nie der Eindruck erweckt werden, als bezeichne man alle Immigranten als kriminell, sozialschädlich oder ähnliches. Die Religionsfreiheit der in Deutschland lebenden Muslime darf nicht Infrage gestellt werden. Ziele wie, die deutsche Kultur zu wahren, eine multikulturelle Aufsplittung der Gesellschaft zu vermeiden oder Deutschland als erkennbar deutsch zu erhalten, dürfen nicht damit angestrebt werden, dass deutschen Staatsangehörigen ethnisch anderer Zugehörigkeit Rechte vorenthaltenen oder sie gar ausgewiesen werden sollen. Die Achtung der Rechtsgleichheit aller Staatsangehörigen ist ebenso zwingend geboten wie die Achtung der Menschenwürde aller in Deutschland lebenden Menschen sowie die Beachtung der Diskriminierungsverbote gemäß Art. 3 Abs. 3 GG.“[162]

Die Führungsebene der AfD konterkarierte bereits auf der Pressekonferenz die Empfehlungen ihres Gutachters. Zwar behauptete Meuthen, die AfD halte sich ohnehin von unzulässigen Generalisierungen wie der „Kriminalisierung aller Migranten“ fern, doch auf die Nachfrage eines Journalisten, ob Aussagen wie „Massenmigration ist Messermigration“ (Andreas Kalbitz) oder „Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse“ (Alice Weidel) etwa keine Pauschalisierungen darstellen, antwortete Gauland:

„Das gehört zur polemischen Zuspitzung dessen, was wir bekämpfen, nämlich die Massenimmigration. Und von daher kann man über die Wortwahl streiten, das tun sie ja auch oder tun wir ja auch, aber wir haben nicht vor, diese Wortwahl zu unterbinden.“[163]

Auf Basis des Gutachtens verfasste Roland Hartwig u. a. die Ausarbeitung „Informationen und Handreichungen zum Thema Verfassungsschutz – Teil 1 (41 Seiten), deren Ziel es sei, Hilfestellungen sowohl zu „den wenigen […] Einzelfällen“ zu geben, in denen verfassungsfeindliche Äußerungen in der AfD vorkämen, und „zur Vermeidung von Missverständnissen, die vom Verfassungsschutz zu Unrecht als tendenziell verfassungsfeindlich bewertet werden könnten“, beizutragen.[164]

Einzelne Landesverbände kamen den Handlungsempfehlungen der AG VS zuvor. So versande der AfD-Landesverband Niedersachsen bereits Ende Oktober 2018 ein mehrseitiges Papier an seine Mitglieder, das „für die Rechtslage sensibilisieren“ sollte.[165]

Die Anstrengungen um eine zumindest verbale Mäßigung wurden in Teilen der Partei vehement abgelehnt. So wurde die AG VS mit der Staatssicherheit der früheren DDR verglichen und als „Sprachpolizei“ verschrien, Hartwig als „Inquisitor“, „kleiner Mielke“ oder „blauer Stalin“ tituliert.[166] Demzufolge bewertete Hartwig Anfang 2020 den innerparteilichen Umgang mit ihm auch mit den Worten „Ich wurde politisch bekämpft“. Auf die Frage, ob er seine propagierte Strategie, dass sich Parteigremien von verfassungsfeindlichen Äußerungen und Handlungen einzelner Mitgelder distanzieren sollen, mit Erfolg vermittelte, entgegnete er:

„Nein, das kann man nicht sagen.“[167]

Damit bestätigte Hartwig seine eigenen Befürchtungen hinsichtlich möglicher Widerstände an der Parteibasis, die er vor seiner Bestellung zum Leiter der AG VS ausgedrückt hatte.[168]

Die Maßnahmen der AfD hinsichtlich der drohenden Beobachtung durch den Verfassungsschutz und damit auch die Einrichtung der AG VS waren – zumindest zu Beginn – Gegenstand heftiger Kritik gerade vom „Flügel“. Höcke bezeichnete die Sorge um eine Verfassungsschutzbeobachtung als „politische Bettnässerei“. Der dem „Flügel“-Umfeld zurechenbare und von über 1.200 Personen unterzeichnete „Stuttgarter Aufruf“ vom 28. Oktober 2018, initiiert von der Landtagsabgeordneten Christina Baum (BW, Sprecherin im Kreisverband Main-Tauber und Landesobfrau des „Flügel“ für Baden-Württemberg), richtete sich auch maßgeblich gegen die nun anscheinend vermehrt eingeleiteten oder in Vorbereitung befindlichen Ordnungs- und Ausschlussverfahren, die „in vielen Landesverbänden und durch den Bundesvorstand öffentlich, manchmal auch still und heimlich“ durchgeführt würden.[169] Deutlich wird vor denjenigen parteiinternen Kritikern gewarnt, die Höcke bereits als „Feindzeugen“[170] diffamiert hatte:

„Lähmend aber wirkt das Gift jener, die sich als Mitstreiter ausgeben, tatsächlich aber de Waffen unseres politischen Gegners benutzen und ihm damit in die Hände spielen.“[171]

Weiterhin hieß es:

„Wir widersetzen uns allen Denk- und Sprechverboten innerhalb der Partei und zeigen allen Vorständen die rote Karte, die sich an Machenschaften beteiligen, den Mitgliedern ihr Recht auf das freie Wort und eine eigenständigen Analyse der politischen Zustände zu nehmen.“[172]

Abschießend hieß es:

„Es gibt nur eine rote Linie: das Grundgesetz und das Strafgesetzbuch.“[173]

Dass diese Maßgabe von den Verfassern des „Stuttgarter Aufrufs“ jedoch nicht akzeptiert wird, zeigt eine offensichtlich wenige Tage nach dessen Veröffentlichung ergänzte „Danksagung“:

„Wie wichtig dieser Aufruf war, sieht man an den nun bekanntgewordenen Äußerungen des parteiinternen ‚Gutachters‘ zur Verfassungsschutzbeobachtung. Danach dürfen Begriffe wie Überfremdung, Umvolkung, Umerziehung oder Äußerungen wie ‚Flüchtlinge sind kriminell‘, ‚Altparteien sind korrupt‘ nicht mehr gebraucht werden. Wir sollen uns der politischen Korrektheit beugen, unsere Ideale und unser Programm aufgeben. Mit anderen Worten, die AfD soll werden, wie die anderen Parteien! Auch dagegen werdet sich unser Aufruf.“[174]

Den Verfassern zufolge entsprechen pauschale und gegen die Menschenwürde verstoßende Diffamierungen wie „Flüchtlinge sind kriminell“ also dem Programm und den Idealen der AfD.

Ungeachtet grundsätzlich unterschiedlicher Auffassungen arrangierten sich die Protagonisten des „Flügel“ rasch mit Hartwig und der von ihm geleiteten Arbeitsgruppe. Die Tageszeitung DIE WELT bezeichnete die eigentliche Rolle der AG VS als „Schutzschild, der jeden noch so guten belegten Extremismusvorwurf gegen „Flügel“-Leute abwehren soll“. Eine „bessere Interessenvertretung“ könne „Der Flügel“ kaum finden.[175]

2. Januar 2019 bis März 2020

Nach dem Zusammentragen einer hohen Zahl von tatsächliche Anhaltspunkten für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und der Erstellung eines über vierhundertseitigen Gutachtens durch das BfV erfolge im Januar 2019 die Erhebung der AfD als Gesamtpartei zum Prüffall und der Jugendorganisation JA und des Personenzusammenschlusses „Der Flügel“ zu rechtsextremistischen Verdachtsfällen.[176]

Die Entscheidung löste innerhalb der AfD eine Vielzahl von Reaktionen aus. Der damalige Leiter der AG VS, Roland Hartwig, kritisierte, der Verfassungsschutz habe sein „eigentliches Aufgabenfeld längst verlassen“ und verfolge „eine politische, und zwar linke Politik“. Er habe sich dabei „ganz klar auf die Seite der aktuellen etablierten Politik gestellt“. Das BfV verhalte sich „wie eine ‚Sprachpolizei'“. Dies sei „ein verfassungswidriger Versuch, mit Mitteln des Verfassungsschutzes die politische Meinungsbildung in unserem Land zu beeinflussen“.[177]

Ähnlich äußerte sich auch Björn Höcke. BfV-Präsident Thomas Haldenwang missverstehe sein Amt als „reines Exekutivorgan der etablierten Parteien oder lässt sich zumindestens für diese Zwecke widerstandslos instrumentalisieren“. Die momentane Praxis – „Verfassungsschutz als Etabliertenschutz“ – stelle „die Perversion eines wirklichen Staats- und Verfassungsschutzes dar“. Höcke appellierte zudem an die „redlichen Verfassungsschützer“, vom Remonstrationsrecht Gebrauch zu machen, statt sich instrumentalisieren zu lassen.[178]

Während Höcke keine Bereitschaft erkennen ließ, sich inhaltlich mit den Vorwürfen des Gutachtens auseinandersetzen zu wollen, fiel die Reaktion des damaligen AG-Leiters Hartwig – auch mit Blick auf den zentralen „Flügel“-Protagonisten – defensiver aus:

„Ich würde mich freuen, wenn Herr Höcke als exponierter Vertreter des ‚Flügel‘ eine klare Positionierung einnehmen würde und sich mit den Vorwürfen und Anhaltspunkten auseinandersetzt, die die Verfassungsschutzämter zusammengetragen haben. Es wäre für die AfD sehr hilfreich, wenn Herr Höcke eine klare Grenze zieht, was aus seiner Sicht akzeptabel und nicht mehr akzeptabel ist.“[179]

Und kaum weniger deutlich entgegnete Hartwig auf die Frage, ob „Der Flügel“ integraler Bestandteil der AfD oder eine Last sei:

„Um es in der Fußballersprache zu sagen – eine gute Mannschaft braucht auch einen Rechtsaußen, der könnte Herr Höcke sein. Aber er muss eben auf dem Spielfeld nach den geltenden Regeln spielen und sich dazu verhalten, wie es um diejenigen bestellt ist, die nicht mehr aufs Spielfeld gehören und die Regeln verletzen.[180]

Vor den Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Sachsen und Thüringen im Jahr 2019 kam es zu weiteren Auseinandersetzungen um die ideologische Ausrichtung der Partei, wie das Beispiel von Doris von Sayn-Wittgenstein zeigt. Ungeachtet eines laufenden Parteiausschlussverfahrens vor dem Bundesschiedsgericht wegen rechtsextremistischer Bezüge wurde diese im Juni 2019 in Schleswig-Holstein zur AfD-Landessprecherin gewählt, nachdem das schleswig-holsteinische Landesschiedsgericht den Ausschluss erstinstanzlich noch zurückgewiesen hatte. Von Sayn-Wittgenstein war Fördermitglied des rechtsextremistischen, Holocaust-Leugnern ein Forum bietenden Vereins Gedächtnisstätte e.V. gewesen, der auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD steht. Das Bundesschiedsgericht schloss von Sayn-Wittgenstein am 28. August 2019 schließlich wegen parteischädigenden Verhaltens aus der AfD aus.[181]

Auch etliche Monate nach dem Parteiausschluss lässt der AfD-Landesvorstand von Schleswig-Holstein eine Nähe zu seiner früheren Landessprecherin erkennen. So schickte das Führungsgremium am 2. Mai 2020 per Mail eine „Kurzmittellug“ an alle Mitglieder des Landesverbands, der ohne weitere Kommentierung ein Schreiben von Sayn-Wittgenstein beigefügt war. In dem Schreiben mit Datum vom 23. April 2020 weist Sayn-Wittgenstein die gegen sie erhobenen Extremismusvorwürfe zurück, wirft dem Landesverband parteischädigendes Verhalten vor, greift einen Landtagsabgeordneten der Partei persönlich an und bezeichnet sich – ungeachtet ihres partei- und fraktionslosen Status – weiterhin als „Abgeordnete der AfD“. Der Landesvorstand Schleswig-Holstein begründete die Verbreitung des Schreibens von Sayn-Wittgensteins per Rundmail damit, dass „jedes Mitglied“ Zugang zu „die Partei oder den Landesverband betreffenden Informationen haben“ sollte.[182]

Die Prüf- und Verdachtsfalleinstufung der Partei respektive ihrer Teilorganisationen halte für die AfD keinen Negativeffekt auf die Europa- und Landtagswahlen 2019. Bei der Europawahl am 28. Mai 2019 erzielte die AfD einen Stimmenanteil von 11,0 % (absolut: 4.104.453 Stimmen) und gewann damit 11 der insgesamt 96 deutschen Sitze im Europäischen Parlament. Im Vergleich zum Wahlergebnis 2014 mit 7,1 % (absolut: 2.070.014 Stimmen) und 7 Parlamentssitzen bedeutete dies eine klare Steigerung, zumal die AfD ihr absolutes Stimmenergebnis wegen der höheren Wahlbeteiligung sogar verdoppeln konnte.[183] Angesichts noch höherer Erwartungen im Vorfeld der Wahl zeigte sich die Partei dennoch enttäuscht.[184] Die AfD ist im EU-Parlament der Fraktion „Freiheit und Demokratie“ beigetreten, die sich aus 73 Abgeordneten des französischen Rassemblement National, des belgischen Vlaams Belang, der Freiheitliche Partei Österreichs, der Wahren Finnen, der Dänischen Volkspartei, der tschechischen Partei Freiheit und direkte Demokratie und der estnischen Konservative Volkspartei zusammensetzt. Sie ist damit zurzeit die fünftgrößte Fraktion im Europäischen Parlament.

Bei der gleichzeitig mit der Europawahl stattfindenden Bürgerschaftswahl in Bremen erhielt die AfD 6,12 % der Stimmen und damit fünf Sitze in der Bürgerschaft. Im Vergleich zur Bürgerschaftswahl 2016 konnte die Partei lediglich 0,6 Prozentpunkte hinzugewinnen.

Im Vorfeld der drei Landtagswahlen in Ostdeutschland inszenierte sich die AfD als Erbin der DDR-Bürgerrechtsbewegung im Wendejahr 1989 und versuchte, den damit einhergehenden Mythos plakativ auf Veranstaltungen und bei Veröffentlichungen zu vereinnahmen. Im Zuge dessen wurden Slogans wie „Wir sind das Volk“, „Vollende die Wende“, „Wende 2.0“ oder „Werde Bürgerrechtler“ propagiert und skandiert. Das politische System der Bundesrepublik Deutschland wurde somit in die Nähe des DDR-Regimes gerückt.[185]

Bei der Landtagswahl in Brandenburg am 1. September 2019 erhielt die AfD 23,6 % der Zweitstimmen (absolut: 297.484). Damit konnte die Partei ihr Ergebnis im Vergleich zum Stimmenanteil von 12,2 % (absolut: 120.077) bei der vorherigen Landtagswahl 2014 nahezu verdoppeln, wobei sie ihr absolutes Stimmenpotenzial aufgrund der höheren Wahlbeteiligung sogar um das 2,5-fache steigerte.[186]

Bei der ebenfalls am 1. September 2019 stattfindenden Landtagswahl in Sachsen erreichte die AfD sogar 27,5 % der Wählerstimmen (absolut: 595.671), was nahezu einer Verdreifachung ihres Wahlresultats von 9,7 % (absolut: 159.601) im Jahr 2014 entsprach. Noch drastischer dabei waren die Zugewinne der AfD mit einer 3,7-fachen Steigerung im absoluten Stimmenvergleich.[187]

Schließlich erzielte die AfD bei der Thüringischen Landtagswahl am 27. Oktober 2019 mit 23,4 % der Wählerstimmen (absolut: 259.382) erneut ein sehr gutes Ergebnis und konnte ihr Resultat aus 2014 von 10,6 % (absolut: 99.545) mehr als verdoppeln, wobei angesichts einer wiederum höheren Wahlbeteiligung bei den absolut erzielten Stimmen der Steigerungsfaktor von 2,5 erneut nach deutlicher ausfiel.[188]

Hervorzuheben bei den drei ostdeutschen Landtagswahlen ist die hohe Präsenz von „Flügel“-Anhängern in den neuen Fraktionen und vor allem die Tatsache, dass mit Andreas Kalbitz (MdL, BB), Jörg Urban (MdL, SN und Vorsitzender im AfD-Landesverband Sechsen) und Björn Höcke (MdL, TH) alle drei Spitzenkandidaten als zentrale Protagonisten dem „Flügel“ zuzurechnen sind.

Die Wahlresultate in Brandenburg, Sachsen und Thüringen führten 2019 zu einem deutlich selbstbewussteren Auftreten der ostdeutschen Landesverbände, die in der Folge auch mehr Einfluss in der Bundespartei einforderten. So äußerte Björn Höcke im Rahmen einer Pressekonferenz am 28. Oktober 2019:

„Wahlsieger wollen natürlich auch repräsentiert werden in den wichtigsten Gremien der Partei. […] Ich bin der festen Überzeugung, dass der Wahlerfolg im Osten, dass de Volksparteiwerdung im Osten auch etwas mit unserem Ansatz des solidarischen Patriotismus zu tun hat. Und ich glaube auch, dass dieser solidarische Patriotismus das Erfolgsmodell für die Gesamtpartei sein kann und sein sollte, wenn wir in den nächsten Jahren dann eine gesamtdeutsche Volkspartei werden wollen.“[189]

Die nächste Möglichkeit, diesen Anspruch umzusetzen, war der am 30. November und 1. Dezember 2019 in Braunschweig (NI) stattfindende Bundesparteitag der AfD. Im Mittelpunkt des Delegiertenparteitags standen die Neuwahlen des Bundesvorstands und des Bundesschiedsgerichts.

Bei der Neuwahl des AfD-Bundesvorstands wurde der bisherige Bundessprecher Jörg Meuthen in seinem Amt bestätigt. Zum Nachfolger des scheidenden zweiten Bundessprechers Alexander Gauland wurde dessen Wunschkandidat Tino Chrupalla (SH) gewählt. Andreas Kalbitz wurde – ungeachtet der Debatte um seine eindeutig rechtsextremistischen Bezüge in der Vergangenheit – abermals in den Bundesvorstand gewählt, was als Zugeständnis an den „Flügel“ zu verstehen war. In der neuen Zusammensetzung des Bundesvorstands spiegelte sich nicht unmittelbar eine deutliche Kräfteverschiebung zugunsten des „Flügel“ wider, doch konnte er durch die Wahl seiner Favoriten in den Bundesvorsand sowie durch vorausgegangene strategische Absprachen und Bündnisse indirekt mehr Einfluss auf die politische Ausrichtung der Gesamtpartei ausüben. Für die zum wiederholten Mal auf der Tagesordnung stehende Abschaffung der Unvereinbarkeitsliste fand sich erneut keine Mehrheit an Delegiertenstimmen.

Zwar zeigte sich wie bereits beim Hannoveraner Bundesparteitag im Jahr 2017 auch in Braunschweig eine deutliche Fragmentierung der Gesamtpartei in unterschiedliche Strömungen und Lager, aber dies wurde gemildert durch offenkundige Personalabsprachen im Vorfeld des Parteitags, an die sich die diversen Akteure auch hielten. „Der Flügel“ trat somit innerhalb der AfD als relevante Kraft auf, die zwar ohne die Unterstützung anderer Parteiströmungen über keine eigene Mehrheit verfügte, allerdings aufgrund der ihr zukommenden Sperrminorität die eigene Machtbasis ausbauen konnte. So vermochte „Der Flügel“ die Wahl von aus seiner Sicht unliebsamen Politikern wie Georg Pazderski, MdL (BE), Albrecht Glaser, MdB (HE) oder Uwe Junge, MdL (RP) zu verhindern.

In einzelnen westlichen AfD-Landesverbänden brachen 2019 heftige Richtungsauseinandersetzungen zwischen bürgerlich-konservativen und völkischen Kräften aus, mithin zwischen Gegnern und Anhängern des „Flügel“ um Björn Hocke. Dies galt vor allem für den Machtkampf im mitgliederstärksten Landesverband Nordrhein-Westfalen, wo sich die beiden damaligen Landessprecher Helmut Seifen als entschiedener Höcke-Gegner und Thomas Röckemann (MdL, NW und stellv. Sprecher im Bezirksverband Detmold) als profilierter „Flügel“-Anhänger unversöhnlich gegenüberstanden. Auf einem Sonderparteitag der AfD Nordrhein-Westfalen am 6/7. Juli 2019 in Warburg (NW) traten neun der zwölf Vorstandsmitglieder – darunter Seifen selbst – aus Protest gegen den Einfluss der völkischen Kräfte von ihren Ämtern zurück. Ein nicht mehr beschlussfähiger Rumpfvorstand von drei Mitgliedern um Röckemann blieb bis zum Landesparteitag am 5. Oktober 2019 in Kalkar (NW) im Amt, der schließlich Rüdiger Lucassen zum neuen und bis heute amtierenden Landesvorsitzenden wählte.[190]

In Bayern war die dortige AfD-Landtagsfraktion Gegenstand innerparteilicher Auseinandersetzungen, wobei die Fraktionsvorsitzende Katrin Ebner-Steiner (MdL, BY, Vorsitzende im Kreisverband Deggendorf und Unterstützerin des „Flügel“) selbst und deren völkisch-nationalistischer Kurs im Mittelpunkt des Konflikts standen. Dieser spitzte sich so sehr zu, dass mehrere AfD-Abgeordnete Strafanzeige gegen die eigene Vorsitzende stellten. Sie warfen Ebner-Steiner vor, private E-Mails, in denen ihr Rücktritt gefordert worden war, unrechtmäßig veröffentlicht zu haben. Die Fraktion ist unverändert tief gespalten.[191]

Neben ideologischen Richtungsauseinandersetzungen war die AfD 2019 auch mit verschiedenen Spenden- und Finanzaffären belastet: So erhielt Jörg Meuthen im April 2019 einen Sanktionsbescheid der Bundestagsverwaltung über 270.000 Euro wegen der Entgegennahme illegaler Parteispenden im baden-württembergischen Wahlkampf 2016. Die Schweizer Firma Goal AG hatte Inserate, Flyer und Plakate für Meuthens Wahlkampf unzulässig finanziert. Das Verwaltungsgericht Berlin bestätigte die Sanktionszahlung mit Beschluss vom 9. Januar 2020. 2018 erhielt die „Flügel“Galionsfigur Björn Höcke einen Strafbescheid über 34.000 Euro, weil Einnahmen aus den Kyffhäusertreffen nicht deklariert worden waren. Ein weiterer Sanktionsbescheid der Bundestagsverwaltung gegen die AfD erging im November 2020 im Zusammenhang mit illegalen Spenden in Höhe von rund 132.000 Euro im Bundestagswahlkampf 2017 an den AfD-Kreisverband Bodensee. Es handelte sich um den Kreisverband der heutigen Vorsitzenden der AfD-Bundestagsfraktion Alice Weidel. Die Gelder gingen in verschiedenen Tranchen ein, ohne dass die Spender nachvollziehbar waren. Dies stellt laut Bundestagsverwaltung eine illegale Spendenpraxis dar, die in dreifacher Höhe – im vorliegenden Fall knapp 400.000 Euro – zu sanktionieren ist.[192]

Nach einem durchgehend erfolgreichen Wahljahr 20419 musste die AfD bei der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft am 23. Februar 2020 erstmals einen leichten Rückschlag hinnehmen. Sie erhielt 5,3 % der Wählerstimmen (absolut: 215.306) und büßte im relativen Vergleich zum Ergebnis von 6,1 % (absolut: 214.033) im Jahr 2015 0,8 Prozentpunkte ein. Die AfD erreichte aber absolut das gleiche Stimmenpotenzial wie 2015, konnte jedoch nicht von der höheren Wahlbeteiligung 2020 profitieren.[193]

3. März 2020 bis zur Gegenwart

Nachdem sich die im Januar 2018 festgestellten hinreichenden Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung im Laufe des Jahres zur Gewissheit verdichtet hatten, stufte das BfV den „Flügel“ am 12. März 2020 zur erwiesen extremistischen Bestrebung ein. Am gleichen Tag erklärte zudem das AfV Thüringen den Thüringer Landesverband der AfD zum Verdachtsfall, nicht zuletzt wegen starker Überschneidungen des Landesverbandes mit dem „Flügel“.

Nach der Höherstufung zum erwiesenen Extremismus im Rahmen einer Pressekonferenz des BfV am 12. März 2020 wandte sich die AfD-Bundesführung in einem Brief an ihre Mitglieder und kündigte eine Gegenstrategie an:

„Auch im Fall einer ‚Beobachtung‘ werden wir uns natürlich rechtlich zur Wehr setzen. Seien Sie versichert: Wir lassen uns nicht überraschen und haben bereits entsprechende Strategien vorbereitet.“[194]

Ähnliche Ankündigungen hatte Roland Hartwig, damaliger Leiter der Arbeitsgruppe Verfassungsschutz (AG VS), bereits im Dezember 2019 getätigt:

„Wenn der Verfassungsschutz – politisch – eines Tages noch weiter gehen solle, die gesamte Partei beobachten würde und vielleicht sogar Teile der Partei als begründet rechtsextrem beobachten würde, dann werden wir auf jeden Fall sofort vor Gericht ziehen.“[195]

Nur drei Tage vor der Pressekonferenz am 12. März 2020 hatten der AfD-Bundesvorstand und die JA einstweilige Rechtsschutzverfahren gegen das Bundesministerium des Innern mit der Forderung angestrengt, in dem entstehenden Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2018 die JA nicht als Verdachtsfall und den „Flügel“ nicht als Verdachtsfall oder erwiesene rechtsextremistische Bestrebung zu benennen. Am 28. Mai 2020 lehnte das VG Berlin beide Anträge ab. Die Beschlüsse wurden vom OVG Berlin-Brandenburg am 18. Juni 2020 bestätigt.[196]

Der AfD-Bundesvorstand beschloss vor dem Hintergrund der Höherstufung des „Flügel“ am 20. März 2020, dass dieser sich auflösen solle, und fordere ihn mit Frist bis zum 30. April 2020 auf,

„1) zu erklären, dass alle Obleute (Landesbeauftragten) abberufen und diese Strukturen aufgelöst sind; 2) die Logonutzung ‚Der Flügel‘ zu beenden und alle eingetragenen und/oder beantragten Wort- und/oder Bildmarken an eine vom Bundesvorstand beauftrage Markenrechts-Kanzlei zu übertragen; 3) die Webseite(n) des ‚Flügels‘ abzuschalten; 4) den ‚Flügel‘-Onlineshop zu schließen sowie 5) die ‚Flügel‘-Facebookseite(n) sowie – falls vorhanden, ebenso Instagram und/oder Twitter-Accounts – zu beenden und die Admin-Rechte soweit möglich an die Bundesgeschäftsstelle zu übertragen.“[197]

Damit würden nun, so Meuthen, die „Institutionellen Strukturen“ des „Flügel“ endgültig „zerschlagen“.[198] Bald darauf distanzierte er sich jedoch von seiner Aussage. Er habe deren Veröffentlichung nie autorisiert und solche Äußerungen „sei(en) eigentlich nicht“ seine Sprache.[199] Meuthen hatte ursprünglich mit einem Antrag im Bundesvorstand darauf gedrungen, den „Flügel“ aufzufordern, sich bereits bis Ende März aufzulösen.[200] Er beschrieb den „Flügel“ in diesem Zusammenhang mit Begriffen, die erkennbar Assoziationen mit dem Kompositum „Nationalsozialismus“ hervorrufen sollen:

„Auf der einen Seite vertritt der Flügel scharfe nationalistische Positionen, auf der anderen Seite ergebt er Forderungen, die dem Sozialismus nahestehen. So etwas hat in der AfD keinen Platz und entspricht nicht unserer Programmatik.“[201]

Der Cheforganisator des „Flügel“, Andreas Kalbitz – der als einziges Bundesvorstandsmitglied gegen die Auflösungsaufforderung stimmte, während sich mit Stephan Brandner (MdB) ein weiterer „Flügel“-Sympathisant der Stimme enthielt – bezeichnete den Beschluss als „Wahnsinn“.[202] Doch selbst auf Ebene der „Flügel“-Führungspersonen herrschten zunächst widersprüchliche Aussagen vor.

Am Tag nach dem Vorstandsbeschluss, dem 21. März 2020, erschien ein Interview Höckes mit Götz Kubitschek, dem Leiter des neurechten Institut für Staatspolitik (IfS), in der Online-Ausgabe von dessen Zeitschrift Sezession. Darin äußerte Höcke, „Der Flügel“ setze – als erfolgreiches Projekt und nunmehr mit Blick auf einen veränderten Wirkungsmodus – schon „längst“, also unabhängig von dem Vorstandsbeschluss, „seine Historisierung“ um.[203] Höcke zufolge war „Der Flügel“ nämlich nie Selbstzweck, sondern Mittel zur politischen Kurskorrektur der Gesamtpartei:

„Ohne den ‚Flügel‘ wäre die AfD keine Alternative mehr, sondern vielleicht gerade noch eine Art eigenständige WerteUnion, also ein Mehrheitsbeschaffer von Merkels Gnaden. Das hat der ‚Flügel‘ verhindert.“

„Der Flügel“ hat also nach Einschätzung Höckes erfolgreich im Sinne seines Gründungszwecks auf dies Gesamtpartei ein- und in sie hineingewirkt, weshalb er seine Bestimmung erfüllt und sich gleichsam überflüssig gemacht habe, sodass die Selbstauflösung von „Flügel“-Protagonisten ohnehin schon ins Auge gefasst worden sei:

„Nun geht das, worüber wir längst nachdenken [Anm.: die Auflösung des ‚Flügel‘], eben schneller.“

Diese formale Auflösung bedeutet also keineswegs, dass die Inhalte und politischen Ziele des „Flügel“ obsolet geworden wären, sie sollen vielmehr im Rahmen der Gesamtpartei Verbreitung und Anwendung finden:

„Unsere Arbeit weist über den Flügel hinaus, Andreas Kalbitz, ich selbst und alle anderen politikfähigen ‚Flügler‘ werden ihren politischen Kurs im Sinne der AfD weiterführen.“[204]

In einer auf Facebook veröffentlichten Botschaft an die „Freunde des Flügels“ am 25. März 2020 schrieben Höcke und Kalbitz unter der Überschrift „Björn Höcke und Andreas Kalbitz zur ‚Auflösung‘ des Flügels“ („Auflösung“ wurde in distanzierende Anführungszeichen gesetzt) u.a. Folgendes:

„Damit wir die internen Angriffe von außen überstehen, brauchen wir starke Nerven und einen kräftigen Zusammenhalt, der auch mit der Beendigung der Aktivitäten des Flügels fortbesteht. […] Der politische Einsatz geht weiter und fordert unsere ganze Kraft.“[205]

Der in dieser Botschaft offiziell angekündigten Auflösung gingen widersprüchliche Aussagen des „Flügel“ selbst voraus. So war auf „Der Flügel“-Facebook-Seite bereits am 21. März 2020 zu lesen:

„Schweren Herzens haben wir heute entschieden, dass sich die Wertgemeinschaft des Flügels gemäß dem Beschluss des Bundesvorsands auflösen wird. Wir tun das in der Hoffnung, dass dies dem Wohl der gesamten Partei dienen wird.“[206]

Noch am selben Tag wurde diese Mitteilung jedoch gelöscht und ersetzt durch:

„Die kursierenden Medienmeldungen über einen angeblich heute gefassten ‚Beschluss zur Auslösung des Flügels‘ sind unzutreffend.“[207]

Wenige Tage später, am 24. März 2020, bestätigte Kalbitz dann gegenüber der Presse, „Der Flügel“ werde dem Beschluss des Bundesvorsands nachkommen.[208] Zum 30. April 2020 wurde „Der Flügel“ dann formal aufgelöst, d. h. der bestehende Internetauftritt und alle Profile und Accounts des „Flügel“ wurden gelöscht. Auch fanden seitdem offiziell keine Veranstaltungen unter dem Begriff „Flügel“ statt. Ebenso wurde das „Flügel“-Logo nicht mehr verwendet. Ungeachtet dieser öffentlich wahrnehmbaren Handlungen könnte in der Folgezeit dennoch festgestellt werden, dass das hinter dem „Flügel“ stehende Personennetzwerk die bisherige Bestrebung in informellerer Form fortführte. So sind z. B. auch nach April 2020 Veranstaltungen feststellbar, in denen als Redner ausschließlich Anhänger und Funktionäre des „Flügel“ teilnehmen und die deshalb als erheblich „Flügel“-beeinflusst einzustufen sind.

Nach der Aufforderung des Bundesvorstands an den „Flügel“, sich selbst aufzulösen, legte Jörg Meuthen nach und brachte am 1. April 2020 in einem Interview mit der Onlineausgabe von Tichys Einblick eine Abspaltung des „Flügel“ von der AfD ins Gespräch. So sagte Meuthen:

„Jeder weiß, dass der Flügel und dessen maßgebliche Exponenten uns ganz massiv Wählerstimmen im bürgerlichen Lager kosten, und ich denke auch, dass die ordoliberalen Ansichten des bürgerlich-konservativen Teils der AfD noch bessere Ergebnisse im staatspaternalistisch geprägten Wählermilieu des Flügels verhindern. […]

An eine AfD ohne Flügel würde die Union scharenweise sich als konservativ verstehende Wähler verlieren, und für die beliebige und mutlose FDP, die sich ja nur noch mit der verschreckten AfD-Klientel über Wasser halten kann, wäre das wohl unmittelbar existenzbedrohend. Auf der anderen Seile würde ein in seinem sogenannten Sozialpatriotismus nicht mehr durch Freiheitliche wie mich eingeschränkter Flügel der Linkspartei im Osten vermutlich auch noch weitere Wähler abnehmen. […]

Insgesamt ließen sich so [Anm.: mit einer Spaltung in zwei Parteien] mehr und nicht etwa weniger Wähler erreichen als in der derzeitigen, wenn man einmal ehrlich ist, permanent konfliktträchtigen Konstellation. Es ist insofern eine Torheit, sich der Bereitschaft, diesen Weg auch nur zu denken, nicht einmal ergebnisoffen zu stellen, und stattdessen wie alte Sozialistenkader permanent das Hohelied der Einigkeit zu singen, wo man Einigkeit in vielen Politikfeldern selbst mit der Lupe suchend kaum wird erspähen können. Das Parteimotto ‚Mut zur Wahrheit‘ tut hier bitter not.“[209]

Dieser Spaltungsvorschlag wurde Medienberichten zufolge im Bundesvorsand und von vielen hochrangigen Parteimitgliedern scharf kritisiert.

So wurde im April 2020 auf einer eigens eingerichteten Homepage die sogenannte Dresdner Erklärung veröffentlicht, die als Initiative von führenden Mitgliedern des sächsischen Landesverbandes angesehen werden kann. So wird im Impressum als Verantwortlicher für die Homepage der sächsische Landtagsabgeordnete Norbert Mayer genannt. Weiterhin befinden sich unter den 28 Erstunterzeichnern u. a. der Landesvorsitzende Jörg Urban, der stellvertretende Landesvorsitzende Siegbert Droese, der Generalsekretär des Landesverbandes Jan Zwerg, die stellvertretende Schatzmeisterin Doreen Schwietzer, die drei Beisitzer im Landesvorstand Sebastian Wippel, Karsten Hilse und Andreas Harlaß sowie der Bundessprecher Tina Chrupalla. Darüber hinaus gehören auch zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger des zum damaligen Zeitpunkt nach nicht formal aufgelösten „Flügel“ zu den Unterzeichnern, so z.B. Andreas Kalbitz, Martin Reichardt, Oliver Kirchner, Jens Kestner, Thomas Röckemann, Dubravko Mandic, Paul Traxl und Christina Baum. Diese Aufzählung verdeutlicht, dass die Erklärung ursprünglich zwar als sächsische Initiative zu betrachten war, im weiteren Verlauf allerdings eine bundesweite Resonanz erfuhr.[210a]

Nach Ansicht der Unterzeichnenden befindet sich Deutschland gegenwärtig in einer schweren Krise, weshalb man sich mit seiner ganzen Kraft einsetze müsse, um letztlich „in einer dem inneren und äußeren Frieden verbundenen, freiheitlichen und sozial ausgewogenen Gesellschaft zu leben, in der wir uns als Deutsche wiederfinden und wohl fühlen können“.

In der zentralen Passage der Erklärung heißt es:

„Wir erklären hiermit, dass wir vor dem Hintergrund der Verantwortung, die auf uns lastet, fürderhin in unseren Reihen nur solche Personen respektieren und fördern werden, die sich diesem Ziel verpflichtet sehen und die sich unmissverständlich und glaubhaft in Wort und Tat zur Einheit der Partei bekennen.“[210b]

Besonders der Verweis auf die Einheit der Partei kann dabei als Kritik am Vorschlag von Jörg Meuthen verstanden werden, der von den Unterzeichnenden in aller Deutlichkeit zurückgewiesen wurde.

Tino Chrupalla zeigte sich darüber hinaus auch an anderer Stelle von dem unabgesprochenen Vorstoß Meuthens „einigermaßen überrascht – und menschlich enttäuscht“ und äußerte, „die Einheit der Partei“ werde „niemals zur Debatte stehen“. Für die Fraktionsvorsitzende Alice Weidel war Meuthens Vorschlag „völlig verfehlt“.[210c] Der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland wertete die Idee als „wenig zielführend und extrem unpolitisch“ ab. Die stellvertretende Bundesvorsitzende Beatrix von Storch schrieb, sie halle „NICHTS von diesen Gedankenspielen“.[211] Höcke fand Meuthens Vorschlag „töricht und verantwortungslos“, das Abspalten von „relevanten Gruppen oder gar die Spaltung der Partei“ wären ein Zeichen des Scheiterns.[212]

Zustimmung erhielt der Vorschlag nur vereinzelt, so etwa von Georg Pazderski (MdA).[213] Entsprechend rasch distanzierte sich Meuthen wieder von seiner eigenen Idee und betonte, es habe sich um einen „strategischen Denkansatz“ und nicht um eine „konkrete Forderung“ gehandelt.[214] Zur überwiegenden Ablehnung seines Vorschlags bekundete Meuthen:

„Es ist unübersehbar, dass der Wille zur Einheit alles andere überlagert. Und dann ist auch so vorzugehen.“[215]

Im April 2020 wurde aufgrund dieses Interviews sogar ein Parteiausschlussverfahren gegen den Bundesvorsitzenden diskutiert, da dessen Aussagen der AfD laut Beschlussvorlage „sehr geschadet“ hätten. Ein weiterer Vorwurf in diesem Zusammenhang zielte auf Meuthens Äußerung, nicht alle Mitglieder des „Flügel“ stünden komplett auf dem Boden des Grundgesetzes. Eingebracht wurde der Vorschlag zum Parteiausschlussverfahren von Co-Bundessprecher Tino Chrupalla und den Vorstandsmitgliedern Alice Weidel und Stephan Brandner. Meuthen lenkte schließlich ein und sprach von einem Fehler, weshalb er ein Ausschlussverfahren, das sieben von dreizehn Parteivorständen anlehnten, letztlich abwenden konnte. In einem einstimmigen Beschluss, der an alle AfD-Mitglieder versandt wurde, stellte der Parteivorstand aber nochmals die Schwere des Fehlers in Meuthens Verhalten heraus, was für ihn eine gravierende öffentliche Demütigung und damit auch Schwächung bedeutende.[216]

Mehrfach halle Meuthen in den vergangenen zwei Jahren versucht, zumindest nach außen auf ein gemäßigteres Erscheinungsbild der AfD hinzuwirken. Bereits im Februar 2019 warnte Meuthen auf dem baden-württembergischen Landesparteitag in Heidenheim, wer seine „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ausüben“ wolle, sei in der AD falsch. Björn Höcke entgegnete diesen Angriffen auf dem „Kyffhäusertreffen“ des „Flügel“ im Juli 2019 mit der Ankündigung, er garantiere, dass beim nächsten Bundesparteitag „der Bundesvorstand in dieser Zusammensetzung nicht wiedergewählt“ werde.[217]

Mitte April 2020 forderte der AfD-Bundesvorstand mit Blick auf die im BfV-Gutachten dargelegten rechtsextremistischen Bezüge von Kalbitz diesen mit einer knappen Mehrheit – sieben Ja-Stimmen‚ vier Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen – auf, detailliert über seine Mitgliedschaften in politischen Organisationen und Vereinigungen Auskunft zu geben.[218] In einer fünfseitigen Stellungnahme räumte Kalbitz ein, es sei „durchaus möglich und wahrscheinlich“, dass sein Name auf einer „Interessen- oder Kontaktliste“ der Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) – einer neonazistischen Vereinigung, die 2009 vom Bundesministerium des Innern verboten wurde – auftauche. Er habe jedoch lediglich zwei Veranstaltungen der HDJ aufgesucht und sei zu keinem Zeitpunkt dort oder in einer anderen rechtsextremistischen Vereinigung Mitglied gewesen.[219]

Am 15. Mai 2020 beschloss der Bundesvorstand, Kalbitz‘ AfD-Mitgliedschaft aufgrund der von ihm verschwiegenen Mitgliedschaften in der HDJ und in der Partei Die Republikaner zu annullieren. Die Entscheidung erfolgte mit sieben Ja- und fünf Nein-Stimmen sowie einer Enthaltung.

Meuthen, der diesen Antrag maßgeblich forciert hatte, verwies darauf, es gehe ausschließlich um eine rechtliche, nicht um eine politische Bewertung von Kalbitz‘ Vergangenheit, weshalb damit auch keine Aussage über seine gegenwärtigen politischen Auffassungen getroffen werde.[220] An anderer Stelle betonte Meuthen jedoch:

„Wenn wir die AfD zusammenhalten wollen, müssen wir eine faste Brandmauer gegen Rechtsextremisten errichten.[221]

Dass sich Meuthens Einschätzung auch zu Kalbitz‘ politischer Ausrichtung geändert haben könnte, deutete er in einer weiteren Äußerung an:

„Er [Anm.: Kalbitz] hat sich auch in keiner Weise von dieser rechtsextremen Vergangenheit losgesagt. Die HDJ war eine neonazistische Organisation, die später verboten wurde. Ich habe von Herrn Kalbitz nur gehört: Ich kann mich ja nicht von mir selbst distanzieren. […] Er hat sich von seiner rechtsextremen Vergangenheit nicht glaubhaft distanziert. […] Wenn Sie das Puzzle zusammensetzen, dann besteht für uns kein Zweifel daran, dass Herr Kalbitz Mitglied der HDJ war.“[222]

Meuthen räumte Versäumnisse im Umgang mit Kalbitz ein, als er bekundete:

„Wenn man sauberer recherchiert hätte, dann hätte man manche Erkenntnis früher haben können. […] Insofern habe ich da einiges nicht wahrgenommen. Das hätte man vielleicht wissen können. Ich habe es aber nicht gewusst.“[223]

Der Umgang des Bundesvorsands mit Kalbitz wurde von Roman Reusch (MdB und Beisitzer im AfD-Landesverband Brandenburg) – ehemals leitender Staatsanwalt in Berlin und seinerzeitiges Mitglied der AG VS – als „Dilettantismus“ bezeichnet, stütze sich der Beschluss doch auf das BfV-Gutachten, gegen das die AfD zur gleichen Zeit juristisch vorgehe.[224]

Gegen die Entscheidung des Bundesvorstands ging Kalbitz im Wege des Eilrechtsschutzes beim Landgericht Berlin vor. Dieses gab seinem Antrag statt und erklärte damit im Juni 2020 die Annullierung seiner Mitgliedschaft für unzulässig. Das Bundesschiedsgericht der AfD bestätigte aber am 25. Juli 2020 erneut den Beschluss des Bundesvorstands. Auch gegen diese Entscheidung ging Kalbitz im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vor. Sein Eilantrag vor dem Landgericht Berlin blieb jedoch erfolglos. Die Berufung Kalbitz‘ gegen die Entscheidung des Landgerichts Berlin wies das Kammergericht Berlin am 22. Januar 2021 zurück. Gegen dieses Urteil des Kammergerichts ist im Eilverfahren kein weiteres Rechtsmittel statthaft.[225]

Somit ist Kalbitz aktuell nicht mehr Mitglied der Partei, gehört allerdings als parteiloser Abgeordneter weiterhin der brandenburgischen AfD-Landtagsfraktion an, die dafür eigens ihre Geschäftsordnung änderte.

Neben Andreas Kalbitz verlor mit dem Bundestagsabgeordneten Frank Pasemann ein weiterer prominenter Anhänger des „Flügel“ im Jahr 2020 seine Mitgliedsrechte. Er wurde auf Beschluss des Landesschiedsgerichts Sachsen-Anhalt im August 2020 aus der Partei ausgeschlossenen. Diesen Beschluss bestätigte das Bundesschiedsgericht schließlich im November 2020.

Nach dem elektoral erfolgreichen Jahr 2019 war 2020 also besonders durch den inzwischen offen ausgetragenen Machtkampf zwischen den unterschiedlichen Parteilagern geprägt, wobei sich zwei Blöcke herausgebildet haben: zum einen der Block um den Bundessprecher Jörg Meuthen, und zum anderen der Block um Björn Höcke, dem neben den Anhängern des formal aufgelösten „Flügel“ auch einflussreiche Vertreter der Bundespartei, wie Meuthens Co-Bundessprecher Tino Chrupalla und die beiden Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Alice Weidel und Alexander Gauland, zugerechnet werden können. Dieser Dualismus zeigte sich auch beim Bundesparteitag 2020 am 28. und 29. November 2020 in Kalkar (NW).

Am Vortag des Bundesparteitags verabschiedete der Bundestorstand am 27. November 2020 einstimmig einen Grundsatzbeschluss zum Thema „AfD und freiheitlich-demokratische Grundordnung“, in dem es u. a, heißt:

„1. Die AfD bejaht die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes. Sie tritt aktiv für die Wahrung der Demokratie, des Rechtsstaats und für die Achtung und den Schutz der Menschenwürde ein.

2. Wenn ein Mitglied sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet, ist das ein sehr schwerwiegender Verstoß gegen die Grundsätze der Partei.

3. Wenn ein Mitglied Äußerungen tätigt, die inhaltlich mit einem der Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar sind, oder wenn ein Mitglied Äußerungen macht oder andere Verhaltensweisen vornimmt, die rechtmäßig als Anhaltspunkte für gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen der AfD gewertet werden können, ist das ein erheblicher Verstoß gegen die Grundsätze der Partei.

4. In der Praxis hat sich allerdings gezeigt, dass die Verfassungsschutzbehörden häufig Äußerungen oder andere Verhaltensweisen als Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der AfD oder einer Gliederung der Partei bewerten, obwohl sie nach Auffassung der AfD nicht so bewertet werden dürfen und die Bewertung der Verfassungsschutzbehörden nach Auffassung der AfD also rechtswidrig ist. Im Falle rechtswidriger Bewertungen der Äußerungen oder anderen Verhaltensweisen eines Mitglieds liegt kein Verstoß des Mitglieds gegen Grundsätze der Partei im Sinne von Nr. 2 oder Nr. 3 vor. Die AfD geht in geeigneter Weise gegen rechtswidrige Bewertungen der Verfassungsschutzbehörden gerichtlich vor.

5. Bei rechtlichen Streitigkeiten über Bewertungen der Verfassungsschutzbehörden geht es der AfD darum, die Offenheit des politischen Willensbildungsprozesses und die Meinungsfreiheit gegen rechtswidrige Einengungen seitens des Verfassungsschutzes und gegen die politische Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes zu verteidigen, die mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar sind.

6. Da die AfD die freiheitliche demokratische Grundordnung uneingeschränkt bejaht und sie gegen ihre Verletzung verteidigt, beruhen die Rechtsstreitigkeiten, welche die AfD gegen Verfassungsschutzbehörden führt, auf einem unterschiedlichen Verständnis davon, welche Anforderungen sich aus der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Hinblick auf Äußerungen und andere Verhaltensweisen ergeben, mitunter auch aus einer unterschiedlichen Interpretation einzelner verfassungsrechtlicher Anforderungen. Im Streit um die richtige Interpretation kann am Ende eines gerichtlichen Verfahrens nur eine Seite Recht bekommen. Die AfD erklärt hiermit, dass sie nach Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten das Ergebnis der letztinstanzlichen Entscheidung, gegebenenfalls der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, akzeptieren wird. Das heißt konkret insbesondere: Falls sich herausstellen sollte, dass bestimmte Äußerungen, die nach Auffassung der AfD verfassungskonform sind, nach der letztinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Entscheidung und gegebenenfalls nach Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht vom Verfassungsschutz zutreffend als Anhaltspunkte für gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen gewertet worden sind, wird die AfD solche Äußerungen künftig unterlassen und mit den Mitteln des Parteiordnungsrechts dies auch gegenüber ihren Mitgliedern durchsetzen.“[226]

Neben der Verabschiedung eines sozialpolitischen Programms stand außerdem die Neuwahl eines Beisitzers im Bundesvorstand (Nachfolge von Andreas Kalbitz), des Bundesschatzmeisters sowie mehrerer Rechnungsprüfer und Richter/Ersatzrichter für das Bundesschiedsgericht auf der Tagesordnung. Die inhaltlichen Debatten um die Verabschiedung des sozialpolitischen Leitantrags gerieten allerdings in den Hintergrund, nachdem Jörg Meuthen in seiner Rede am ersten Veranstaltungstag verschiedene Entwicklungen in der Partei – darunter die ständige verbale Radikalisierung, die Orientierung an unzeitgemäßen Lösungsmustern der Vergangenheit für Probleme des 21. Jahrhunderts oder die Solidarisierung mit abseitigen Positionen bei den Protesten gegen Maßnahmen zur Eindämmung der SARS-CoV-2-Pandemie – scharf kritisiert hatte.

Dass seine vorgetragene Kritik auf Verwunderung und auch Ablehnung stoßen werde, war Meuthen offenbar bewusst. So erklärte er zu Beginn die Motivation für seine Rede damit, in den aktuellen innerparteilichen Entwicklungen eine Gefährdung für die bisherigen Erfolge zu sehen:

„Meine ursprüngliche Absicht war dann die, die Rededauer – jedenfalls schwerpunktmäßig – für eine inhaltliche Hinführung zu einer Befassung mit unserem Schwerpunktthema dieses Parteitages zu nutzen und vor allem zu unseren Ansätzen zu einer modernisierten und zukunftsfesten alternativen Sozialpolitik zu sprechen. Das werde ich aber heute aber anders halten. Weil dieses Thema zwar in der Tat höchst wichtig ist, […] aber es gibt – und ich muss sagen leider – noch Wichtigeres, wozu ich meine zu Ihnen sprechen zu müssen, darum hier jetzt nur einführend ganz kurze Anmerkungen zu Leitantrag und ergänzenden Anträgen, […] Und nun zu dem, was ich für unsere Partei in ihrer derzeitigen Phase als nach gravierender erachte als diese sozialpolitischen Reformüberlegungen. Liebe Freude, seien wir bitte ehrlich miteinander und legen wir auch darin den Mut zur Wahrheit an den Tag, den wir uns doch aus gutem Grund auf die Fahnen geschrieben haben. Wenn wir das tun und einmal einen Blick von außen auf unsere Partei werfen, dann sind wir – nach inzwischen sieben Jahren einer in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einmaligen Erfolgsgeschichte – nun an einem Punkt angelangt, an dem es nicht mehr automatisch immer weiter nach oben geht und sich Wahlerfolg an Wahlerfolg reiht. Erstmals müssen wir sogar auf breiterer Front gewahr werden, dass alle unsere bisherigen Erfolge, mit denen wir die Altparteien aufgemischt haben, wie es niemanden vor uns gelungen ist, nun gefährdet sind wie noch nie.“[227]

In der Folge definierte Meuthen zwei Grundvoraussetzungen, die aus seiner Sicht für die Einheit einer Partei unverzichtbar sind:

„Und da sage ich, es machen sich einige vom einfachen Mitglied bis in die Führungsriege derzeit leider etwas zu einfach. Die fehlende Einheit und Geschlossenheit sei schuld. Die fehle und deshalb müssten wir nur alle zusammenstehen und dann wäre schwupps das Problem gelöst. Klingt plausibel, ist aber, ich sage das klar und deutlich, zu einfach. Einheit in was denn? Eine echte, nicht nur gespielte, Einheit besteht immer in einer hinlänglichen Summe an inhaltlichen Gemeinsamkeiten als elementare Grundvoraussetzung. […] Gelebte Einheit, liebe Freunde, verlangt zweitens eben nicht nur eine hinreichend hohe Gemeinsamkeit an inhaltlichen Positionen, sondern auch an sozialen Verhaltensweisen und gemeinsamen oder jedenfalls kompatiblen Sprachgebrauch. Und ist das nicht vorhanden, dann wird die Forderung nach Einheit und Zusammenhalt zur leeren Worthülse. Oder schlimmer noch, zu einer pseudo-moralischen Erpressung. Wissen Sie, wer sich erst in Wort oder Handeln tüchtig daneben benimmt, um dann aber sogleich die Solidarität der ganzen Partei mit diesem Verhalten einzufordern, versucht, Parteimitglieder in eine Kollektivhaftung für das eigene Fehlverhalten zu nehmen. Und ich halte es für indiskutabel, das dann als ein Verlangen nach vermeintlich unabdingbarer Einheit zu bezeichnen. Nein liebe Freunde, ich will hier ganz deutlich sein, lassen wir ruhig die im Regen stehen, die nur allzu gerne rumkrakelen und rumprollen oder auch andere dazu einladen, wie wir das vergangene Woche leider im Bundestag erleben mussten, weil sie sich in der Rolle des Provokateurs gefallen wie pubertierende Schuljungen und vor allem der eigenen überschaubaren Blase zeigen wollen, was für tolle Kerle sie doch sind. Verweigern wir diesen Leuten die Geschlossenheit.“[271]

Im weiteren Verlauf mahnte Meuthen sodann eine „innerparteiliche Disziplin“ an, zu der such eine entsprechende Wortwahl gehöre. So machte er seine Kritik z. B. an der Verwendung der Begriffe „Corona-Diktatur“ und „Ermächtigungsgesetz“ fest, die aus seiner Sicht über eine scharfe Kritik an der gegenwärtigen Politik hinausgingen, da sie „im Grunde die Systemfrage“ stellten und „ganz bewusst Assoziationen an die NS-Zeit und Hitlers Machtergreifung 1933“ weckten. Dabei nahm Meuthen nicht nur einfache Mitglieder in die Verantwortung, sondern bezog seine Kritik auch explizit auf Mandats- und Amtsträger:

„Und währenddessen, und das ist das, weswegen ich diese Worte wähle, verhalten sich bei uns einige wenige, ich betone wenige, unreife und dieser Verantwortung offenkundig nicht gewachsene Mitglieder bis hin zu Mandats- und Amtsträgern wie trotzige Pubertierende mit Lust an billiger, zuweilen regelrecht flegelhafter, Provokation, in der sie sich auch noch geradezu selbstverliebt gefallen.“[272]

Die Rede, die er in einem Interview am Folgetag selbst als „Brandrede“ und „Ordnungsruf an die Partei“ bezeichnete, wurde von Teilen des Parteitags als spalterisch und als erneuter Angriff auf das konkurrierende Parteilager verstanden. Aus diesem Grund wurde zu Beginn des zweiten Veranstaltungstages ein Antrag durch den stellvertretenden Landesvorsitzenden der AfD Niedersachsen, Stephan Bothe, mit dem Ziel eingebracht, der das Ziel hatte, den eigentlich erst im späteren Verlauf zu behandelnden Sachantrag SN03 vorzuziehen. Dieser Sachantrag, eingerichtet vom Kreisvorstand Freiburg und begründet vom „Flügel“-Anhänger Dubravko Mandic, beinhaltete die Aufforderung, der Bundesparteitag möge folgende Erklärung beschließen:

„Der Bundesparteitag missbilligt das spalterische Gebaren von Bundessprecher Jörg Meuthen und seinen Parteigängern. Er stellt fest, dass der Absturz in der Wählergunst kausal genau damit zusammenhängt.[230]

Bothe begründete seinen Antrag auf Änderung der Tagesordnung folgendermaßen:

„Gestern hat Jörg Meuthen mit seiner Rede die Grundfeste dieser Partei erschüttert und da ist es doch unsere Pflicht als Parteitag, diese Rede zur Diskussion zu stellen. Gestern hat Herr Meuthen unsere Partei, die Bundestagsfraktion, unseren Ehrenvorsitzenden und am Ende auch noch Bismarck angegriffen. Hier darf der Parteitag nicht unwidersprochen das hinnehmen. Daher gilt es, diesen TOP aufzurufen. Ich will mich gar nicht mit dem Antragssteller hier gemein machen. Es wird einen Änderungsantrag aus Brandenburg geben. Aber wir als Partei müssen hier heute ein Zeichen setzen, dass wir diese Rede von Herrn Meuthen so nicht stehen lassen können und wir sie zurückwerfen.“[231]

Der Antrag Bothes wurde schließlich, nachdem zuvor bereits ein Antrag auf Nichtbefassung mit dem Sachantrag SN03 mehrheitlich abgelehnt wurde, mit 53,2 % (255 Delegiertenstimmen) angenommen, woraufhin die Diskussion eröffnet wurde. Zu Beginn wurde durch den Landesvorstand Brandenburg, vertreten durch die stellvertretende Landesvorsitzende, Birgit Bessin (MdL, BB), ein weiterer Änderungsantrag eingebracht. Dieser besagte im Wortlaut:

„Der Bundesparteitag missbilligt die Unterstellungen aus der Begrüßungsrede van Prof. Dr. Meuthen und weist diese Unterstellungen zurück.“

Bessin begründete den Antrag damit, dass Meuthen sein Rederecht missbraucht habe, was sie u. a. auf Meuthens Ärger zurückführte, dass sein eigenes Rentenkonzept nicht mehrheitsfähig gewesen sei.

In der folgenden mehrstündigen Diskussion, in deren Rahmen es zu weiteren Geschäftsordnungs- und Änderungsanträgen kam, erhielt Meuthen für seine Rede Unterstützung und Zuspruch von mehreren Delegierten. So dankte einer der Delegierten Meuthen explizit für seine Rede:

„Die Antragsteller, die sprechen immer von Einigkeit. Welche Einigkeit meinen die? Das ist die Einigkeit einer Bewegung, wie es die Antragsteller, aber auch Björn Höcke immer sagen. Das ist die Einigung, Einigkeit der neurechten Bewegung und da sind PEGIDA, Querdenker und so weiter das Harmlose. Das andere sind NPD, Neue Rechte und so weiter. Diese Einigkeit brauchen wir nicht. Wir brauchen die Einigkeit der Partei der Alternative für Deutschland und dafür steht Jörg Meuthen und dafür danke ich ihm.“[232]

Christoph Högel, stellvertretender Sprecher des Kreisverbandes Bodensee (BW), nahm diese Argumentation in seinem Beitrag ebenfalls auf:

„Wir hören hier ständig: Einigkeit, Einigkeit, Einigkeit. Aber kann es vielleicht sein, dass manche Mitlieder, nicht alle, aber manche Mitglieder den Begriff Einigkeit dazu verwenden, jegliche Kritik an Personen abzuwälzen und beispielsweise auch zu sagen: ‚Wir brauchen Einigkeit in der Sache, wir brauchen Einigkeit auf sachlicher Ebene, aber wir brauchen Einigkeit nicht, wenn es darum geht sämtliche extremistische Meinungen, die u. a. auch Herr Mandic vertreten hat – denn erinnern wir uns, er hat mal gesagt ‚Wir unterscheiden uns von der NPD weniger durch inhaltliche Sachen, sondern mehr durch unser bürgerliches Wählerspektrum.‘ Das, meine Damen und Herren, das bürgerliche Wählerspektrum, sind wir gerade dabei zu verlieren, wenn wir Herrn Meuthen hier abschießen.“[233]

Den Begriff der Einigkeit problematisierte ein weiterer Delegierter:

„Einigkeit. Einigkeit, ja das ist wichtig, aber das müssen wir von denen einfordern, die sie permanent brechen, um sich danach wieder dahinter zu verstecken. Das sind jene Leute‚ die auf einem Sarg von Herrn Meuthen tanzen. Das sind jene Leute, die in der AfD eine NPD 2.0 sehen wollen. Das sehen die meisten von uns nicht. Und das sind jene Leute, die Parteifreunde ausschwitzen wollen. Und das dürfen wir nicht zulassen.“

Der Bezirksvorsitzende der AfD Spandau (DE), Andreas Otti kritisierte zudem die Vorgehensweise der Antragsteller:

„Strategie und Taktik auf der politischen Ebene. Frau Bessin, weiche Strategie und welche Taktik verfolgen Sie? Die Strategie ist die Organisierung der entsprechenden Einzelaktionen, die am Ende des Tages zum Erfolg dieser Partei führt. Aber es sind ja nicht nur Sie, Frau Bessin oder Herr Mandic, es ist Herr Höcke. Wo ist der überhaupt? Zeigen Sie sich mal hier. Sie sind der Strippenzieher im Hintergrund, Herr Höcke, das sage ich hier ganz klar und deutlich, der nicht entscheiden kann und der nicht weiß, was politische Kampfkraft und der politische Gegenwert ist. Wir haben eine große Kampfkraft gemeinsam. Der Gefechtswert ist gleich null, wenn Sie ihre Bataillone im sumpfigen Gelände stehen fassen.“

Neben diesen unterstützenden Äußerungen zugunsten Meuthens, die dessen Rückhalt bei Teilen der Delegierten belegen, gab es auch zahlreiche Aussagen, die ihn deutlich kritisierten.

Der sächsische Landes- und Fraktionsvorsitzende Jörg Urban warf Meuthen z. B. vor, dass er mit seiner Rede die Partei gespalten habe:

„Ich kritisiere die Rede von Herrn Meuthen, weil ich nicht glaube, dass diese Diskussion unsere Partei einigt – nein sie spaltet sie noch weiter.“[234]

Das Mitglied im Bundesvorstand, Stephan Brandner (MdB), sprach in seinem Beitrag von einem schweren Schaden, den Meuthen der Partei zugefügt habe:

„Ja, liebe Freunde, ich soll den Puls runterfahren. Aber ich glaube, ich habe gar keinen Puls mehr nach dem Verlauf der Debatte. […] Es fing super an und was kam dann? Ein Torpedo von Jörg Meuthen. Er hat das torpediert, medial überlagert. Er hat schweren Schaden unserer Partei und diesem Parteitag zugefügt. Welche Motive haben ihn geleitet? Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, aber es sind keine guten Motive. Denn den Weg, den Jörg Meuthen im März dieses Jahres mit Spaltungsdebatte eingeleitet hat, führt er unbeirrt fort. Lieber Jörg, dieser Weg ist ein Irrweg. Dieser Weg ist falsch. Du spaltest die Partei. Komm zu uns zurück. Du hilfst damit nur den Altparteien. Es ist nicht gut für diese AfD, es schadet der AfD, es hilft nur den Altparteien. Jörg, komm zurück in unsere Familie, dann nehmen wir Dich auch gerne wieder auf.“[235]

Dieser Vorwurf des Zufügens eines „schweren Schaden(s)“ ist insoweit schwerwiegend, als er laut § 7 Abs. 5 der AfD-Bundessatzung die Grundlage für ein Parteiausschlussverfahren darstellt.

Der Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider, „Flügel“-Obmann in Sachsen-Anhalt, bezeichnete Meuthen in seinem Redebeitrag als „Führer ins Nichts“.[236]

Am Abend zuvor hatte er bereits in einem Interview erklärt:

„Naja, er [Anm.: Jörg Meuthen] hat eben weite Teile, weiten Teilen der Partei den Krieg erklärt. Also die Ostverbände, die waren aufgebracht. […] Er hat in den wesentlichen Fragen anders denkenden Teilen der Partei ziemlich hart den Krieg erklärt. Dies betrifft die Ostverbände. Wir in Sachsen-Anhalt, wir haben von Anfang an gegen die Corona-Verordnungen demonstriert, auch unter dem Begriff Corona-Diktatur. Der Christoph Berndt, der Fraktionsvorsitzende aus Brandenburg, hat sich sehr über diese Rede aufgeregt, weil sie auch gegen seine Politik gerichtet ist. Das war eine Kriegserklärung an die eigene Partei.“[237]

Die „Flügel“-Obfrau in Baden-Württemberg, Christina Baum (MdL), griff Meuthen ebenfalls im Laufe der Diskussion an und warb entsprechend für die geforderte Rüge:

„Liebe Freunde, ich bitte Euch zu bedenken, dass es nicht das erste Mal ist, was Her Meuthen hier gestern veranstaltet hat. Wir haben die Fraktionsspaltung gehabt, wir haben eine ganz üble Rede zu einem Parteitag in Heidenheim, die er genauso begangen hat, begonnen hat wie gestern hier, indem er die Hälfte der Mitglieder beschimpft hat. Ich bin auch dafür, dass wir wirklich hier Sacharbeit machen, aber er muss, Herr Meuthen muss endlich mal begreifen, dass er so nicht weitermachen kann, ohne dass er die Hälfte der Partei verliert. Und deshalb müssen wir ihn irgendwie ermahnen oder was such immer, aber er kann und darf so nicht weitermachen, sonst ist das das Ende der AfD.“[238]

Der prominente „Flügel“-Anhänger Jürgen Pohl (MdB) warf Meuthen Arroganz vor und kritisierte ihn auch für seine Abgrenzung gegenüber der Querdenken-Bewegung:

„Er schickt Querdenken nach Hause. Das kann nicht sein. Und das Ganze hat Methode. Wir hatten die Jogginghosen-Fraktion, wir hatten ‚Niemand will hier eine Partei spalten‘, wir hatten Ausschlussverfahren, dass wir uns nicht mehr halten können. Herr Dr. Meuthen, ihre Zeit in der AfD ist vorbei.“[239]

Auch der Obmann des „Flügel“ in Berlin Thorsten Weiß (MdA) warf Meuthen vor, dass er mit seiner Rede und seinen Handlungen einen desintegrierenden Kurs eingeschlagen habe. Hierzu führte er aus:

„Liebe Parteifreunde, ich erwarte von einem Bundesvorsitzenden, der integrativ ist, dass er konstruktiv ist, dass er vermittelt, dass er moderiert, ausgleichend wirkt und Brücken baut. Und lieber Herr Dr. Meuthen, das haben wir nicht erst seit Ihrer gestrigen Rede gehört. Sie haben diesen integrativen Kurs bereits seit Beginn dieses Jahres verlassen und ich bedauere das zutiefst, denn ich war mal ein großer Fan und Unterstützer von Ihnen. Aber offensichtlich werden Sie mit dieser Partei, so wie sie sich darstellt, nicht mehr glücklich. Sie wollen eine andere Partei. Sie wollen nicht, dass wir hier ausgleichen, dass alle zusammen an einem Strang ziehen, sondern Sie sind offensichtlich zu der Erkenntnis gelangt, dass ein ganz erheblicher Teil dieser Partei nicht mehr zu ihr gehört. Und deshalb würde es mich freuen, Sie heben ja vielleicht selbst nochmal einen Wortbeitrag angemeldet, wie es uns als Partei weiterhelfen soll, wenn nach Ihrer gestrigen Rede und nach der Entscheidung, die wir hier getroffen haben‚ Ihre Fans in den Sozialen Netzwerken u. a. Schreiben: ‚Der Kurs wäre jetzt klar. Das große Schlachten würde jetzt beginnen und selbst wenn wir 40 Prozent unserer Mitglieder und Wahlerfolge im Osten verlieren würden, dann wäre es das wert. Meuthen hat den Kurz vorgegeben.‘ Das kann es doch wohl wirklich nicht sein.“[240]

Ähnlich wie Baum oder auch Weiß, sprach auch Thomas Seitz (MdB) davon, dass sich Meuthen mit seiner Rede gegen „wesentliche Teile der Partei“ gewendet habe:

„Der Herr Meuthen hat zum wiederholten Male die Rede als Vertreter des Bundesvorstandes dazu missbraucht, hier ganz massiv gegen wesentliche Teile der Partei zu schießen und gegen Teile unserer Wählerschaft zu schießen. Es kommt nicht darauf an, wie man seine Rede vielleicht auch auslegen kann, sondern wie sie draußen aufgenommen wird, und das weiß ein Herr Meuthen auch vorher. Und da kommt an: Die Querdenker sind rechte Spinner und können nicht einmal geradeaus denken.“[241]

Nach mehrstündiger Diskussion beschloss der Parteitag, nicht über den Sachantrag abzustimmen, sodass kein Votum in der Sache erfolgte.

Ausführlich bewertete der „Flügel“-Anhänger Dubravko Mandic die Ereignisse des Bundesparteitages in mehreren Videos. Darin bezeichnete er Jörg Meuthen u. a. als „Kollaborateur“ und als „Feindzeugen“.[242]

Am Ende des ersten Tages kam Mandic zu folgendem aus seiner Sicht ernüchternden Zwischenfazit:

„Begrüßungsrede Meuthens hin oder her, Meuthen hat sich, was die Personalpolitik angeht, durchgesetzt, Er hat hier drei seiner Kandidaten oder gar vier in den Bundesvorsand reingebracht. Die Kandidaten des sogenannten patriotischen Lagers, oder man weiß gar nicht, wie man es nennen soll, das kann man jetzt auch nicht so sagen, aber zum Beispiel ein Krah, ja also den hätten wir gewählt. Den haben wir unterstützt weil wir wissen, der hätte kein PAV gegen Höcke getragen. Aber insgesamt haben sich halt, ich will sie jetzt mal die systemischen Kräfte nennen, da Kräfte, die für eine, ja, Hinwendung zum Staat stehen, die alle Bedingungen des Verfassungsschutzes erfüllen wollen, die haben sich hier durchgesetzt. Ja also wir haben Nachwahlen gehabt, und Meuthen hat jetzt im Grunde genommen seine Mehrheit in Bundesvorstand gefestigt. Das heißt, der Spaltungskurs, den ich kritisiere und den auch viele in der Partei kritisieren, der wurde jetzt personell bestätigt.“[243]

Zumindest in Bezug auf das verabschiedete sozialpolitische Programm konnte er allerdings etwas Positives erkennen:

„Also sachlich haben sich sozialpatriotische Positionen durchgesetzt. Es ist so, dass Meuthen ursprünglich einen extrem libertären Antrag eingebracht hatte, der schon im Vorfeld des Parteitages keine Mehrheit fand. Da sollte die Rentenversicherung nach seinen Vorstellungen komplett kapitalgedeckt sein, dass jeder sich selber irgendwie mit Anlagevermögen und sowas kümmern muss um seine Versorgung. Das fand keine Mehrheit. Also da tickt die Partei an der Basis schon sozialpatriotisch.“[244]

Zusammenfassend kam Mandic zu folgendem ambivalenten Ergebnis:

„Das war der Gewinn für die Patrioten heute. Also sachlich sah es sehr gut aus. Als es dann zu den Abstimmungen ging, haben die Anderen leider die Nase vorn gehabt, ganz knapp, wie das bei uns oft so ist. Teilweise mit einer Stimme, teilweise mit vier Stimmen Meuthen-Leute reingewählt wurden. Eigentlich müssten die, die Verhältnisse in der Partei respektieren, also wenn im Grunde genommen 50 % der Leute hier Meuthens Kurs eigentlich nicht mittragen, wäre in einer vernünftigen Partei eigentlich angezeigt, dass man das akzeptiert und mit diesem Spaltungskurs aufhört, ja.“[245]

In den von Mandic angesprochenen drei Nachwahlen für den Bundesvorstand konnten sich mit Carsten Hütter (Bundesschatzmeister), Christian Waldheim (stellvertretender Bundesschatzmeister) und Joana Cotar (Beisitzerin) jeweils Personen aus dem sogenannten Meuthen-Lager knapp durchsetzen. Auch wenn dies vordergründig als Erfolg Meuthens zu werten ist, bleibt doch festzuhalten, dass die Gegenseite in den Abstimmungen mit Zugstimmungswerten von rund 45 % nahezu die Hälfte der Parteitagsdelegierten erreichte.

Die zitierten Diskussionsbeiträge und Einschätzungen der Delegierten benennen klar das konfrontative Verhältnis zwischen den beiden Lagern in der Partei. Mehrfach wurde dabei, besonders von Funktionärinnen und Funktionären sowie Anhängerinnen und Anhängern des „Flügel“, betont, dass diese etwa die Hälfte der Partei hinter sich wüssten. Diese Einschätzung war auch durch die unterschiedlichen Abstimmungsergebnisse untermauert. So konnte sich das „sozialpatriotische“ Lager, wie Mandic es bezeichnete, zwar in den meisten Wahlen nicht durchsetzen, gleichwohl verfügte es mit 45 % der Delegiertenstimmen doch über einen beträchtlichen Rückhalt. Die klaren Positionen der „Flügel“-Anhängerinnen und -Anhänger, die besonders in der Aussprache zum Sachantrag SN03 deutlich wurden, nahmen einen erheblichen Anteil der Diskussion ein. Höcke selbst verzichtete auf dem Bundesparteitag darauf, sich an die Delegierten zu wenden. Stattdessen nutzte er einige Tage später seinen Auftritt bei einer regionalen Parteiveranstaltung am 5. Dezember 2020 in Höxter (NW), um sich wie folgt zu erklären:

„Ich habe beim Bundesparteitag in dieser erhitzten Situation nicht geredet, weil die Situation vielleicht dann noch weiter eskaliert wäre. Das ist das Erste. Das Zweite ist, mit einer Minute Redezeit brauche ich gar nicht ans Mikrofon zu treten. Denn das, was dort – ja, es ist so – denn das, was dort artikuliert worden ist von einem unserer Bundessprecher, das schreit nach einer deutlichen Replik. Und diese Replik werde ich heute und hier geben, liebe Freunde.“[246]

Im Folgenden kritisierte Höcke die Rede van Meuthen sehr deutlich als spalterisch und verfehlt:

„Liebe Freunde, wir als Parteimitglieder dürfen angesichts der pausenlosen Angriffe und Diffamierungen seitens der etablierten Kräfte und angesichts des von mir jetzt schon zweimal erwähnten Super-Wahlkampfjahres 2021 von unserem Bundessprecher etwas anderes erwarten. Nämlich dass unsere Reihen geschlossen werden und dass Merkel, Spahn, Söder und Co., die Deutschland-Abschaffer, die Zerstörungspolitiker des Establishments eine Breitseite nach der anderen bekommen. Das wäre der Auftrag gewesen.“

Den zitierten Beschluss des Bundesvorstands vom 27. November 2020 und den Bundesvorstand selbst kritisierte Höcke ebenfalls nachdrücklich, da dieser aus seiner Sicht zu wenig Mut zeige:

„Und in diesem Zusammenhang sehe ja, sehe ich auch den Beschluss des Bundesvorstandes zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, der den Parteitagsdelegierten nachts um zwei Uhr dreißig zugestellt worden ist, mehr als kritisch. Ich halte sofort – ich habe ihn nicht um zwei Uhr dreißig gelesen, versteht mich nicht falsch, da habe ich geschlafen. Aber das Faktum, dass ein Bundesvorstand sich genötigt sieht, der Bundesvorsand der führenden Oppositionspartei, der eigentlich nach dieser grandiosen historischen Erfolgsgeschichte mit breiter Brust stehen müsste, sich genötigt fühlt vom Freitag auf den Samstag in der Nacht den Parteitagsdelegierten noch eine Handlungsempfehlung mitzugeben – wie gesagt, ein Beschluss zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung – das zeigt mir tatsächlich viel zu wenig Mut. Das zeigt mir tatsächlich eher fehlende Souveränität. Ja, ich… ich dachte sofort an das Kaninchen, das mit bummerndem Herzchen vor der Schlange sitzt. So ist es mir gegangen. Ein weiteres ängstliches Bekenntnis zur Grundordnung unseres Staates war das. Ein regelrechter, und das muss man auch gewahren, ein regelrechter Bekenntniszwang springt uns aus den Zeilen des Bundesvorstandes an.“[247]

Auch inhaltlich und methodisch bezog Höcke unter Rekurs auf seine bekannten rechtsextremistisch-verschwörungstheoretischen Deutungsmuster klare Gegenpositionen zu Meuthen. Es gelte, so Höcke, nicht nur als parlamentarische Kraft zu wirken, sondern sich mit den nationalen Straßen- und Bürgerprotesten einschließlich der „Querdenken“-Bewegung zu vernetzen, um in der finalen Auseinandersetzung mit den globalistischen Eliten als Volk letztlich erfolgreich zu sein. Eine in dieser Weise geschlossene AfD sei diesbezüglich als letzte „evolutionäre Chance“ für Deutschland zu begreifen.

Zum Ende seiner Rede fasste Höcke seine wichtigsten Botschaften nochmals zusammen:

„Aber drei grundsätzliche Verhaltensweisen müssen wir annehmen. Erstens: Wir brauchen eine absolute Illusionslosigkeit. Der neutrale Staat ist in großen Teilen von den Kartellparteien okkupiert worden. Das gilt auch für das heilige Bundesverfassungsgericht, dass immer mehr ideologisch besetzt wird, wie wir wissen. Wie man als Bundesvorstand unserer Partei auf die Idee kommen kann, in der von mir schon erwähnten Erklärung zur fdGO die Zukunft unserer Partei in die Hände eines politischen Gerichtes zulegen, bleibt mir rätselhaft. Der neutrale Staat ist Vergangenheit und deren Führungsriege ist eine zuverlässige Stütze der Globalisten. […] Zweitens, zweitens: Wir brauchen die aktive und passive Kooperation mit allen relevanten, gewaltfreien Bürgerbewegungen, die eine berechtigte Regierungskritik vorbringen. Und dabei ist es völlig egal, ob diese nun gediegen-bürgerlich oder hippiehaft-esoterisch bis links-alternativ geprägt sind. Stil- und Tonfragen sind bei der prekären politischen Gesamtlage völlig sekundär, liebe Freunde. Die neuen Bürgerbewegungen suchen nach einer parlamentarischen Vertretung. Und wer die neuesten soziologischen Untersuchungen zur Einstufung der Teilnehmer von Querdenken-Demonstrationen antizipiert hat, der weiß, dass dort ein Umdenken stattfindet. Waren diese Querdenker anfangs sehr stark grün geprägt, orientieren sie sich jetzt immer mehr in Richtung AfD. Ein unglaublich großes neues Wählerpotenzial könnte sich da auftun. Wie gesagt, man sucht dort nach einer parlamentarischen Vertretung. Ich gehe nicht davon aus, dass die Querdenker Partei werden wollen, weil sie damit ihren Bewegungscharakter zerstören würden, was nicht klug wäre. Sie suchen nach einer parlamentarischen Vertretung und wir als AfD sollten uns als parlamentarische Vertretung anbieten. Und drittens und letztens: Wir brauchen einen strikten Zusammenhalt. Wir müssen unsere inhaltliche Spannbreite betonen. Ich habe das stets gemacht. Die meisten wissen, wo ich stehe. Ich habe viele Reden in den letzten fast acht Jahren gehalten, in denen ich mich inhaltlich positioniert habe. Kaum einer ist so klar verortet wie meine Person. Aber trotzdem habe ich immer die Breite der AfD betont als zukünftiger Volkspartei. Hab immer gesagt, soziale, freiheitliche und konservative Mitstreiter und Elemente haben natürlich Platz in unser neuen, kommenden Volkspartei. Eine ideologisch einseitige Fixierung darf es nicht geben. Inhaltlich-programmatische Konflikte – und wir haben das in der dreijährigen Diskussion um den Leitantrag so hervorragend unter Beweis gestellt – die müssen hinter verschlossenen Türen ausgetragen werden. Anwürfe des Establishments dürfen nicht von der Parteiführung aufgenommen und schlimmstenfalls noch gegen innerparteiliche Gegner in Stellung gebracht werden. Im Gegenteil, sie sind konsequent und energisch zurückzuweisen.“[248]

Vor allem mit seiner Einschätzung zur Unabhängigkeit der deutschen Justiz und explizit des Bundesverfassungsgerichts zieht Höcke den Grundsalzbeschluss des Bundesvorstands in Zweifel.

Der bereits von Höcke in seiner Rede geforderte Schulterschluss mit Bürgerbewegungen wie Querdenken wurde auch von Alexander Gauland unterstützt. In einem Interview mit der dpa führte er aus:

„Wir sind eine Bewegungspartei, die auch Kontakt zu bestimmten Protestgruppen pflegen sollte. Das gilt für Querdenken, aber auch für Pegida in Dresden oder für den Verein Zukunft Heimat aus Cottbus.[249]

Weiterhin kritisierte Gauland auch Jörg Meuthen für seine Rede auf dem Bundesparteitag, da er mit dieser „die Hälfte der Partei beschädigt“ habe.[250]

Am 21. Dezember 2020 wurde schließlich bekannt, dass der bisherige Leiter der Arbeitsgruppe Verfassungsschutz, Roland Hartwig, nach Presseberichten auf Betreiben von Jörg Meuthen abgelöst wurde.[251] Hartwig selbst erklärte am selben Tag dazu in einem Statement:

„Nach meiner Kritik an seinem Kurs wurde ich gerade auf Betreiben von Meuthen durch Mehrheitsbeschluss des Bundesvorstands nach 2 Jahren intensiver Tätigkeit aus der Parteiarbeitsgruppe ‚Verfassungsschutz‘ geworfen.“[252]

Als Reaktion auf diese Entscheidung zog sich ebenfalls der Bundestagsabgeordnete und das Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums Roman Reusch (BB) aus der Arbeitsgruppe zurück und begründete laut Presseberichten diesen Schritt damit, dass ihm „eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der diese Entscheidung tragenden Mehrheit des Bundesvorstandes“ nicht mehr möglich sei.[253]

Auch der Co-Bundessprecher Tino Chrupalla distanzierte sich öffentlich von der Entscheidung, indem er auf Twitter schrieb:

„Der #AfD BoVu hat heute gegen meine Stimme Dr. Roland Hartwig als Leiter AGVS abgesetzt. Roland Hartwig hat mit großer juristischer Expertise und im Gespräch mit der Basis die Strategie gegen den #VS entworfen. Dafür danke ich ihm.“[254]

Mit Alice Weidel kritisierte ein weiteres Mitglied des Bundesvorstands den getroffenen Beschluss scharf. So schrieb sie davon, dass Hartwig „eiskalt abserviert“ worden sei:

„Ohne Not wurde heule die AG-VS zerschossen, mit @R_Hartwig_AfD ein besonnener und intelligenter Kopf eiskalt abserviert. Ebenso wird Roman Reusch fehlen.“[255]

Der AfD-Landesvorstand Sachsen-Anhalt kritisierte die getroffene Entscheidung in einer am 22. Dezember 2020 veröffentlichten Stellungnahme ebenfalls scharf:

„Die Abberufung von Roland Hartwig war eine Fehlentscheidung! […] Roland Hartwig, ein promovierter Jurist und jahrzehntelang Leiter der Patentabteilung […], hat den AK Verfassungsschutz mit Bravour geführt und gestaltet. Hartwig überzeugte durch seine fachliche Kompetenz, seine Sachlichkeit und seine ruhige ausgleichende Art. […] Wir, der Landesvorstand der AfD Sachsen-Anhalt, begegnen der Entscheidung des Bundesvorstandes, Roland Hartwig von der Leitung des AK VS abzuberufen, daher mit großem Unverständnis. Roland Hartwig hat bewiesen, dass er für diese Aufgabe der beste Mann in unseren Reihen ist. Es sind keine legitimen Gründe für seine Abberufung erkennbar. Wir unterstützen mit Nachdruck Tino Chrupalla, Stephan Brandner, MdB und Alice Weidel, die diese Entscheidung ihrerseits kritisiert haben. Wir haben Verständnis für Roman Reusch, der aufgrund der Abberufung von Hartwig seinen Rücktritt aus der AK Verfassungsschutz erklärt hat, wenn wir sehen Rücktritt auch bedauern.“[256]

Diese unterschiedlichen Reaktionen belegen abermals den Richtungsstreit innerhalb der Partei. So ist die Ablösung Hartwigs vor dem Hintergrund zu sehen, dass er sich im Laufe des Jahres 2020 zunehmend positiv zum formal aufgelösten „Flügel“ und seiner Anhängerschaft positionierte. So hatte er z. B. am 16. Juni 2020 in einem Interview mit dem Morgenmagazin geäußert:

„Und zum Flügel ist doch auch anzumerken, das ist eine politische Strömung in der AfD, eine national-konservative, sozial-patriotische Strömung, die natürlich auch demokratisch ist. Nichts am Flügel spricht ja dafür, Grundlagen der Demokratie abzuschaffen, der Rechtsstaatlichkeit. Also von daher ist der Flügel eine absolut legitime Strömung innerhalb der Partei gewesen. […] Die Strömung, die politische Strömung ist da, ist auch weiter da und ist wie gesagt ein wesentlicher Bestandteil unserer Partei, wie viele andere Strömungen auch.“[257]

Nach der ersten Erklärung vom 27. November 2020, in der sich der Bundesvorstand öffentlich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekannt hatte, veröffentlichte die AfD am 18. Januar 2021 auf ihrer Website eine „Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität“. In der Einleitung dieser Erklärung heißt es:

„Immer wieder wird seitens der Medien, des politischen Gegners und der von ihm instrumentalisierten Ämter für Verfassungsschutz unterstellt, die AfD vertrete einen Volksbegriff, der auf das Ethnisch-Kulturelle verengt sei und daher gegen die im Grundgesetz festgeschriebene Menschenwürdegarantie verstoße. Wer nicht dem ethnisch definierten Volk angehöre, so wird suggeriert, dem wolle die AfD staatsbürgerliche Rechte oder gar elementare Menschenrechte vorenthalten oder entziehen. Aus dieser haltlosen Verdachtskonstruktion wird die Behauptung verfassungswidriger Bestrebungen unserer Partei abgeleitet und ihr das Prädikat ‚demokratisch‘ abgesprochen. […] Durch unser Grundsatzprogramm und unsere Wahlprogramme auf Bundes- und Landesebene sowie durch zahlreiche Reden und Verlautbarungen der maßgeblichen Exponenten unserer Partei sind diese haltlosen Diffamierungen implizit und explizit hundertfach Lügen gestraft. Da sie gleichwohl aber in bewusster politischer Schädigungsabsicht hartnäckig weiter vorgebracht werden, sehen sich die Unterzeichner zu folgender Erklärung veranlasst.

Es folgen insgesamt vier Punkte, in denen sich die AfD zu ihrem Staatsvolksverständnis und zur Bedeutung und Funktion einer nationalen Identität positioniert:

„I. Als Rechtsstaatspartei bekennt sich die AfD vorbehaltslos zum deutschen Staatsvolk als der Summe aller Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Unabhängig davon, welchen ethnisch-kulturellen Hintergrund jemand hat, wie kurz oder lange seine Einbürgerung oder die seiner Vorfahren zurückliegt, er ist vor dem Gesetz genauso deutsch wie der Abkömmling einer seit Jahrhunderten in Deutschland lebenden Familie, genießt dieselben Rechte und hat dieselben Pflichten. Staatsbürger erster und zweiter Klasse gibt es für uns nicht.

II. Gleichwohl ist es ein völlig legitimes politisches Ziel, welches sowohl dem Geist als auch den Buchstaben des Grundgesetzes entspricht, das deutsche Volk, seine Sprache und seine gewachsenen Traditionen langfristig erhalten zu wollen. Damit befinden wir uns im Einklang mit dem Bundesverwaltungsgericht, welches in einem Urteil ausdrücklich festgestellt hat, dass die Wahrung der geschichtlich gewachsenen nationalen Identität als politisches Ziel nicht gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstößt. Vielmehr sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nur dann in einem Gemeinwesen dauerhaft garantiert, wenn dieses durch ein einigendes kulturelles Band zusammengehalten wird und nicht in Teilgesellschaften zerfällt, die einander fremd bis feindselig gegenüberstehen.

III. Gerade weil die Zugehörigkeit zum Staatsvolk von der ethnisch-kulturellen Identität der betreffenden Person rechtlich unabhängig ist, halten wir es für eminent wichtig, den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft und damit die Aufnahme in das deutsche Staatsvolk, die definitiven Charakter hat, an strenge Bedingungen zu knüpfen. Nur wer unsere Sprache spricht, unsere Werte teilt und unsere Lebensweise bejaht, soll Deutscher nach dem Gesetz werden können. Und nur wenn die Zahl der in Deutschland aufgenommenen und eingebürgerten Personen die Integrationskraft der deutschen Gesellschaft nicht übersteigt, bleibt das Staatsvolk auf lange Sicht auch Träger der deutschen Kultur und Identität.

IV. Im Sinne unseres politischen Ziels, dem deutschen Staatsvolk auch eine deutsche kulturelle Identität über den Wandel der Zeit zu erhalten, wollen wir die aktuelle Massenzuwanderung, die auf einem Missbrauch der Asylgesetzgebung beruht, beenden. Dem Grundgesetz gemäß soll nur wirklich politisch Verfolgten Asyl gewährt werden, eine Einreise Asylsuchender nach Deutschland über sichere Drittstaaten muss ausgeschlossen sein. Fehlanreize zur Einwanderung in die Sozialsysteme wollen wir beenden. Die Zuwanderung muss nach dem Bedarf des deutschen Staates in quantitativer und qualitativer Hinsicht gesteuert werden und findet ihre Grenze an der Aufnahmefähigkeit der deutschen Gesellschaft. Es gibt kein Menschenrecht auf Migration in das Land der eigenen Wahl. Sehr wohl aber gibt es das Recht ‚eines jeden Volkes, seine kulturelle Identität zu erhalten und zu schützen‘, wie es die UN-Erklärung von Mexiko-City über Kulturpolitik 1982 eindeutig festgestellt hat.

Wir sind der Überzeugung, dass nur diese selbstbewusste Haltung positiver Identifikation mit der eigenen Sprache, Kultur und Nation ein attraktives Angebot an Einbürgerungswillige macht, das sie die Mühen der Integration mit Stolz und Freude auf sich nehmen lässt. Wir laden alle Deutschen – ohne wie auch mit Migrationshintergrund – ein, mit uns gemeinsam an einem friedlichen, demokratischen, rechtsstaatlichen und selbstbewussten Deutschland zu bauen.“[259]

Neben den Mitgliedern des Bundesvorstands wurde die Erklärung weiterhin von (stellvertretenden) Landessprecherinnen und Landessprechern sowie -vorsitzenden aus allen 16 Landesverbänden, den Vorsitzenden der Bundesprogrammkommission und des Bundeskonventes sowie dem Bundesvorsitzenden der JA unterschrieben.

Nach den im Ton äußerst aggressiven Auseinandersetzungen auf dem Bundesparteitag in Kalkar und den anschließenden Reaktionen ist zu erwarten, dass sich der innerparteiliche Machtkampf in der AfD, trotz der gemeinsamen Erklärungen vor dem Bundesparteitag und im Januar 2021, weiterhin fortsetzen wird.

IV. Bewertung

Aus der Entwicklung der AfD ergeben sich Tür die weitere Prüfung folgende relevante Punkte:

Erstens: Die Geschichte der AfD ist seit ihrer Gründung auch eine Geschichte unterschiedlicher Strömungen, die sich anfangs nach hinter einem gemeinsamen Thema vereinigen konnten. Im Zuge der Fokussierung auf die Themen Migration und Asyl vor dem Hintergrund der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16 und der damals einhergehenden Radikalisierung verließen vor allem bürgerlich-konservative Kräfte die Partei und „Der Flügel“ gewann stetig an Einfluss. Der dualistische Grundkonflikt bestand jedoch fort, spitzte sich 2020 zu und erreichte auf dem Bundesparteitag in Kalkar im Dezember 2020 seinen vorläufigen Höhepunkt.

Vor allem die überragenden Wahlerfolge in den ostdeutschen Bundesländern und strategische Bündnisse mit Protagonisten wie Alice Weidel und Alexander Gauland verschafften dem „Flügel“ 2019 einen signifikanten Bedeutungszuwachs, doch musste er 2020 einige Rückschläge hinnehmen. Diesbezüglich sind zuvorderst die vom Bundesvorstand erzwungene formale Auflösung der „Flügel“-Strukturen und die Annullierung der Parteimitgliedschaft von Andreas Kalbitz zu nennen. Gleichwohl verfügt „Der Flügel“ auch nach seiner Auflösung weiterhin über ein Personennetzwerk, das fortgesetzt aktiv daran arbeitet, die eigenen Leitlinien und Grundsätze in der Gesamtpartei zu verankern.

Zweitens: Seit Jahren gehören Schiedsgerichts- und Parteiausschlussverfahren als Mittel im innerparteilichen Machtkampf zum Alltag der Partei. Die Annullierung der Parteimitgliedschaft von Andreas Kalbitz stellt in dieser Hinsicht ein herausragendes Beispiel dar, denn damit wurde eine der zentralen Führungsfiguren des formal aufgelösten „Flügel“ aus der Partei entfernt.

Gegen den baden-württembergischen AfD-Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon lief – um ein weiteres bekanntes Beispiel aufzuführen – über Jahre ein Ausschlussverfahren. Gedeon wurde dabei Antisemitismus und Holocaust-Relativierung vorgeworfen. Unter anderem hatte er Holocaustleugner als „Dissidenten“ bezeichnet und damit mit Menschen gleichgesetzt, die für ihr politisches Engagement in Diktaturen verfolgt werden. Nach verschiedenen vergeblichen Anläufen bestätigte das Bundesschiedsgericht schließlich den Parteiausschluss Gedeons im März 2020.[266] Auch Gedeons Fraktionskollege Stefan Räpple (MdL, BW) wurde im September 2020 aus der Partei ausgeschlossen. Anlass für diese Maßnahme war u. a. dessen Aufruf zum gewaltsamen Umsturz der Regierung, den er auf einer Veranstaltung in Mainz (RP) getätigt hatte.[261]

Drittens: Die anhaltenden innerparteilichen Streitigkeiten um das richtige Maß an Nähe und Abgrenzung zu rechtsextremistischen Kräften und Gruppierungen zeigte sich auch an der sich regelmäßig wiederholenden Diskussion um die Unvereinbarkeitsliste der Partei, die neben rechtsextremistischen auch links- und ausländerextremistische sowie islamistische Gruppierungen und die Scientology-Organisation aufführt.

Nach wie vor ist die Aufnahme von Personen, die vormals Mitglied in einer der gelisteten Organisationen waren, möglich, wenn sich zwei Drittel des zuständigen Landesvorstands nach Einzelfallprüfung für die Aufnahme aussprechen.[262]

Auf der Liste finden sich verbotene Organisationen wie die Wiking-Jugend oder die Wehrsportgruppe Hoffmann, deutsche rechtsextremistische Parteien wie die NPD, DIE RECHTE oder Der III. Weg, aber auch Organisationen wie PEGIDA München, PEGIDA Nürnberg, THÜGIDA, NÜGIDA[263] und die Identitäre Bewegung Deutschland sowie Reichsbürger allgemein und einzelne Reichsbürger-Vereinigungen im Besonderen. Insgesamt umfasst die Liste derzeit 248 rechtsextremistische Organisationen und Gruppierungen.[264]

Die Relevanz dieser Liste für den Richtungsstreit zeigte sich auch auf dem Bundesparteitag 2019 in Braunschweig (N). Dort wurde über die völlige Abschaffung der Unvereinbarkeitsliste diskutiert. Einen entsprechenden Antrag hatten baden-württembergische Landtagsabgeordnete eingebracht. Stefan Räpple, der Initiator des Antrags, bezeichnete die Liste als „Satzungsrelikt aus der Lucke-Zeit“, die „zu vielen Streitigkeiten in der Partei geführt“ habe.[265]

Insbesondere die Zusammenarbeit mit der als gesichert rechtsextremistisch geltenden Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) solle dem Beschlussvorschlag zufolge künftig erlaubt sein. So heißt es in dem Antrag:

„Die ‚Identitäre Bewegung‘ Deutschlands besteht aus vielen jungen Patrioten, die sich, genau wie die AfD aus Sorge vor der Zukunft Deutschlands gegründet hat.“[266]

Sowohl der Antrag, die Unvereinbarkeitsliste aufzugeben, als auch der Folgeantrag, zumindest die IBD von der Liste zu streichen, wurden auf dem Bundesparteitag 2019 nicht zur Abstimmung angenommen.[267] Ungeachtet der vermeintlichen Unvereinbarkeit weisen AfD und insbesondere ihre Jugendorganisation Junge Alternative eine Vielzahl persönlicher und struktureller Verbindungen zur IBD auf.[268]

E. Einflussnahme der erwiesen extremistischen Bestrebung „Der Flügel“ auf die Gesamtpartei I. Struktureller Einfluss – Rückhalt in der Gesamtpartei

Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen eines Personenzusammenschlusses sind nicht nur dann gegeben, wann dieser in seiner Gesamtheit solche Bestrebungen entfaltet, sondern können auch bestehen, wenn eindeutig verfassungsfeindliche Bestrebungen bei einzelnen Gruppierungen innerhalb des Personenzusammenschlusses bestehen. Dies gilt jedenfalls, wann diese Gruppierungen in der Partei Einfluss von nennenswertem Gewicht haben.

Nachfolgend soll daher untersucht werden, inwieweit der erwiesen rechtsextremistischen Bestrebung „Der Flügel“ in der gesamten Partei Alternative für Deutschland (AfD) ein entsprechender struktureller Einfluss zukommt. Dafür werden auf den verschiedenen Funktionärsebenen Belege für den Rückhalt des „Flügel“ in der Gesamtpartei zusammengetragen, die die Unterstützungshaltung von AfD-Funktionären und -Funktionärinnen sowie -Organisationseinheiten darstellen.

Eine Gesamtgewichtung dieser Belege in Zusammenschau mit dem programmatischen Einfluss und unter Einbeziehung der strukturellen Entwicklungslinien in der Partei sowie der aktuellen Geschehnisse auf dem Bundesparteitag 2020 erfolgt sodann im abschließenden Kapitel des Gutachtens.

1. Bundesebene

Einen wachsenden Einfluss des „Flügel“ zu einem dominierenden Faktor in der Partei konstatierte – bereits im Nachgang zum Bundesparteitag 2019 – die Interessensgemeinschaft Alternative Mitte Deutschland in einer Pressemitteilung vom 6. Dezember 2020:

„Exodus oder Volkspartei? Die Mitglieder der AfD benötigten mehrere Tage, um die Ergebnisse des 10. Bundesparteitags vom 30.11. und 01.12.2019 zu verarbeiten – ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Die Ereignisse von Braunschweig lassen viele Mitglieder ernsthaft daran zweifeln, ob ihr Verbleib in der Partei überhaupt noch einen Sinn hat. Der Donnerhall ist noch nicht verklungen, wird aber bei der bürgerlichen AfD-Wählerschaft als abschreckendes Zeichen wahrgenommen werden. Mit Bedauern nehmen wir zur Kenntnis, dass viele prominente Kandidaten und gestandene Funktionäre, die sich immer entschlossen für einen bürgerlichen Weg der Partei einsetzten, nicht (wieder)gewählt wurden. Es waren vor allem jene Kandidaten wie Georg Pazderski und Uwe Junge, die sich im Vorfeld gegen einen Personenkult um Björn Höcke ausgesprochen hatten. Eine völlig berechtigte Kritik, wie sie zuvor bereits an Bernd Lucke und Frauke Petry geübt wurde, seinerzeit übrigens auch von Vertretern des ‚Flügels‘. Björn Höcke zeigt sich darüber erfreut, indem er über diese Personen herabwürdigend als ‚Feindzeugen‘ spricht. Gleichzeitig wählten über 300 Delegierte mit Andreas Kalbitz eine zentrale Flügelfigur, obwohl in den letzten Monaten immer mehr Details bekannt wurden, die eindeutig Kalbitz‘ rechtsextreme Vita belegten. Die Wahl von Kalbitz erfolgte dennoch, obwohl ein gestandener, unbelasteter und bürgerlicher Gegenkandidat zur Wahl stand. Die Außenwirkung dieser Entscheidung ist verheerend. […] Heute scheint der Flügel indes gefestigt wie nie. Die Dominanz, die er einst einem Bernd Lucke und einer Frauke Petry vorwarf, strebt er mit Höcke und Kalbitz als Galionsfiguren, nun selbst an, ohne über seine Rolle und Funktion in der Partei eine sinnvolle Antwort zu geben und ohne dazu legitimiert zu sein. Denn wie das Landesschiedsgericht Bayern in seiner Entscheidung vom 30.06.2019 feststellte, handelt es sich beim ‚Flügel‘ um eine politische Konkurrenzorganisation zur AfD, die sich demzufolge auflösen müsste. Um nicht in Konflikte mit dem Flügel zu geraten, arrangiert man sich stattdessen mit ihm, um den eigenen Posten bzw. das eigene Mandat zu behalten. Andere lassen ihn einfach walten. Kritik am Flügel oder ihren Vertretern schrumpft im selben Maß wie Toleranz gegenüber ihren innerparteilichen Kritikern aufgegeben wird. Diese Situation führt dazu, dass die AfD nicht mehr als bürgerliche Partei wahrgenommen wird und damit jegliche Chance verspielt, die bürgerliche Mitte der Gesellschaft zu erreichen und anzusprechen. […] Auch wenn einzelne Mitglieder des Bundesvorstands eine kritische Sicht auf den Flügel haben, sehen wir nur geringe Chancen, dass diese Sicht ab jetzt zur Geltung kommt. Eine Partei, die der ‚Feindzeugen-Theorie‘ von Björn Höcke folgt und innerparteiliche Kritik als feindlichen Akt diffamiert, wird keine Zukunft haben. Vielmehr wird dies dazu führen, dass bürgerliche und freiheitlich denkende Patrioten die AfD enttäuscht in großer Zahl verlassen. Sollte die Parteiführung nicht reagieren, wird dies ein regelrechter Exodus werden.“[269]

In den Aussagen der Alternative Mitte werden die Wahl Kalbitz‘, der wachsende Einfluss des „Flügel“, seine gefestigte Stellung in der Partei, der Umgang mit parteiinternen Kritikern sowie das Arrangement mit dem „Flügel“ durch weite Teile der Partei offen benannt und problematisiert.

Der Analyse der Alternative Mitte entsprechend finden sich zahlreiche Aussagen in der Gesamtpartei – auch außerhalb der Kernanhängerschaft des „Flügel“ -, die diesen in Schutz nehmen und seinen programmatischen Rückhalt in der Partei betonen.

Rüdiger Lucassen (MdB), seit 2019 Vorsitzender der Partei in Nordrhein-Westfalen, stellte etwa in einem Interview mit dem WDR am 27. November 2019 in Abrede, dass es sich heim „Flügel“ um eine extremistische Bestrebung handelt und führte an, dass dessen Inhalte durch die „Programmatik der AfD abgedeckt“ seien:

„Und insofern ist das, was der Flügel politisch vertritt, als rechter Arm, wenn Sie so wollen, in unser AfD ein wichtiger, ein wichtiger Teil unserer Partei. Zu unterscheiden ist halt die Vorgehensweise, die Modalität. Und da bin ich kritisch. […] So weit zu Herrn Kalbitz und bei Herrn Höcke ist es so, dass er eben ja in überwiegend anschaulicher Weise eine politische Richtung vorträgt. Und das hat hier halt im Laufe der Jahre sehr, sehr viele Anhänger gefunden. Und inhaltlich, kann ich sagen ist, ist das durch die Programmatik der AfD abgedeckt.“[270]

Das Bundesvorstandsmitglied Stephan Protschka (MdB) äußerte sich anlässlich des Politischen Aschermittwochs 2019 in Osterhofen (BY) wie folgt:

„Egal, ob Flügel oder AM [Anm.: Alternative Mitte]. Wir stehen geschlossen zusammen und holen uns unser Land wieder zurück.“[271]

Armin-Paulus Hampel (MdB, Außenpolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion und Unterstützer des „Flügel“) gab dem Deutschlandfunk am 13. März 2020 ein Interview zur Beobachtung des „Flügel“ durch den Verfassungsschutz, weiches er auf seiner Facebook-Seite verbreitete. Auf die Frage des Moderators, wie die AfD-Führung mit dem „Flügel“ umgehen solle, führte Hampel aus, dass der „Flügel“ zur AfD gehöre und lediglich aus einem politischen Kampf heraus diffamiert werde:

„Ich hab das schon seit vielen Jahren immer gesagt, die AfD ist auf dem Weg, eine Volkspartei zu werden. Und eine Volkspartei ist breit aufgestellt und das heißt für mich, dass der Flügel zur AfD gehört. Das ist eben nicht, wie ich das in früheren Jahren erlebt habe bei der CDU/CSU. Ein Franz Josef Strauß wurde bei seiner Kandidatur als Kanzlerkandidat als Nazi diffamiert, beschimpft, ausgegrenzt. Der Flügel ist genauso in der gleichen Situation heute. Das ist ein politischer Kampf, das hat mit Inhalt nichts zu tun.“

Als Erwiderung auf den Vorwurf, die AfD dulde Rechtsextremisten in ihren Reihen, sagte Hampel:

„Ich erkenne an den Äußerungen von Herrn Höcke und Herrn Kalbitz nichts, was ich als rechtsextrem oder rechtsradikal sehen würde, gar nichts. So, sie haben eine konservative, eine manchmal national eingestellte Position. Das muss in einer Demokratie doch möglich sein.“[272]

Im Nachgang zum „Kyffhäusertreffen 2019“ wurde als Reaktion auf den Auftritt und die Rede Björn Höckes von 100 Politikerinnen und Politikern der AfD am 10. Juli 2019 unter dem Titel „Für eine geeinte und starke AfD – ein Appell“ ein Dokument veröffentlicht, in dem sie besonders Kritik am Personenkult um Höcke üben:

„Wir sagen sehr klar: die AfD ist und wird keine Björn-Höcke-Partei! Die überwiegend bürgerliche Mitgliedschaft von mehr als 35.000 Personen lehnt den exzessiv zur Schau gestellten Personenkult um Björn Höcke mit Ordensverleihungen an Mitglieder des ‚Flügels‘ ab, wie sie den Personenkult schon bei Bernd Lucke und Frauke Petry abgelehnt hat. Als Vorsitzender des Landesverbandes Thüringen ist Björn Höcke nicht demokratisch legitimiert, für die AfD als Gesamtpartei zu sprechen. Sofern er dies als ‚Anführer‘ des ‚Flügels‘ tut, leistet er dem um sich greifenden Verdacht Vorschub, dass es ihm in erster Linie um den ‚Flügel‘ und nicht um die AfD geht. Wir fordern Björn Höcke auf, sich zukünftig auf den Aufgabenbereich zu konzentrieren, für den er legitimiert ist.“[273]

Zum damaligen Zeitpunkt gingen die Unterzeichnenden noch davon aus, dass der „Flügel“ nur von einer Minderheit in der Partei unterstützt werde. Diese Einschätzung wurde in den kommenden Monaten von einigen Unterzeichnenden revidiert. So erklärten diverse Personen ihre Parteiaustritte (s.u.) mit dem gestiegenen Einfluss des „Flügel“. Von den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern sind zwischenzeitlich mit den Bundestagsabgeordneten Verena Hartmann (SN) und Lars Herrmann (SN) sowie den Landtagsabgeordneten Jens Ahrends (NI, Sprecher im Kreisverband Oldenburg/Ammerland), Timo Böhme (RP, 2. stellv. Vorsitzender der AfD-Landtagsfraktion Rheinland-Pfalz), Frank Brodehl (SH, 1. Sprecher im Kreisverband Ostholstein), Detlef Ehlebracht (HH), Dana Guth (NI) und Stefan Herre (BW) acht Abgeordnete aus der Partei ausgetreten.

In der Ausgebe 9/2019 des Magazins COMPACT erschien ein Interview mit dem Bundestagsabgeordneten und Vorsitzenden im AfD-Landesverband Baden-Württemberg, Marc Jongen, der ebenfalls zu den Unterzeichnern des Appells gehörte. Darin äußerte dieser sich insbesondere über das Ost-West-Gefälle der Partei. Über den „Flügel“ sagte Jongen:

„Ich stelle mir nicht vor‚ dass der Flügel sich im Westen auflöst, auch spricht nichts gegen Auftritte führender Flügel-Exponenten in westlichen Wahlkämpfen. Aber Flügel und Nicht-Flügel sollen aufhören, sich gegenseitig zu den angeblich allein seligmachenden Rezepten und dem entsprechenden Personal bekehren zu wollen. Im Übrigen scheinen mir die Unterschiede zwischen dem Flügel und dem Rest der AfD bei näherem Hinsehen so groß nicht zu sein.“[274]

Im Februar 2020 betonte die Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, Alice Weidel (MdB), in Ihrer Bewerbungsrede für den Vorsitz im Landesverband Baden-Württemberg laut Presseberichten ebenfalls nachdrücklich die Bedeutung des „Flügel“, indem sie erklärte, dass „der Flügel eine ganz wichtige Strömung innerhalb der Partei[ist].“[275]

Auf Facebook und Instagram zeigte auch die Junge Alternative für Deutschland wiederholt ihre Unterstützung für den „Flügel“ und seine Protagonisten um Andreas Kalbitz und Björn Höcke, indem sie diese u. a. aktiv beim Wahlkampf unterstützte oder Partei für Kalbitz bezüglich der Annullierung seiner AfD-Mitgliedschaft ergriff.“[276][277][278]

Weitere Aussagen, in denen der Rückhalt des „Flügel“ in der Gesamtpartei zum Ausdruck kommt, wurden vor allem im Rahmen der formalen Auflösung des Personenzusammenschlusses getätigt. Dabei wurde überdies auch die fortbestehende Bedeutung des Netzwerkes für die Partei hervorgehoben.

So setzte sich etwa Guido Reil (MdEP) in einem Facebook-Eintrag am 18. Mai 2020 dafür ein, dass das „Netzwerk“ auch weiterhin Bestandteil der AfD bleibe. Nur dann sei die Stabilität der Partei langfristig gewährleistet:

„Ich vergleiche die AfD immer gerne mit so einer Brücke. Die AfD hat zwei Fundamente, zwei Pfeiler wo sie draufsteht. Und diese zwei Pfeiler sind zwei gut organisierte Netzwerke. Das eine Netzwerk hieß mal der Flügel, hat sich aufgelöst. Die bekanntesten Köpfe sind Björn Höcke und Andreas Kalbitz. Und dann gibt es noch ein anderes Netzwerk, ein anderes Fundament. Das hat keinen Namen, ist aber genauso gut organisiert, und die führenden Köpfe heißen da Beatrix von Storch und Georg Pazderski. Zwischen diesen beiden Fundamenten gibt es die Brücke. Aber ich schätze mal die Kräfteverhältnisse beider großen Netzwerke so auf 35 Prozent und die anderen, das sind die, die neutral sind. […] Und die Neutralen haben immer aufgepasst, dass keines dieser beiden großen Netzwerke alleine die Macht übernimmt und die anderen raus drängt. Das könnt ihr daran sehen, wie die allermeisten Listenaufstellungsparteitage gelaufen sind. Das könnt ihr daran sehen, wie die letzten Bundesparteitage gelaufen sind. Da wurde immer aufgepasst, dass sich die Kräfteverhältnisse gleichmäßig verteilen und dass keiner den anderen platt macht. […] Es gibt keine Alternative für diesen Zusammenhalt und der Feind, liebe Freunde der ist nicht da drin, der ist nicht in der AfD. Das sind nicht die AfD-Mitglieder, unser Feind ist draußen und wir haben viel zu tun. Und deswegen möchte ich euch noch einmal eindringlich bitten, haltet zusammen, lasst euch nicht auseinandertreiben, lasst die Scharfmacherei sein. Hört auf über Parteifreunde herzufallen, die nicht eurer Meinung sind. Wir haben hier viele unterschiedliche Menschen, viele unterschiedliche Meinungen, wir vertreten hier alle. Deswegen sind wir ja verdammt noch mal eine Volkspartei. […] Und dazu müssen wirklich alle zusammenhalten und wirklich alle Lager weiterhin vertreten bleiben. Und deswegen halte ich auch diesen Entschluss, Andreas Kalbitz mit einer fünf zu sieben Mehrheit im Prinzip aus der Partei zu schmeißen, seine Mitgliedschaft zu annullieren für grundfalsch.“[279]

In einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 23. März 2020 sprach sich zudem der Bundestagsabgeordnete und Sprecher im AfD-Kreisverband Viersen (NW) Kay Gottschalk trotz der formalen Auflösung des „Flügel“ für den Verbleib seiner Anhänger – als integralem Bestandteil – in der AfD aus:

„Es gibt, würde ich sagen, und da bin ich bei Björn Höcke, einen Großteil der Menschen, die sich unter dem Logo des Flügels versammelt haben, das sind fantastische, großartige Leute, die ich aus dem eigenen Leben kenne. Die kenne ich aus dem Bundestag in der Zusammenarbeit. […] Hier geht es um den ‚Flügel‘, […], und da kenne ich ein Großteil der Menschen, wenn es denn 7.000 sind, als konstruktive, verlässliche, gute und auch fachlich sehr fundierte Gesprächspartner. Und die will und, ich glaube, jeder, jeder von uns, in der Partei behalten. […] Ich hoffe, alle konstruktiven Kräfte, die es im Flügel gibt – und davon kenne ich viele und mit denen arbeite ich in Nordrhein-Westfalen wie auch auf Bundesebene vernünftig und gut zusammen -, die sollen und müssen weiter integraler Bestandteil unserer Partei sein. […] Wir haben ja auch gerade eine Krise, die wir durchlaufen, und da müssen wir uns alle auch einbringen, konstruktiv, und da brauchen wir auch jeden Mann und jede Frau vom Flügel.“[280]

Weiterhin wurde die Auflösung des „Flügel“ zwar vielfach gebilligt, gleichzeitig jedoch als „Rückkehr der inneren Einheit der Partei“ gedeutet. Dies wurde insbesondere in der von den Bundestagsabgeordneten Alice Weidel, Alexander Gauland und Tino Chrupalla unterzeichneten Erklärung „Mit vereinten Kräften für unser Land“ vom 31. März 2020 deutlich, mit der diese auf eine von Meuthen angestoßene Diskussion zu einer möglichen Abspaltung des „Flügel“ von der AfD reagierten:

„Deshalb war es ein wichtiges Zeichen für unsere Partei, dass der ‚Flügel‘ auf Forderung des Bundesvorstands selbst seine zeitnahe Abwicklung beschlossen hat. Es gibt nur eine AfD! Die Auflösung des ‚Flügels‘ bedeutet die Rückkehr zur inneren Einheit der Partei und ist ein wichtiger Schritt zur Bündelung unserer Kräfte als freiheitlich-soziale Partei. Nur so können wir gesamtdeutsche Volkspartei werden. Wir alle sind Mitstreiter für unsere gemeinsame Sache, der politische Gegner steht ausschließlich außen. Er bekämpft uns alle und nicht nur Teile von uns. Jetzt ist die Zeit gekommen, unsere gemeinsam beschlossenen politischen Ziele wieder in den Vordergrund zu stellen und uns gemeinsam zu unserem freiheitlich-sozialen Kurs zu bekennen. Mit Mut zur Wahrheit und vereinten Kräften für unser Land, für Deutschland!“[281]

Weidel, Chrupalla und Gauland begrüßen demnach die Auflösung des „Flügel“ vor allem aus parteistrategischen Gründen als „Schritt zur Bündelung unserer Kräfte als freiheitlich-soziale Partei“. Da die Erklärung als Absage und Abgrenzung zur Forderung Meuthens nach einer Abspaltung des „Flügel“ zu sehen ist, dient sie vor allem der Feststellung, dass das „Flügel“-Netzwerk weiterhin zur Partei gehört. Eine Distanzierung von den Inhalten oder leitenden Personen des „Flügel“ findet demnach ausdrücklich nicht statt.

Diese Position und die Kritik an Jörg Meuthen bekräftigte Tino Chrupalla am 2. April 2020 nochmals mit einem Beitrag auf seiner Facebook-Seite, in dem er schrieb:

„Wer eine Diskussion über die Zukunft der Partei anstoßen will, der tut dies erstens in den zuständigen Gremien und zweitens ergebnisoffen. Wir haben die Debatte über die Zukunft der AfD mit dem Vorstands-Beschluss zur Auflösung des Flügels eingeleitet. Dabei stand die Einheit der Partei nie zur Debatte, und sie wird auch niemals zur Debatte stehen. Insofern bin ich, wie viele andere in der Partei, von Jörg Meuthens Vorstoß einigermaßen überrascht – und menschlich enttäuscht.“[282]

Die strukturelle Bedeutung des „Flügel“ für die Gesamtpartei auf Bundesebene zeigt sich darüber hinaus in den zahlreichen Sympathie- und Solidaritätsbekundungen gegenüber Andreas Kalbitz, nachdem dessen Parteimitgliedschaft aufgrund falscher Angaben beim Parteieintritt durch den Bundesvorstand annulliert wurde.

Bereits am 16. September 2019 äußerte sich der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland (MdB) im ARD-Sommerinterview zu Kalbitz‘ rechtsextremistischer Vergangenheit:

„Also wir haben natürlich anhand der Geschichte in Athen darüber gesprochen. Ich glaube nicht, dass es irgendetwas gibt. Und ich glaube auch nicht, dass diese Bezüge dazu führen sollten, dass er nicht diese Aufgabe weitermacht, die er hat. Er macht das gut. Und er ist ein bürgerlicher Mensch. Ich kann nichts Rechtsextremes in ihm finden.“[283]

Direkt im Anschluss an die Sitzung des Bundesvorsands, die im Beschluss der Annullierung der Parteimitgliedschaft Kalbitz‘ mündete, erklärte Gauland, dass er „das Ergebnis für falsch und für gefährlich für die Partei“ halte. Außerdem bezweifle er, dass die Entscheidung juristisch Bestand haben werde, da Kalbitz „ja angeblich etwas verschwiegen hat, was sich überhaupt nicht nachweisen lässt“.[284]

Da Gauland die Ablehnung des Vorstandsbeschlusses nicht nur juristisch begründet, sondern diesen als falsch und gefährlich für die Partei bezeichnet, bringt er zum Ausdruck, dass er den Verbleib des führenden „Flügel“-Protagonisten Kalbitz in der AfD politisch befürwortet.

Die Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion und stellvertretende Bundessprecherin, Alice Weidel, die im Bundesvorstand gegen den Annullierungsbeschluss gestimmt hatte, bezweifelte in einem Statement in der ARD ebenfalls, dass der Annullierungs-Beschluss einer juristischen Überprüfung standhalten werde.[285]

Auch AfD-Co-Bundessprecher Tino Chrupalla (MdB), der als Mitglied des Bundesvorstands ebenfalls gegen die Annullierung stimmte, kritisierte am 16. Mai 2020 öffentlich den Vorstandsbeschluss:

„Auch in der innerparteilichen Auseinandersetzung müssen rechtsstaatliche Grundsätze Bestand haben. Wer sie mit Füßen tritt, nur um auf diese Weise innerparteilichen Konkurrenten zu schaden, verbrüdert sich mit dem politischen Gegner. Gut, dass Rechtmäßigkeit geprüft wird.“[286]

Sowohl Chrupalla wie Weidel begründen ihre Ablehnung der Annullierung vor allem formal-juristisch. Die enge strategische Zusammenarbeit mit Gauland, die sich u. a. in der bereits zitierten gemeinsamen Erklärung „Mit vereinten Kräften für unser Land“ vom 31. März 2020 zeigt, deutet darüber hinaus jedoch auch auf eine strategisch-politische Motivation hin, „Flügel“-Funktionäre nicht aus der Partei zu drängen, um die AfD insoweit auf ein breites Fundament unter Einschluss des „Flügel“-Netzwerkes zu stellen.

Zu den Mitgliedern im Bundesvorstand, die gegen die Annullierung stimmten, gehörte zudem der Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner. Am 15. Mai 2020 teilte und kommentierte dieser einen Tweet Stefan Möllers (MdL, TH, Sprecher im AfD-Landesverband Thüringen und Unterstützer des „Flügel“), in dem Möller die Annullierung der Parteimitgliedschaft des Andreas Kalbitz (MdL, BB) wie folgt kommentierte:

„Ich hänge mich mal aus dem Fenster: Der #Ausschluss von #Kalbitz aus der AfD wird auf dem Rechtsweg eine Beendigung erster Klasse erhalten.“

Hierzu schrieb Brandner:

„Da hängen wir zusammen, Stefan!“[287]

Das Abstimmungsverhalten sowie die Kommentierung deuten in der Konsequenz auf einen Rückhalt für den Rechtsextremisten Kalbitz hin.

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Ulrich Oehme äußerte sich am 5. Juni 2020 auf seiner Facebook-Seite wie folgt:

„Man wirft ihm vor, er habe pflichtgemäße Angaben in seinem Mitgliedsantrag verschwiegen. Aber sein Mitgliedsantrag, der bei der Beschlussfassung des Bundesvorstands der Partei zur Entscheidung hätte herangezogen werden müssen, ist nicht auffindbar. Man kann einen so schweren Vorwurf nicht ungeprüft aus den Medien heranziehen. – War Andreas Kalbitz tatsächlich zur Abgabe einer (unverstellt) solchen Erklärung verpflichtet, wenn er seinen Antrag einen Monat vor dem Gründungskongress der AfD einreichte? Auf dem wurden erst später satzungsgemäß Kriterien über die Angaben zur Aufnahme verabschiedet. – Ebenso ist falsch, dass Kalbitz seine zeitweilige Mitgliedschaft (einige Monate) bei den Republikanern hätte angeben müssen. Entgegen der Presseberichte wurde diese Partei nicht für rechtsextrem befunden. […] Selbst wenn Kalbitz seine sehr kurze Zeit bei den Republikanern verschwiegen haben sollte, muss er darüber zwingend keine Erklärung abgeben. – Über ein Gutachten des Bundesamts für Verfassungsschutz zur Heimattreuen Jugend, über die politisch gesteuerten Aussagen darin, ‚habe ich mich als Beamter fremd geschämt‘. Wie im übrigen Andreas Kalbitz eine Mitgliedschaft in der Heimattreuen Jugend bestreitet und das Bundesinnenministerium die Beweise für das Gegenteil nicht herausrückt.“[288]

Der Beisitzer im AfD-Landesverband Sachsen und Vorstandsvorsitzende im Kreisverband Bautzen, Karsten Hilse (MdB), veröffentlichte am 16. Mai 2020 auf Facebook ein Foto, das ihn zusammen mit Andreas Kalbitz, Björn Höcke (MdL, TH) und Jörg Urban (MdL, SN) zeigt. Hilse drückte ergänzend seine Solidarität mit Kalbitz und dem „Flügel“ folgendermaßen aus:

„Ich werde in Zukunft allen, die dem Ausschluss von Andreas Kalbitz zugestimmt haben, weder meine Stimme geben, noch sie unterstützen.“[289]

Am 18. Mai 2020 trat der AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Maier (Landesobmann des „Flügel“ für Sachsen) auf der PEGIDA-Demonstration in Dresden (SN) als Gastredner auf. In seinem Redebeitrag äußerte er sich folgendermaßen:

„Und daher liebe Freunde, möchte ich euch bitten. Es wird jetzt zu einem Selbstreinigungsprozess kommen. Wir haben das ja schon zweimal durch, mit Lucke durch, mit Petry durch. Doch das werden wir jetzt auch wieder überstehen, wird eine Zeit dauern. Und es trifft uns auch in einer Zeit, wo wir uns doch wirklich mit etwas anderem beschäftigen sollten als mit innerparteilichen Gerangel. […] Und ich bin sicher, dass diese Entscheidung des Bundesvorstands vor keinem Gericht Bestand haben wird. Und dann ist Andreas Kalbitz wieder da, liebe Freunde und dann gehen wir unseren erfolgreichen Weg weiter.“[290]

Maier drückt damit nicht nur seine Solidarität mit Kalbitz aus, sonder sieht den Richtungsstreit innerhalb der AfD als „Selbstreinigungsprozess“, den es zu überstehen gelte. Zudem spricht er offen davon, „unseren erfolgreichen Weg weiter“ zu gehen, was auf eine Fortsetzung der Aktivitäten des „Flügel“-Netzwerkes und den offensiven Machtanspruch desselbigen in der Gesamtpartei hinweist.

Mary Khan-Hohloch, stellvertretende Bundesvorsitzende der JA, außen sich in einem Tweet zur Annullierung der Parteimitgliedschaft Andreas Kalbitz‘ wie folgt:

„Die heutige Entscheidung des Bundesvorstandes der lässt mich erschaudern. Ich habe Angst um meine Partei, in die ich vor knapp 5 Jahren voller Überzeugung eingetreten bin. Ich will keine #CDU 2.0. Ich will eine echte Alternative für #Deutschland.“[291]

Am 14. Mai 2020 teilte der AfD-Bundestagsabgeordnete, stellvertretende Vorsitzende im AfD-Landesverband Sachsen und Vorsitzende im Kreisverband Leipzig, Siegbert Droese, einen Presseartikel, der über den innerparteilichen Richtungsstreit sowie über die Debatte um Andreas Kalbitz berichtete. Droese sah den Artikel kritisch und schrieb:

„Andreas Kalbitz kann nicht zur Disposition stehen. […] Bei der Lektüre einiger Qualitätsmedien gewinnt man im Augenblick den Eindruck, es wird eine harte Sanktion gegen Andreas Kalbitz vorbereitet. Offensichtlich werden die Medien mit Informationen aus dem innersten Kreis der AfD ‚versorgt‘. Eine Frage stellt sich dabei: Wem nützt es? Der Alternative für Deutschland nutzt es jedenfalls nichts, wenn der erstklassige brandenburgische Landesvorsitzende, der schneidige Fraktionschef im Brandenburger Landtag und Garant für fulminante Wahlerfolge, Andreas Kalbitz, in Frage gestellt wird.“[292]

Am 19. Juni 2020 entschied das Landgericht Berlin, dass die Parteimitgliedschaft Kalbitz‘ entgegen dem Annullierungsbeschluss des Bundesvorstands bis zu einer abschließenden Entscheidung des Bundesschiedsgerichts bestehen bleiben müsse. Am selben Tag äußerte sich Robby Schlund (MdB), indem er einen Facebook-Eintrag der Junge Alternative Brandenburg teilte, der ebenfalls eine Positionierung zugunsten von Andreas Kalbitz traf. Die dahin enthaltene Grafik beinhaltete die Aussage:

„Gerechtigkeit. Andreas Kalbitz ist zurück!“

Im dazugehörigen Eintrag der JA Brandenburg hieß es außerdem:

„Willkommen zurück, Andreas!“[293]

Die Äußerungen zur Annullierung der Mitgliedschaft Kalbitz‘ zeigen, dass dessen Verbleib in der Partei von zahlreichen Vertretern der Bundesebene befürwortet wird. Durch die zentrale Position Kalbitz‘ als führendem „Flügel“-Protagonisten wird dadurch auch der Rückhalt für den Personenzusammenschluss „Flügel“ insgesamt deutlich.

Neben den Sympathie- und Solidaritätsbekundungen gegenüber Andreas Kalbitz lässt sich der Rückhalt des „Flügel“ insbesondere auch aus der Teilnahme von AfD-Funktionären und -Funktionärinnen der Bundesebene an „Flügel“-Treffen ableiten.

So beteiligte sich etwa die Junge Alternative für Deutschland mit einem Infostand am „Kyffhäusertreffen 2018“. Dies zeigt die enge Verbundenheit beider Personenzusammenschlüsse.[294]

Steffen Kotré (MdB, Beisitzer im AfD-Landesverband Brandenburg und Vorsitzender im Kreisverband Dahme-Spreewald sowie Unterstützer des „Flügel“) berichtete in einem Facebook-Eintrag vom 21. September 2019 über seinen Rednerauftritt auf dem „Sächsischen Flügeltreffen“ und lobte die dortige „sehr angenehme Atmosphäre“. Er betonte in seinem Eintrag außerdem die Bedeutung des „Flügel“ für die AfD:

„Der Flügel hat die Aufgabe, immer wieder den Schutz unserer Identität‚ Heimat Kultur und Rechtsstaatlichkeit mit klarer Kante einzufordern und zu verhindern, daß die AfD in ihren Bemühungen erlahmt, keine faulen Kompromisse mit den Altparteien einzugehen.“[295]

Enrico Komning (MdB, Beisitzer im AfD-Landesvorstand Mecklenburg-Vorpommern und Landesobmann des „Flügel“ für Mecklenburg-Vorpommern) berichtete in einem Facebook-Eintrag vom 24. November 2019 über das „Königsstuhltreffen“ des „Flügel“, das am Vortag in Binz (MV) stattgefunden hatte, und erklärte, dass das „Flügelfest“ fortan jährlich in Mecklenburg-Vorpommern stattfinden solle.[296]

Zuletzt lassen auch Aussagen von ehemaligen Parteimitgliedern Rückschlüsse auf die Einflussmöglichkeiten des „Flügel“ innerhalb der Gesamtpartei zu. So gab z. B. das ehemalige Mitglied des AfD-Bundesvorstands und einer der Initiatoren der Alternative Mitte, Dirk Driesang, am 28. Dezember 2019 auf seiner Facebook-Seite bekannt, dass er bereits zum 2. Dezember 2019 aus der AfD ausgetreten sei. Seinen Schritt begründete Driesang wie folgt:

„Beim letzten BPT der AfD in Braunschweig, der erstaunlich häufig positiv bzw. neutral bewertet wurde, gab es einige Abstimmungsergebnisse zu beobachten, die mich persönlich zur Erkenntnis gebracht haben, daß die AfD nun in weitem Umfang ‚flügelhörig‘ geworden ist. Eine mir leider unumkehrbare Entwicklung. […] Wenn Herr Chrupalla eine gemäßigte Sicht der Dinge vertritt und Herr Höcke unterdessen ‚in der Mitte der Partei‘ steht (O-Ton Gauland), dann will ich die nicht gemäßigten Mitglieder und den Rand der Partei nicht kennenlernen.“[297]

Neben Driesang nannte im Januar 2020 auch die Bundestagsabgeordnete Verena Hartmann die Ergebnisse des Bundesparteitages als Anlass für ihren Austritt aus Partei und Fraktion. Hartmann geht dabei auch auf die „zersetzende“ Wirkung des „Flügel“ ein:

„Mit dem AfD-Bundesparteitag wurden die schlimmsten Befürchtungen wahr: der Flügel mit seinen rechtsextremen Gebaren nach innen und außen, hat es bis an die Spitze der Partei geschafft. Durch neue Bündnisse, die vor einem Jahr unvorstellbar waren. […] Der rechte Flügel ist weder fair, noch kämpft er mit offenem Visier. Durch Intrigen und Diffamierungen lässt er nur zwei Optionen zu: Unterwerfung oder politische Demontage. So zersetzt er Stück für Stück die Partei und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis nichts mehr von der AfD, die sie noch vor zwei Jahren war, übrig ist.[298]

Der Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland trägt aus der Sicht Hartmanns ebenfalls eine Mitschuld am Erstarken des „Flügel“, da er sich in der Vergangenheit schützend vor dessen Anhängerschaft gestellt und dem „Flügel“ damit bei der Entfaltung geholfen habe:

„Dr. Gauland erklärt ganz offen den Begründer des rechten Flügels, Herrn Höcke, der ‚Mitte der Partei‘ zugehörig. Damit verschiebt sich die Mitte nach rechts und zwingt die gesamte Partei mitzugehen. Er unterstreicht einmal mehr, voll und ganz hinter Höcke zu stehen. Lieber verliert die Parteispitze viele gute Mitglieder, auch Mandatsträger, als einen Höcke. Der rechte Flügel konnte sich dadurch in den letzten Jahren frei entfalten, die Richtung ist vorgegeben und der Wandel der AfD damit besiegelt.“[299]

Die von Verena Hartmann prognostizierte Entwicklung wurde nach Aussagen weiterer ehemaliger Mitglieder auch durch die formale Auflösung des „Flügel“ nicht gestoppt.

Im September 2020 erklärte das AfD-Gründungsmitglied Konrad Adam seinen Austritt aus der Partei zum Januar 2021. In einem Interview mit der dpa erhob Adam ebenfalls Vorwürfe gegen den Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland. Dieser habe sich, so Adam, immer schützend vor „Rechtsausleger wie Andreas Kalbitz und den Thüringer Landesvorsitzenden Björn Höcke gestellt.“ Damit habe Gauland dazu beigetragen, dass der Einfluss des „Flügel“ stetig gewachsen sei, was besonders in den ostdeutschen Landesverbänden deutlich zu spüren sei.[300]

Seit der Ankündigung der Auflösung des „Flügel“ ist zu beobachten‚ dass sich verschiedene Gruppierungen, besonders im Internet, gründeten, die teils offen, teils nur indirekt als „Flügel“-Gruppierungen gesehen werden können. Bereits am 22. März 2020 bot sich die bereits seit 2017 bestehende „Freiheitliche Patriotische Alternative“ (FPA) auf Facebook als Nachfolgebestrebung des „Flügel“ an.[301] Sprecher dieser Organisation ist der sächsische Landtagsabgeordnete und „Flügel“-Anhänger Roland Ulbrich.

Die öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten, die seitdem zu verzeichnen sind, lassen allerdings nicht den Schluss zu, dass die Anhängerschaft des „Flügel“ sich unter dem Dach der FPA zusammengefunden hat. Der einzige Beitrag auf der Facebook-Seite nach dem 22. März 2020 stammt vom 3. April 2020. In diesem wird dazu aufgerufen, auf der Seite https://aufrechte.info eine Petition zu unterschreiben, in der Jörg Meuthen zum Rücktritt aufgefordert wird.[302] Daneben bestand bis in den September 2020 hinein die Seite www.alternative-basis.de, die von der inhaltlichen Ausrichtung eindeutig dem „Flügel“ nahestand. Durch die Klage der ehemaligen niedersächsischen AfD-Landesvorsitzenden und Landtagsabgeordneten Dana Guth wurde bekannt, dass der Käufer der Domain der Bundestagsabgeordnete und „Flügel“-Anhänger Frank Pasemann (ST)[303] war. Dieser bestätigte gegenüber Pressevertretern, dass er der ursprüngliche Käufer sei, nicht aber der Betreiber.[304]

Weitere Beispiele für entsprechende Aktivitäten im Internet sind die Facebook-Seiten Blaues Ende und Nationalkonservative Wertegemeinschaft. Letztere wurde noch im März, kurz nach Ankündigung der Auflösung, erstellt. In der Selbstbeschreibung der Seite heißt es entsprechend: „Facebook-Seite der Nationalkonservativen Wertegemeinschaft in der AfD (NKW), eine Reaktion auf die Auflösung des Flügels.“[305]

Die Seite Blaues Ende wurde wenige Tage später, am 2. April 2020, gegründet. Bereits das Hintergrundbild und die Beschreibung der Gruppe lassen keinen Zweifel an der inhaltlichen Positionierung der hinter ihr stehenden Personen:

„Gemäßigt in den Untergang. Gehen wenn’s am schönsten ist…“[306]

Weiterhin wird ebenfalls auf dieser Seite für die bereits erwähnte Petition zum Rücktritt von Jörg Meuthen prominent geworben.

Die von AfD-Mitgliedern neu gegründeten Seiten belegen die auch nach der formalen Auflösung fortgesetzten Aktivitäten von „Flügel“-Anhängerinnen und -Anhängern im Internet. Neben zum großen Teil polemischen Kommentierungen der innerparteilichen Auseinandersetzungen stand besonders Jörg Meuthen im Mittelpunkt der Diffamierungen. Aufgrund der unterschiedlichen Verweise kann außerdem davon ausgegangen werden, dass die unterschiedlichen Seiten untereinander in Kontakt standen und somit in einem gewissen Maß von einem planvollen und strategischen Zusammenwirken gesprochen werden kann mit dem Ziel, im Sinne des „Flügel“ Einfluss auf die innerparteilichen Diskussionen zu nehmen.

2. Landesebene

Die strukturelle Einflussnahme des „Flügel“ auf die Gesamtpartei lässt sich auf der Landesebene beispielhaft anhand von Äußerungen verschiedener Landesverbände der Alternative Mitte (AM) nachzeichnen. So plädierte der mittlerweile aus der Partei ausgetretene ehemalige niedersächsische Sprecher der Alternative Mitte, Jens Wilharm, im Juli 2019 für eine Trennung der AfD und des „Flügel“. Anlass dafür war das „Kyffhäusertreffen 2019“ und die dortige Rede Björn Höckes:

„Es wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in nicht allzu ferner Zukunft eine als rechtsextrem eingestufte Partei in Deutschland geben, die die Nachfolge von Parteien wie NPD oder DVU im Parteienspektrum antritt […] und die Frage ist womöglich auch nur noch, ob sie ‚Der Flügel‘ oder AfD heißen wird […] und ich möchte nicht, dass diese Partei AfD heißt.“[307]

Hier wird deutlich, dass Wilharm dem „Flügel“ erhebliche Bedeutung beimisst. Er unterstellt konkludent dem „Flügel“ eine rechtsextreme Position und befürchtet, dass diese sich auf die Gesamtpartei ausdehnt.

Mit Referenz auf die Wahl des AfD-Bundesvorstands auf dem Bundesparteitag im Jahr 2019 erklärte die Alternative Mitte Niedersachsen zudem, es zeige sich, dass die von der Alternative Mitte vertretenen politischen Ansichten „in der AfD mehrheitlich nicht gewünscht“ seien. Dies bedeute gleichzeitig, dass der „Flügel“ sich dauerhaft in der Partei etabliert habe. Die Alternative Mitte Niedersachsen sehe für sich selbst keinen Platz mehr in einer Partei, die mittlerweile „deutlich rechts von der bürgerlichen Mitte“ stehe.[308]

Es zeigt sich, dass die Alternative Mitte ihren vermeintlichen Widerstand gegen die extremistische Strömung „Flügel“ in der Partei aufgibt und diesem einen erheblichen Einfluss in der Gesamtpartei attestiert.

Die Alternative Mitte Thüringen ging ebenfalls auf die Ergebnisse des zehnten Bundesparteitages und die dortige Neuwahl des Bundesvorsands ein. De Reaktionen auf die Stellungnahme der Alternative Mitte Deutschland zum Parteitag hätten bei ihr den Eindruck gefestigt, dass „die AM [Anm.: Alternative Mitte] als kritische Interessengemeinschaft in der AfD nicht erwünscht ist. Obwohl eine wahrnehmbare kritische Stimme, wie die der AM, für die AfD wichtiger denn je wäre, ist sie vielfach nicht gewollt – auch nicht von vielen flügelkritischen Parteimitgliedern und selbst nicht mehr von allen, die sich ihr selbst zugerechnet hatten oder haben.“

Es habe den Anschein, als seien frühere Reformbewegungen nun „anderen Strategien gewichen“. Aus diesen Gründen mache man „hier das Licht aus“. Abermals verdeutlicht die Alternative Mitte, dass „Flügel“-kritische Stimmen in der Partei nicht mehr gewollt seien, was eine Aufgabe des vermeintlichen Widerstands zur Folge habe.[309]

Weitere Belege für eine fortgesetzte Einflussnahme des „Flügel“ auf die Gesamtpartei lassen sich in den Reaktionen auf die Überlegungen Jörg Meuthens zu einer Teilung der Partei vom 1. April 2020 erkennen. Noch am gleichen Tag äußerte sich Andreas Kalbitz[310] mit einer Online-Fragestunde über Facebook zum Vorschlag Meuthens, indem er dessen Überlegungen kategorisch widersprach und die Einheit der Partei beschwor:

„Frau P. B. fragt: Wird sich die AfD teilen? Nein. Das muss man ganz klar sagen. Unser Erfolgsrezept war immer die Einigkeit, und die Stärke haben wir aus dieser Einigkeit gezogen. Wir sehen das an den Wahlergebnissen im Osten. Wir haben ja schon viele Stürme innerparteilich überstanden und ich denke, man braucht sich in der Vergangenheit eigentlich nur die Liste derer anschauen, die schon mal glaubten, diese Partei spalten zu wollen oder auf den Weg zu bringen, ja nicht gut getan hat. Ich bin da völlig zuversichtlich. […] Die AfD als alternatives Projekt, das unser Land so dringend braucht, hat nur eine Chance gemeinsam und einig. Dafür stehen wir auch hier in Brandenburg auch als Fraktion, da gibt es bei uns keine zwei Meinungen. Und ich danke, so war das bisher immer, dass wir da gestärkt draus hervorgehen. Ich persönlich, auch in meiner Funkion als Mitglied des Bundesvorstands, sage ich ganz offen, finde es nicht geschickt‚ erstens diese Stöckchenspringerei zu betreiben und dann in der Außenwirkung ein Bild abzugeben, wo man sagt, ganz Deutschland ist beschäftigt mit Corona. Viele müssen sich überlegen, wie läuft es beruflich weiter, und einige haben nichts Besseres zu tun, als sich mit sich selbst zu beschäftigen, davon halte ich nichts. Also, die AfD wird sich nicht teilen, da bin ich völlig zuversichtlich.“[311]

Am 2. April 2020 äußerte sich ebenfalls Björn Höcke in einem Beitrag auf seiner Facebook-Seite, der auch auf der islamfeindlichen Website PI-NEWS veröffentlicht wurde, zu den Überlegungen Meuthens:

„Während ‚Corona‘ die Schlagzeiten beherrscht, […], haben einige wenige in der einzig relevanten Oppositionskraft nichts Besseres zu tun, als die Einheit unserer Partei in Frage zu stellen. Ich finde das töricht und verantwortungslos! Die Diskussion über die Spaltung unserer Partei in eine West- und eine Ost-AfD, in eine Flügel- und Nicht-Flügel-AfD ist überflüssig. […] Wir sind die politische Kraft, die ohne Wenn und Aber an dieser Einheit festhalten will, die Ja sagt zur Nation, weil sie weiß, daß Identität, Solidarität und Demokratie nur im Rahmen der Nation gelebt werden kann. Wir setzen gegen die vereinten Kräfte des Establishments alles daran, unser Land als Heimat der Deutschen in Einheit zu bewahren. Deswegen wäre das Abspalten von relevanten Gruppen oder gar die Spaltung der Partei ein fatales Zeichen, es wäre ein Zeichen des Scheiterns.“[312][313]

Auch er verweist auf die Notwendigkeit einer geeinten AfD und lehnt eine Spaltung in „Flügel- und Nicht-Flügel-AfD“ kategorisch ab.

Der AfD-Landesverband Brandenburg sprach sich in einem Facebook-Eintrag vom 3. April 2020 – unter anderem mit dem Konterfei von Kalbitz versehen – für die Geschlossenheit der Partei aus und warb für ein „Miteinander unterschiedlicher Strömungen“:

„Unser Grundsatzprogramm überführt all diejenigen der Lüge, die behaupten die unterschiedlichen Strömungen unserer AfD seien nicht unter einem Dach vereinbar. Dabei ist es gerade das Produkt davon; das Miteinander unterschiedlicher Strömungen, welches die AfD zur Alternative macht. Uns alle eint das Ziel unsere Heimat zu bewahren. Als Demokraten sind wir bereit miteinander hart in der Sache zu diskutieren und den Weg dorthin gemeinsam zu gestalten. All diejenigen dagegen, die unsere Partei in gute und schlechte Mitglieder, in Anzugsträger und Jogginghosen, Fundamentale und Reale spalten möchten, haben unsere Partei nicht verstanden. Wir haben bereits in der Vergangenheit gezeigt, dass wir gemeinsam in der Lage waren diesen Einzelkämpfern die Stirn zu bieten. Wir Brandenburger werden auch diesmal wieder unseren Beitrag leisten, um die Einheit der Partei zu wahren.“[314]

Die Erklärung kann als Solidarisierung mit der formal aufgelösten Sammlungsbewegung „Flügel“ gedeutet werden.

Die Junge Alternative Baden-Württemberg übte ebenfalls scharfe Kritik an den Aussagen Meuthens und verband dies mit einer Rücktrittsforderung:

„Als Jörg Meuthen 2017 auf dem Kyffhäusertreffen sprach, konnte man als stiller Beobachter davon ausgehen, dass er die Meinungsvielfalt innerhalb der Partei unterstützen würde. Mit der Zeit kristallisierte sich immer deutlicher heraus, dass dies nicht der Fall ist. Mit den aktuellen Äußerungen von Jörg Meuthen reiht er sich in eine Liste mit Bernd Lucke und Frauke Petry ein. Beide waren Bundesvorsitzende der AfD und versuchten, die AfD mit ihrem Austritt zu spalten – ohne Erfolg. Herr Meuthen möchte mit Blick auf die Auflösung des ‚Flügels‘ eine Spaltung der AfD in Ost und West vorantreiben. Man mag zum ‚Flügel‘ stehen, wie man möchte. Nichts desto trotz erscheinen uns diese Äußerungen als stark parteischädigend. Gerade von einem Bundessprecher sollte man erwarten können, dass er sich für die Einheit und Meinungsvielfalt innerhalb der Partei und gerade nach außen hin einsetzt. Wir sagen: Herr Meuthen, treten Sie zurück, um weiteren Schaden von der Partei abzuwenden.“[315]

Auch die JA Mecklenburg-Vorpommern teilte und schrieb Beiträge, die sich deutlich gegen eine Spaltung der AfD positionieren. Zudem wurden Einträge von „Der Flügel“ und Björn Höcke geteilt. Die Quantität darartiger Beiträge unterstreicht dabei die inhaltliche und strukturelle Nähe der JA Mecklenburg-Vorpommern zum „Flügel“.[316][317][318][319][320]

Insgesamt richtet sich die Kritik an den Überlegungen Meuthens zu einer Abspaltung des „Flügel“ vor allem darauf, dass dieser dessen Zugehörigkeit zur AfD negiere. So veröffentlichte der niedersächsische Landtagsabgeordnete Stephan Bothe (stellv. Vorsitzender im AfD-Landesverband Niedersachsen und Vorsitzender im Kreisverband Lüchow/Dannenberg-Lüneburg) im April 2020 auf Facebook unter der Überschrift „Spaltungstendenzen nachhaltig stoppen“ einen „Antrag an den Bundeskonvent der Niedersächsischen Delegierten“, in dem es hieß:

„Die Äußerungen des Bundessprechers Prof. Dr. Jörg Meuthen hinsichtlich einer Spaltung der Partei sind inakzeptabel, weil diese eine Diskussion heraufbeschwören, welche in der Partei keine sein darf und die Partei außerordentlich schädigt. Unser Partei funktioniert nur als Ganzes und kann nur als Ganzes erfolgreich sein. Eine von innen aufgezwungene Diskussion des Bundessprechers über eine Abspaltung oder eine Aufspaltung der AfD, welche bekanntermaßen die letzte evolutionäre Chance ist, unser Vaterland als Heimat der Deutschen zu erhalten, wirkt parteischädigend und zersetzend.“[321]

Jan-Oliver Zwerg (MdL, SN und Generalsekretär im AfD-Landesverband Sachsen) positionierte sich ähnlich, indem er am 22. April 2020 einen als „Dresdner Erklärung“ überschriebenen Facebook-Eintrag von Norbert Mayer (MdL, SN und stellv. Fraktionsvorsitzender der AfD-Landtagsfraktion) verbreitete. Dabei handelt es sich offenbar um eine Reaktion auf den von Meuthen am 1. April 2020 öffentlich vorgebrachten Vorschlag. Darin hieß es:

„Wir – Mitglieder, Funktions- und Mandatsträger der Partei Alternative für Deutschland – setzen uns besonders jetzt mit unserer ganzen Kraft dafür ein, dass unsere Heimat, unser Land, diese uns durch die Krise auferlegte Prüfung besteht und wir am Ende das erreichen, was uns allen am Herzen liegt: in einer dem inneren und äußeren Frieden verbundenen, freiheitlichen und sozial ausgewogenen Gesellschaft zu leben, in der wir uns als Deutsche wiederfinden und wohl fühlen können. […] Nur durch die Vereinigung aller Kräfte und Strömungen und unter Respektierung regionaler Besonderheiten innerhalb der Partei sind wir in der Lage, das zu werden, was dieses Land so dringend braucht: eine wirkliche Volkspartei, eine Volkspartei im wörtlichen Sinne. Wir erklären hiermit, dass wir vor dem Hintergrund der Verantwortung, die auf uns lastet, fürderhin in unseren Reihen nur solche Personen respektieren und fördern werden, die sich diesem Ziel verpflichtet sehen und die sich unmissverständlich und glaubhaft in Wort und Tat zur Einheit der Partei bekennen. Dresden, im April 2020.“[322]

Die angemahnte „Vereinigung aller Kräfte und Strömungen“ ist als Plädoyer für die Einheit der Partei und somit ebenfalls für den Verbleib des rechtsextremistischen „Flügel“ in der AfD zu versehen.

Mehr Zusammenhalt und Einigkeit innerhalb der AfD fordere auch Jessica Bießmann (MdA, BE, Unterstützerin des „Flügel“). Sie verurteilte insbesondere die parteiinternen Angriffe gegen Mitglieder des „Flügel“:

„Die alten Römer wußten es: ‚Ex unitate vires‘, ‚Aus Einigkeit Kraft‘. Leicht dahingesagt sind diese Worte, denn erst im Augenblick existentieller Herausforderungen offenbart sich ihr tiefer Sinn. Wir sind stark, weil wir einig sind, sollten die Leitworte unserer Partei sein. […] Gemeinsam haben wir diese Höhen erklommen und viele Flügelschläge trugen uns hinauf. An der Havel und am Rennsteig war mancher Ausgangspunkt, dort stehen heute Bastionen. Deren Mauern selbst zu schleifen würde Applaus bei jenen finden, die sie von außen nicht einreißen konnten. Diese Bastionen sind unsere gemeinsamen Siege. Jene, die sie in Brandenburg und Thüringen in vorderster Front für uns errungen haben, gebührt Dank – keinesfalls jedoch Häme, oder ein Scherbengericht. Das macht ihr Werk nicht zu Bauplänen, nur zu Leuchttürmen in einem Teil des Nebels, der sich über unser Land gelegt hat. Die Klippen würden bleiben, wenn ihr Licht erlöscht.“

Darunter veröffentlichte sie eine Grafik mit folgender aufgebrachter Textpassage:

„Nur Einigkeit macht uns stark. Angriffe gegen Andreas und Björn Höcke sind Angriffe auf die Seele der AfD.“[323]

Bießmann spricht sich damit ganz klar für eine gemeinsame politische Linie des gemäßigteren AfD-Lagers und der „Flügel“-Anhänger aus und betont, dass die Partei nur durch Einigkeit stark bleibe. Des Weiteren führt sie aus, dass die AfD ihrer Auffassung nach insbesondere durch die Arbeit der „Flügel“-Funktionäre aus Thüringen und Brandenburg elektorale Erfolge verzeichnen könnte. Die Rechtsextremisten Björn Höcke und Andreas Kalbitz werden von ihr als „die Seele der AfD“ bezeichnet. Vorschläge zur Auflösung oder gar Abspaltung des „Flügel“ von der Gesamtpartei lehnt sie nachdrücklich ab.

Der Rückhalt des „Flügel“ in der Gesamtpartei kommt darüber hinaus in Aussagen und Verlautbarungen zu dessen vom Bundesvorstand beschlossenen Auflösung zum Ausdruck. Dabei wird – trotz der formalen Auflösung – auch das Fortbestehen des „Flügel“-Personennetzwerks und seiner extremistischen Ideen in der Gesamtpartei deutlich.

Insbesondere die Äußerungen Björn Höckes gegenüber der neu echten Zeitschrift Sezession vom 21. März 2020 verdeutlichen, dass die Auflösung des „Flügel“ lediglich formalen Charakter hatte, die Inhalte in der Gesamtpartei jedoch weiterhin präsent sind:

„Wir alle wissen, daß der Flügel vor fast genau fünf Jahren mit der ‚Erfurter Resolution‘ sein Gründungsdokument vorlegte, um den Einbau der AfD ins Establishment zu verhindern. Jedes AfD-Mitglied konnte diese Resolution unterschreiben, und das taten Tausende. Ohne den ‚Flügel‘ wäre die AfD keine Alternative mehr, sondern vielleicht gerade noch eine Art eigenständige WerteUnion, also ein Mehrheitsbeschaffer von Merkels Gnaden. Das hat der ‚Flügel‘ verhindert. Seither hat sich die AfD sehr gut entwickelt, und so notwendig unser Impuls vor fünf Jahren war: Nun brauchen wir einen Impuls, der über den Flügel hinausweist und die Einheit der Partei belohnt. […] Das hat zwei Gründe. Erstens: Das Establishment, dieser ungute Filz aus Parteien, Medien und ‚Zivilgesellschaft‘, hat zuletzt nun – erwartbar! – den sogenannten ‚Verfassungsschutz‘ (VS) gegen die AfD in Stellung gebracht. Dieses Manöver ist so durchschaubar wie schäbig, und im Grunde weiß das innerhalb der AfD jeder. […] Nun geht das, worüber wir längst nachdenken, eben schneller. Unsere Arbeit weist über den Flügel hinaus. Andreas Kalbitz, ich selbst und alle anderen politikfähigen ‚Flügler‘ werden ihren politischen Kurs im Sinne der AfD weiterführen. Diejenigen aber, die den ‚Flügel‘ mißverstanden haben und ihn verfilzen wollen, werden nicht mithalten können – genausowenig wie diejenigen in der Partei und im Bundesvorstand, die auf Kosten ihrer Parteifreunde allzu gute Kontakte zum Establishment suchen.“[324]

Höcke zeigt damit auf, dass die Inhalte und ideologischen Elemente des „Flügel“ auch nach dessen Auflösung innerhalb der Partei fortbestehen werden. Vielmehr wirke die Arbeit über den „Flügel“ hinaus und damit in die Gesamtpartei hinein. Auch die Aussage „Andreas Kalbitz, ich selbst und alle anderen politikfähigen ‚Flügler‘ werden ihren politischen Kurs im Sinne der AfD weiterführen“ belegt die Fortsetzung der Aktivitäten des Personennetzwerkes.

In einem Podcast des neurechten Vereins Ein Prozent sprach Björn Höcke am 3. April 2020 mit Arndt Novak, Mitglied in der rechtsextremistischen Aktivitas der Burschenschaft Danubia München, in der Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) sowie im Verein Ein Prozent, zur politischen Situation im Kontext der Corona-Pandemie. Höcke ging dabei auch auf die Auflösung des „Flügel“ ein, den man aus seiner Sicht aufgrund fehlender Formalisierung eigentlich nicht auflösen könne:

„Der Flügel ist ein loses Netzwerk in der Partei. Noch gibt es den Flügel, aber er hatte niemals eine Organisation, das heißt man kann ihn nicht auflösen, weil er niemals formalisiert war. Es gibt noch eine Facebook-Seite, eine Webseite, das war es, das kann man natürlich abstellen. Ansonsten ist der Flügel ein Netzwerk wie es solche in jeder anderen Partei und sicherlich auch in der AfD noch an anderen Orten gibt. Von daher sind mir insofern die Hände gebunden, als dass ich nichts auflösen kann, was nicht geht. Ich kann nur als einer der führenden Köpfe dieses Flügels und Netzwerkes sagen, dass der Flügel jetzt einfach eingestellt wird.“[325]

In Höckes Aussagen wird deutlich, dass die Auflösung des „Flügel“ sich lediglich auf dessen formale Auftritte beziehen kann. Das Netzwerk und auch die ihm zugehörigen „Köpfe“ wird es jedoch weiterhin geben.

Weiterhin äußert sich Höcke am 25. April 2020 in einem Facebook-Eintrag wie folgt:

„Der Flügel ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte und eine Erfolgsgeschichte, die zwar jetzt formal abgeschlossen wird, die aber in gewisser Weise weiter geschrieben wird, weil der Geist des Flügels natürlich in der Partei bleiben wird. […] Wir haben einen Geist formuliert, wir haben ihn in die Partei getragen, und wir haben ihn weit über die Parteigrenzen hinausgetragen. Es ist der Geist eines neuen, herrlichen‚ vitalen und bescheidenen Patriotismus, und den lassen wir uns nicht mehr austreiben. Der Flügel wird jetzt bald Geschichte sein, aber der Geist des Flügels, der wird lebendig sein. In dieser AfD halten wir an diesem Geist fest.“[326]

Björn Höcke zeigt her erneut auf, dass der „Flügel“ auch nach seiner vom Bundesvorstand geforderten Auflösung weiterhin inhaltlich und ideologisch in der Partei präsent sein werde. Demgemäß postuliert Höcke, dass der Fortbestand des „Flügel“ unabhängig von den bisherigen Strukturen gesichert sei und die ‚Erfolgsgeschichte‘ lediglich formal ende.

Auch nach Aussage des „Flügel“-Funktionärs und Bundestagsabgeordneten Jens Maier (SN) in einem Interview mit COMPACTTV am 23. März 2020 ist das Wirken des „Flügel“ in der Partei weiterhin gegeben:

„Also diese Haltungsgemeinschaft ist nicht in der Mehrheit, aber dieses Bedürfnis Haltung zu zeigen, das dürfte jetzt eigentlich auch über die Aktivitäten des Flügel in die Partei eingesickert sein.“[327]

Der AfD-Landesverband Brandenburg stimmte der Auflösung des „Flügel“ zu, betonte dabei jedoch die strategischen Motive:

„Es gibt nur eine AfD! Die Auflösung des ‚Flügels‘ bedeutet die Rückkehr zu inneren Einheit der Partei und ist ein wichtiger Schritt zur Bündelung unserer Kräfte als freiheitlich-soziale Partei.“[328]

Vor dem Hintergrund der formalen Selbstauflösung des „Flügel“ zitierte Patrick Pana, stellvertretender Landesvorsitzender der JA Hessen, am 23. März 2020 auf seinem Twitter-Profil Andreas Lichert (MdL, HE, Beisitzer im AfD-Landesverband Hessen und Sprecher im Kreisverband Wetterau) mit den Worten:

„Die Leute, diese Gedanken und die politischen Schlüsse bleiben in der Partei.“[329]

Weiterhin betonte Patrick Pana in einem Gastkommentar, der am 27. März 2020 auf der Internetseite der Tagesstimme erschien, die Bedeutung des „Flügel“ für die gesamte AfD:

„Entgegen des medialen Trommelfeuers, bei dem ‚Flügel‘ der AfD und ihren maßgeblichen Führungsfiguren Björn Höcke und Andreas Kalbitz, handele es sich um ein undurchsichtiges Konglomerat an Extremisten, deren eigentliche Heimat die NPD sei. […] Dem ‚Flügel‘, einem strukturlosen Zusammenschluss, welcher auch als neurechte Ideenströmung innerhalb der Partei bezeichnet werden könnte, fühlen sich mit regionalen Abweichungen, etwa 20-30 Prozent aller Mitglieder verbunden. Die ‚Erfurter Resolution‘ stellt dabei so etwas wie die Gründungserklärung dar, das im Laufe der Zeit durch das ‚Kyffhäusermanifest‘ und die ‚Flügelschläge‘ vervollständigt wurde. […] Bis haute ist es maßgeblich dem ‚Flügel‘ und seinen Protagonisten zu verdanken, dass den Sirenenklängen staatlich entlohnter Posten und gesellschaftlicher Akzeptanz im linksliberalen Mainstream widerstanden werden konnte und die AfD ihrem Namen nach bis heute eine ‚Alternative‘ zu dem verbrauchten Parteienkartell darstellt. Der ‚Flügel‘ ist Wächter der Gründungsideale und Brandmauer zu einem verkommenen Parteienkartell in einem. Durch Björn Höcke als prominenteste Figur vertreten, zeichnet sich der ‚Flügel‘ durch drei elementare Kernpunkte aus, welcher ihn von der restlichen Partei unterscheidet: 1.) Das notwendige Verständnis, dass eine wirkliche politische Wende nicht (nur) im Parlament, sondern im sozialen und kulturellen Raum und somit erst einmal in den Köpfen der Bürger stattfinden muss. Folglich ist es von fundamentaler Bedeutung, den vorpolitischen Raum zu ‚erobern‘, sprich die Einbindung metapolitischer Elemente in den täglichen Parteienbetrieb. Die freundschaftliche Kooperation, bei gleichzeitiger Autonomie mit außerparlamentarischen Initiativen, seien es aktivistische, publizistische, popkulturelle, theoriebildende oder sonstige Organisationen‚ ist unerlässlich. Dem von linksliberalen Medien und Politiker geforderten Distanzierungsfimmel muss konsequent standgehalten werden. […] 2.) Das Verständnis, dass eine ‚echte Alternative‘ die großen Herausforderungen unseres Jahrhunderts nicht mit denselben transatlantischen, neoliberalen und nichtssagenden Phrasen der Altparteien beantworten wird können. Ein solidarischer Patriotismus, ein gesellschafts/- und wirtschaftlicher Identitätsansatz, der der zersetzenden Politik der Etablieren diametral entgegensteht. […] 3.) […] Die Bewusstseinswerdung des Volkes für die alles entscheidenden Fragen muss forciert werden. […] Der ‚Flügel‘ hat Fehler begangen, ebenso wie die sogenannten ‚Gemäßigten‘, und auch ein Höcke oder Kalbitz sind vor konstruktiver Kritik nicht immun. Heute wäre ein solidarischer Umgang innerhalb der Partei mit dem ‚Flügel‘, angesichts dessen Leistungen für die Partei, notwendiger denn je.“[330]

Patrick Pana stellt damit die aus seiner Sicht wichtige historische Bedeutung des „Flügel“ für die Geschichte der AfD heraus und beschreibt die wesentliche Rolle des „Flügel“ als „Wächter der Gründungsideale“ für die AfD. Indem er aufgrund dieser Bedeutung einen solidarischen Umgang mit dem „Flügel“ einfordert, stellt sich Pana eindeutig auf dessen Seite.

In einer kritischen Äußerung der Alternative Mitte Bremen vom 6. April 2020 kam zum Ausdruck, dass die Auflösung des „Flügel“ lediglich formaler Natur sei und das Personennetzwerk weiter in der Partei wirken werde:

„Die Flügelfedern verschwinden in der Gesamtmitgliederzahl und wirken weiter über ihr bestehendes Netzwerk.“[331]

Darüber hinaus lässt sich die Wirkmächtigkeit des „Flügel“ in der Gesamtpartei auch anhand einer Fülle von Solidaritätsbekundungen gegenüber Andreas Kalbitz nach der Annullierung dessen Parteimitgliedschaft durch den Bundesvorsand belegen.

Oliver Kirchner (MdL, ST, Fraktionsvorsitzender und Beisitzer im AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt und Unterstützer des „Flügel“) teilte am 24. Mai 2020 einen Facebook-Eintrag der AfD Magdeburg. Zu sehen ist ein Foto der AfD-Bundesvorstandsmitglieder Brandner (MdB), Chrupalla (MdB), Weidel (MdB), Gauland (MdB) und Protschka (MdB). Darunter ist zu lesen:

„Sachsen-Anhalt steht hinter den Bewahrern der Einheit.“[332]

Zu den Unterzeichnern des Aufrufs zählen diverse Kreisverbände, einzelne AfD-Funktionäre und die Junge Alternative Sachsen-Anhalt.

Der Eintrag stellt eine koordinierte Unterstützung für den Kurs des „Flügel“ dar und übt direkte Kritik an Bundessprecher Jörg Meuthen, der die Einheit der Partei gefährde. Die Unterzeichner des Aufrufs sprechen in diesem Zusammenhang von einer bewussten Allianz, die sowohl schlecht für die Partei als auch für das „Vaterland“ sei.

Die JA Brandenburg veröffentlichte mehrere Facebook-Einträge, in denen sie sich deutlich gegen die Annullierung der Mitgliedschaft Andreas Kalbitz‘ aussprach und das Vorgehen des Bundesvorstands kritisch als Erfüllung eines „Staatsauftrag[s]“ wertete.[333][334]

Am 18. Mai 2020 veröffentlichte der Bundestagsabgeordnete Martin Reichardt, Landesvorsitzender in Sachsen-Anhalt und Unterstützer des „Flügel“, auf Facebook eine „Protestnote zur Annullierung der AfD-Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz“ des AfD-Landesverbands Sachsen-Anhalt, die von den zugehörigen Kreisverbänden und der Junge Alternative Sachsen-Anhalt unterzeichnet wurde. Darin heiß es:

„Die Entscheidung, Andreas Kalbitz aus unserer Partei auszuschließen, ist für uns nicht nachvollziehbar. Wir stehen weiter zu unserem erfolgreichen Parteifreund Kalbitz und hoffen, dass der Landes- und Fraktionsvorstand von Brandenburg angemessen auf diese parteischädigende Entscheidung reagieren wird. Das Verhalten der Bundesvorstandsmitglieder, die Andreas Kalbitz die Parteimitgliedschaft aberkannt haben, verurteilen wir aufs Schärfste. […] Nun heißt es, einig zu sein und sich auf die Seite derer zu stellen, die unsere Partei zu großen Erfolgen führen!“[335]

Am 24. Mai 2020 veröffentlichte Martin Reichardt[336] zudem auf Facebook einen Beitrag des AfD-Landesverbands Sachsen-Anhalt mit denjenigen in der AfD, die sich gegen die Annullierung der Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz gestellt hatten. Dort ist unter anderem zu lesen:

„Wer in Zeiten der Krise [Anm.: der Corona-Pandemie] die größte Oppositionskraft spaltet und dabei eine unheilige Allianz mit dem von den Altparteien instrumentalisierten Verfassungsschutz eingeht, der versündigt sich nicht nur an der Partei, sondern auch am Vaterland. In Zeiten der Krise braucht unser Land keine zerstrittene und gespaltene, es braucht eine starke und geeinte Alternative für Deutschland. Als stärkste oppositionelle Kraft muss unsere AfD entschlossenen Widerstand gegen das Treiben der Altparteien leisten.“[337]

Am 17. Mai 2020 teilte der AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt überdies einen Tweet der AfD Magdeburg, in welchem unter dem Motto „Kalbitz bleibt“ die Annullierung der Parteimitgliedschaft von Kalbitz aus parteistrategischer Sicht kritisiert wurde:

„Der offen willkürliche – und mittlerweile offenbar sogar beweisfreie – Beschluss des BuVos [Anm.: Abkürzung für Bundesvorstand] zur Annullierung der Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz ist ein Anschlag auf die Erfolgschancen unserer Partei.“[338]

Am 19. Mai 2020 veröffentlichte der AfD-Landesverband Sachsen auf seiner Facebook-Seite eine Grafik mit der Aufschrift „WIR STEHEN HINTER ANDREAS KALBITZ!“. In einem zugehörigen Textbeitrag erklärten der sächsische Landesvorsitzende Jörg Urban sowie der Generalsekretär des Landesverbandes, Jan-Oliver Zwerg, dass Andreas Kalbitz den sächsischen AfD-Landesverband bei der Landtagswahl im Vorjahr „sehr unterstützt“ habe und die guten Wahlergebnisse in Thüringen, Brandenburg und Sachsen auch ein Ergebnis der „intensiven Zusammenarbeit“ gewesen seien. Weiter hieß es:

„Zum einen ist des eine Frage des Anstands und der Fairness. Zum anderen brauchen wir Menschen wie Andreas Kalbitz in der AfD, die sich mit hohem Zeitaufwand für unsere Partei und für Deutschland einsetzen. Wir wollen daher gemeinsam mit ihm für unsere Überzeugungen streiten.“[339]

Hier bringt der AfD-Landesverband Sachsen zum Ausdruck, dass die von dem Reichsextremisten Kalbitz vertretene politische Haltung inhaltlich geteilt werde, da diese „unsere Überzeugung“ sei.

Der AfD-Landesverband Brandenburg teilte am 19. Mai 2020 einen Facebook-Eintrag, in dem die Annullierung der Parteimitgliedschaft Kalbitz‘ deutlich kritisiert wurde:

„Wenn #Einzelakteure mal wieder in unverantwortlicher Weise ihre Interessen über die der Partei zu setzen versuchen, dient uns unser Grundsatzprogramm als festes, unverrückbares Fundament. Uns alle eint das Ziel, unsere #Heimat zu bewahren. […] Der Bundesvorstand hat in seinem 7:5:1 – Beschluss die Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz […] aufgehoben. […] Diese Maßnahme war offenkundig rechtswidrig und willkürlich.“[340]

Neben den genannten Landesverbänden zeigten sich auch einzelne Funktionäre der Landesebene mit Andreas Kalbitz solidarisch.

So veröffentlichte der brandenburgische Landtagsabgeordnete und Vorsitzende im Kreisverband Märkisch-Oderland, Lars Günther, verschiedene Beiträge auf Facebook, in welchen er seine Unterstützung für Kalbitz signalisierte und den AfD-Bundesvorstand für dessen Entscheidung tadelte.[341]

Martin Böhm (MdL, BY, 3. stellv. Vorsitzender im AfD-Landesverband Bayern) veröffentlichte am 15. Mai 2020 auf seiner Facebook-Seite ein Foto, das ihn u. a. zusammen mit Björn Höcke und Andreas Kalbitz auf einer Veranstaltung zeigt. Böhm kommentierte dazu:

„Spalten geht gar nicht. Es gibt 1000 wichtigere Dinge in unserem Land zu tun. Krempeln wir die Arme hoch und bleiben beim Bürger.“[342]

Am 15. Mai 2020 postete Lars Schieske (MdL, BB) – versehen mit dem Hashtag „#Zusammenhalt“ – auf Facebook ein Bild von Andreas Kalbitz, welches mit den Worten „WIR STEHEN ZU ANDREAS KALBITZ“ beschriftet ist.[343] Auch Hans-Thomas Tillschneider (MdL, ST, Vorsitzender im AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt und Vorsitzender im Kreisverband Saalekreis sowie Landesobmann des „Flügel“ für Sachsen-Anhalt) veröffentlichte mehrere Tweets, in denen er seine Unterstützungshaltung für Andreas Kalbitz offenbart.[344][345] Darüber hinaus veröffentlichte er in einem Facebook-Eintrag vom 16. Mai 2020 eine „Protestnote zur Annullierung der AfD-Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz“ des AfD-Kreisverbands Saalekreis (ST), den weitere sachsen-anhaltinische AfD-Kreisverbände unterzeichnet hatten.[346]

Auch Franz Dusatko (stellv. Vorsitzender der JA Brandenburg)[347], Hans-Stefan Edler (Schatzmeister im AfD-Landesverband Brandenburg)[348], Andreas Harlaß (Beisitzer im AfD-Landesverband Sachsen und Pressesprecher der Landtagsfraktion Sachsen)[349], Jeannette Auricht (MdA, BE, stellv. Vorsitzende im AfD-Landesverband Berlin und Vorsitzende im Bezirksverband Marzahn-Hellersdorf)[350], Hugh Bronson (MdA, BE, Sprecher im Bezirksverband Charlottenburg-Wilmersdorf)[351], Ralph Weber (MdL, MV und Landesobmann des „Flügel“ für Mecklenburg-Vorpommern)[352], Stephan Bothe (MdL, NI)[353], Doreen Schwietzer (MdL, SN, stellv. Schatzmeisterin im AfD-Landesverband Sachsen und 1. Bundesrechnungsprüferin)[354][355], Birgit Bessin (MdL, BB, stellv. Vorsitzende im AfD-Landesverband Brandenburg, Mitglied im Kreisverband Teltow-Fläming und Unterstützerin des „Flügel“)[356] und Dennis Hohloch (MdL, BB, parlamentarischer Geschäftsführer der AfD Fraktion Brandenburg, Beisitzer im AfD-Landesverband Brandenburg und Vorsitzender im Kreisverband Potsdam)[357][358] brachten in den sozialen Netzwerken ihre Unterstützung für den Rechtsextremisten Andreas Kalbitz zum Ausdruck.

Thomas Rudy (MdL, TH, Sprecher im Kreisverband Greiz-Altenburg und Unterstützer des „Flügel“) solidarisierte sich in mehreren Facebook-Einträgen und Tweets vom 15. bis 19. Mai 2020 mit Andreas Kalbitz. So teilte er einen Link zu einer Unterschriftenaktion, die den Bundessprecher Jörg Meuthens zum Rücktritt aufforderte, und kommentierte diesen in einer auffordernden Weise. Des Weiteren teilte er einen Link zu einer Online-Petition mit dem Titel „Solidarität mit Andreas Kalbitz“ und forderte zur Weiterteilung und Unterzeichnung auf. Weiterhin forderte Thomas Rudy Jörg Meuthen und „seine Unterstützer im BUVO“ zum sofortigen Rücktritt auf.[359][360][361]

Lena Duggen (MdL, BB) teilte am 19. Mai 2020 einen Facebook-Eintrag der AfD-Landtagsfraktion Brandenburg und zeigte damit ebenfalls ihre Unterstützungshaltung für Andreas Kalbitz. Das geteilte Bild hatte die Aufschrift „Wir stehen hinter Andreas Kalbitz. Kalbitz bleibt Mitglied der AfD-Fraktion“. Auf dem Bild war die gesamte AfD-Landtagsfraktion zu sehen. Duggen stand dabei direkt neben Kalbitz.[362]

Am 21. Mai 2020 veröffentlichte Jessica Bießmann (MdA, BE) auf Facebook einen Eintrag von Björn Höcke, kommentierte diesen mit der zustimmenden Aussage „Auf den Punkt!“ und macht sich den Inhalt zu eigen. Höcke selbst thematisierte in seinem Eintrag insbesondere die Causa Kalbitz, äußerte sich jedoch auch grundsätzlich zur Ausrichtung der AfD:

„Die vorher ‚theoretisch‘ gestellte Option, die AfD in eine Ost- und eine West-Partei zu spalten, wird gerade massiv vorangetrieben. Ein mit stabilen Mehrheiten gewählter, in seinem Landesverband und seiner Fraktion sehr begabter Politiker wurde per Dekret ausgeschlossen, obwohl sich Jörg Meuthen noch kurz vorher zu seinen Gunsten ausgesprochen hatte. Dieser plötzliche Meinungsumschwung legt den Gedanken nahe, Herrn Meuthen ginge es dabei hauptsächlich um persönliche Motive, die Rettung seiner eigenen Position. Nun soll ein Sonderparteitag über die künftige Ausrichtung der AfD entscheiden. Vor dem Hintergrund der schwindenden Beliebtheitswerte Meuthens liegt das vor allem in seinem persönlichen Interesse. Wir brauchen keinen Sonderparteitag um festzustellen, daß der bisherige Bundessprecher nicht mehr in der Lage oder Willens ist, die AfD in ihrer Gesamtheit zu vertreten. Bisher ist in der AfD jeder Vorsitzende, der über die Partei in Gutsherrenmanier verfügen wollte, grandios gescheitert. Die Hybris, sich durch die Wahl in ein Amt gleich dazu ermächtigt zu fühlen, der Partei auch sein persönliches Parteiprogramm aufzwingen zu wollen, führt sofort zum Vertrauensverlust in der Parteibasis. Das eigene Ego darf nicht über der Verantwortung für die Mitglieder und Wähler stehen. Ein großes Ego kostet die Partei viel Geld: Wieviel Meuthen wollen wir uns als Partei weiter leisten? Sonderparteitage, Gerichtskosten, Strafzahlungen für eine rechtswidrige, persönliche Wahlkampfhilfe… Und nun soll die Partei für Meuthen auch den aussichtslosen Rechtsstreit um den Ausschluß eines innerparteilichen Rivalen bezahlen? Wir stehen vor wichtigen Wahlen. Wahlen, in denen Kandidaten wie Andreas Kalbitz Wahlergebnisse über 20% einfahren. Das letzte, was die AfD jetzt braucht, ist eine Spaltung.“[363]

Patrick Pana kritisierte am 21. Mai 2020 einen Tweet des AfD-Bundessprechers Jörg Meuthen, der am Tag zuvor in der ARD-Fernsehsendung Maischberger aufgetreten war. In der Sendung wurde ein Tweet der Junge Alternative Brandenburg eingeblendet, der die Mitglieder des AfD-Bundesvorstands, die für den Ausschluss von Andreas Kalbitz aus der AfD gestimmt hatten, aufzählte. Die Junge Alternative Brandenburg schrieb außerdem:

„Staatsauftrag erfüllt. 15.05.2020. MERKT EUCH DIE NAMEN.“

Darauf angesprochen äußere Meuthen, er agiere nicht im Staatsauftrag und wolle die Partei als Parteivorsitzender sauber aufgestellt sehen.“[364]

Einen Tag nach der Sendung wiederholte Meuthen seine Aussage auf Twitter:

„Bei Maischberger: Ich agiere nicht im ‚Staatsauftrag‘. Als Parteivorsitzender will ich die AfD sauber aufgestellt haben.“[365]

Patrick Pana schrieb daraufhin:

„#Meuthen|s Zukunftsvision einer ’sauberen‘ AfD wäre mit der Parteiräson, eine grundsätzliche Alternative zur ‚Alternativlosigkeit‘ anzubieten, UNVEREINBAR.“[366]

Martin Böhm (MdL, BY) teilte am 25. Mai 2020 auf seiner Facebook-Seite einen Artikel der Zeitschrift ZUERST mit dem Titel „In der AfD brodelt es: ‚Niedersachsen Erklärung‘ bekennt sich zu Andreas Kalbitz“. In seinem dazugehörigen Eintrag zeigt Böhm ein klares Bekenntnis zu Andreas Kalbitz:

„Richtig! Wir dürfen die spalterischen Bestrebungen auf Bundesebene, die auch ihren Auswuchs im beständigen Abwenden des Sozialparteitages finden, nicht länger hinnehmen! Sozialparteitag und Aussprache jetzt – im Sinne eines guten Rentenkonzeptes und einer geschlossenen Außenwahrnehmung.“[367]

Am 16. Mai 2020 teilte Franz Dusatko, zweiter stellvertretender Landesvorsitzender der Junge Alternative Brandenburg, auf Facebook die bereits erläuterte Aufzählung der Personen innerhalb des Bundesvorstands, die für die Annullierung der Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz gestimmt hatten, der Junge Alternative Brandenburg. Durch das Teilen dieses Eintrages bezieht Dusatko eindeutig Stellung im innerparteilichen Machtkampf.[368]

Björn Höcke (MdL, TH) äußerte sich in einem Facebook-Eintrag vom 16. Mai 2020:

„Wir haben es hier mit einem politischen Akt zu tun. Jörg Meuthen und Beatrix von Storch wollen eine andere Partei. Ich möchte diesen Sachverhalt in drei kurzen Anmerkungen einordnen: Erstens: Wer die Argumente von Parteigegnern aufgreift und sie gegen Parteifreunde wendet, der begeht Verrat an der Partei. Zweitens: Wer unsere Partei spaltet, zerstört die einzige Opposition, die unser Land noch hat. Drittens: Wer die AfD zu einem Mehrheitsbeschaffer für die CDU machen möchte, hat nicht begriffen, was ‚Alternative zur Alternativlosigkeit‘ bedeutet. Deutschland braucht keine schwarz-rot-goldene FDP, Deutschland braucht keine zweite WerteUnion. Deutschland braucht eine breit aufgestellte, geschlossene und vor allen Dingen selbstbewusste AfD. Die Spaltung und Zerstörung unserer Partei werde ich nicht zulassen und ich weiß, daß unsere Mitglieder und unsere Wähler das genau so sehen wie ich.“[369]

Andreas Kalbitz selbst nahm noch am Abend des Vorstandsbeschlusses am 15. Mai 2020 in einem gemeinsamen Statement mit Birgit Bessin (MdL, BB), der stellvertretenden Sprecherin des AfD-Landesverbands Brandenburg, Stellung zum Beschluss des Bundesvorstands zu der Annullierung seiner Parteimitgliedschaft:

„Ich bedauere es sehr, dass Teile des Bundesvorstandes das Geschäft des politischen Gegners und des Verfassungsschutzes erledigen. Das letzte Wort ist juristisch noch nicht gesprochen. […] Eines ist jetzt ganz wichtig: Viele sind frustriert und wütend; ich höre das auch in Gesprächen. Ich bitte euch herzlich: Tretet nicht aus! Wir machen natürlich weiter. Die Verantwortung für unser Land ist wichtiger als einzelne Personen. Es zählt die gemeinsame Sache.“[370]

Am 16. Mai 2020 teilte Oliver Kirchner (MdL, ST) auf seiner Facebook-Seite eine Protestnote zur Annullierung der AfD-Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz, die auf dem Account der AfD Magdeburg veröffentlicht wurde. In dem Eintrag hieß es:

„Die Entscheidung, Andreas Kalbitz aus unserer Partei auszuschließen, ist für uns nicht nachvollziehbar. Wir stehen weiter zu unserem erfolgreichen Parteifreund Kalbitz und hoffen, dass der Landes- und Fraktionsvorstand von Brandenburg angemessen auf diese parteischädigende Entscheidung reagieren wird. Das Verhalten der Bundesvorstandsmitglieder, die Andreas Kalbitz die Parteimitgliedschaft aberkannt haben, verurteilen wir aufs Schärfste. Wir werden diesen destruktiven Beschluss nicht widerspruchlos akzeptieren! Wir ermutigen die vernünftigen Kräfte um Alice Weidel und Tino Chrupalla, Andreas Kalbitz weiterhin zu unterstützen und im Bundesvorstand alles zu unternehmen, um den politischen Schaden zu begrenzen. Der Parteivorsitzende Jörg Meuthen scheiterte mit seinem Versuch, unsere AfD in eine Ost- und eine Westpartei zu spalten. Der Ausschluß von Kalbitz erscheint wie der Versuch, dieses Ziel nun mit anderen Mitteln zu erreichen. Diesem Ansinnen erteilen wir eine klare Absage. Nun heißt es, einig zu sein und sich auf die Seite derer zu stellen, die unsere Partei zu großen Erfolgen führten!“[371]

Ergänzt wird dies durch ein Foto von Kalbitz vor einer Deutschlandflagge und dem Spruch „Sachsen-Anhalt vereint: KALBITZ BLEIBT!“.

Unterzeichnet wurde der Aufruf von diversen Kreisverbänden. Der Eintrag ist eine direkte Unterstützung für den „Flügel“-Politiker Andreas Kalbitz und äußert Kritik an dessen Mitgliedschafts-Annullierung. Das Foto suggeriert, dass der gesamte AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt hinter Kalbitz stehe. Im Eintrag werden dessen Wahlerfolge und Verdienste für die Gesamtpartei betont. Sein Ausschluss sei parteischädigend und ein Ausdruck von Jörg Meuthens Versuch, die Partei in eine Ost- und eine Westpartei zu spalten.

Am 14. Mai 2020 veröffentlichte Oliver Kirchner auf seiner Facebook-Seite ein Foto, auf dem er u. a. mit Björn Höcke und Andreas Kalbitz zu sehen ist. Dazu schrieb er:

„Wer ernsthaft in Erwägung zieht, Andreas Kalbitz aus der Partei zu entfernen, entfernt dieser Partei das Rückgrat und den Schneid, den diese Partei so dringend nötig hat. Das hat ein so verdienter Funktionär mit seinen großen Erfolgen überhaupt nicht verdient. Andreas Kalbitz ist ein Teil von uns.[372]

Auf Facebook verdeutlichte Daniel Freiherr von Lützow (MdL, BB, Vorsitzender im AfD-Landesverband Brandenburg und Vorsitzender im Kreisverband Teltow-Fläming sowie Unterstützer des „Flügel“) im April und Mai 2020 wiederholt seine Sympathie für Andreas Kalbitz im Zuge der Annullierung van dessen Mitgliedschaft. So teilte er am 19. Mai 2020 mit dem Hashtag „#Einigkeit“ einen Eintrag des AfD-Landesverbands Brandenburg. Auf der Grafik mit dem Spruch „Wir halten zusammen“ ist von Lützow mit den „Flügel“-Vertreter Kalbitz und Birgit Bessin (MdL, BB) zu sehen.[373]

Im Kontext der Annullierung positionierte sich auch Kerstin Schotte, Schriftführerin im AfD-Landesverband Brandenburg. Sie teilte am 18. Mai 2020 in einem Facebook-Eintrag einen Videobeitrag der AfD Oberspreewald-Lausitz, der die Aufhebung Kalbitz‘ Parteimitgliedschaft kritisierte und am 15. Mai 2020 einen Facebook-Eintrag des AfD-Kreisverbands Saalekreis mit der Aussage „Wir stehen zu Andres Kalbitz“. Mit ihrer Unterstützung für Kalbitz ging zudem Kritik an Jörg Meuthen (MdEP) einher. So postete Schotte am 26. Mai 2020 folgenden Eintrag:

„Geht es eigentlich um Kalbitz oder um Meuthens Versuch, sich die Partei zu seinem, dem Mainstream angepassten, Privatunternehmen zu machen, was schon vor ihm einige vergebens versucht haben und immer mit denselben sinkenden Umfrageergebnissen verbunden?“[374]

Jan Wenzel Schmidt (MdL, ST, Beisitzer im AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt und Vorsitzender der JA Sachsen-Anhalt) teilte am 15. Mai 2020 auf seiner Facebook-Seite den Eintrag des AfD-Kreisverbands Saalekreis (ST), in dem dieser sich für einen Verbleib von Andreas Kalbitz in der AfD aussprach:

„Die AfD Saalekreis sieht zu Andreas Kalbitz! Heute hat der Bundesvorstand der AfD Andreas Kalbitz die Parteimitgliedschaft aberkannt. Für den Beschluß stimmten: Jörg Meuthen, Sylvia Limmer, Joachim Kuhs, Beatrix von Storch, Joachim Paul, Jochen Haug, Alexander Wolf. Gegen den Beschluß stimmten: Alice Weidel, Tino Chrupalla, Stephan Protschka, Stephan Brandner und Andreas Kalbitz selbst. Angeblich hat Andreas Kalbitz die Vormitgliedschaft in einer unbedeutenden Organisation, die auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD sieht und die es lange nicht mehr gibt, bei seinem Eintritt in die Partei 2013 nicht angegeben. Die AfD Saalekreis kritisiert die Entscheidung des Bundesvorstands aufs Schärfste. Für diese Entscheidung gibt es keine legitime Begründung. Diese Entscheidung ist an Destruktivität kaum noch zu überbieten. Andreas Kalbitz führt den Brandenburger Landesverband seit Jahren in vorbildlicher Weise. Er hat 2019 für die AfD eines ihrer besten Ergebnisse bei Landtagswahlen erkämpft und arbeitet als Bundesvorstandsmitglied seit Jahren mit viel Fleiß und Energie für das Wohl unserer Partei. Er ist neben Björn Höcke der Hauptrepräsentant einer starken Strömung der AfD. Wer Andreas Kalbitz mit einem halbseidenen Beschluss aus der Partei wirft, der beraubt die Partei eines Eckpfeilers und riskiert ihren Zusammenbruch. Wer so handelt, hat sich als untauglich erwiesen, die AfD zu führen. Wir versichern Andreas Kalbitz unsere uneingeschränkte Solidarität und hoffen, daß er vor Gericht Erfolg hat und bald wieder Mitglied unserer Partei ist.“[375]

Nach der Annullierung der Mitgliedschaft von Kalbitz brachte Hans Peter Stauch (MdL, BW) am 17. Mai 2020 auf Facebook seine Sympathien für Kalbitz wie folgt zum Ausdruck:

„Der Umbau der AfD nach Herrn Meuthens Willen und Gusto wird nicht so einfach sein. Ich hoffe Herr Kalbitz wird vor dem Schiedsgericht seine Mitgliedschaft erhalten können.“[376]

Am 14. Mai 2020 stellte Jan-Oliver Zwerg ein Bild auf seiner Facebook-Seite ein, das sie „Flügel“-Vertreter Björn Höcke, Jörg Urban und Andreas Kalbitz Arm in Arm zeigt. Hierzu merkte Jan-Oliver Zwerg an:

„Einigkeit und Kontinuität bringen den Erfolg. Und dabei bleibt es! Der Osten legt vor, der Westen zieht nach. Es gibt keine weitere Chance.“[377]

Thorsten Weiß (MdA, BE, Beisitzer im AfD-Landesverband Berlin und Landesobmann des „Flügel“ für Berlin) äußerte sich zur Causa Kalbitz wie folgt:

„Mit Andreas Kalbitz wunde nicht nur ein Landes- und Fraktionsvorsitzender aus Partei und Bundesvorstand ausgeschlossen, sondern auch ein langjähriger Mitstreiter und guter Freund. Doch dieser knappe Beschluss des Bundesvorstandes lässt starke Zweifel an seiner Rechtmäßigkeit, die mich mit großer Sorge erfüllen.“[378]

Der Rückhalt und die Wirkmächtigkeit des „Flügel“ in der Gesamtpartei AfD können zudem anhand der Präsenz von Funktionären der Landesebene auf „Flügel“-Treffen konstatiert werden.

Rolf Weigand (MdL, SN und Beisitzer im Kreisverband Mittelsachsen) veröffentlichte am 24. Januar 2019 auf Facebook ein Foto von dem am Vortag stattgefundenen „Sachsentreffen“ des „Flügel“, das ihn dort gemeinsam mit Kalbitz und Höcke zeigt.[379]

Vertreter der JA Brandenburg waren im Juni 2019 mit einem Stand auf dem „Kyffhäusertreffen 2019“ des „Flügel“ in Leinefelde (TH) vertreten. Dazu schrieb die Jugendorganisation in einem Facebook-Eintrag vom 7. Juli 2019:

„Unser JA Stand auf dem diesjährigen Kyffhäusertreffen in Thüringen! Super Wochenende mit vielen guten Gesprächen und tollen Reden u. a. van Andreas Kalbitz und Björn Höcke. Wir freuen uns über die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Flügel und der Jungen Alternative und bedanken uns bei allen, die gestern Fördermitglied geworden sind!“[380]

Vertreter der JA Brandenburg nahmen zudem im Dezember 2019 an einem Treffen des „Flügel“ in Berlin teil.[381]

Die JA Mecklenburg-Vorpommern berichtete am 7. Juli 2019 ebenfalls über die Teilnahme am „Kyffhäusertreffen 2019“.[382]

Patrick Pana teilte am 4. Juli 2019 einen Tweet der JA Hessen in Bezug auf das „Kyffhäusertreffen 2019“ und drückte zugleich seine Solidarität aus, indem er dazu schrieb:

„Diesen Samstag findet wieder das jährliche #Kyffhäuser – Treffen statt. #AfD #Solidarität.“[383]

Am 6. Juli 2019 teilte Jan Wenzel Schmidt (MdL, ST) auf seiner Facebook-Seite Eindrücke seines Besuches des „Kyffhäusertreffen 2019“ und schrieb dazu:

„Auch beim diesjährigen Kyffhäusertreffen durfte ich die Junge Alternative Sachsen-Anhalt repräsentieren und viele Spenden für unser Jugendorganisation einnehmen. Der Osten steht auf!“[384]

Auch Kathleen Muxel (MdL, BB und Vorsitzende im Kreisverband Oder-Spree)[385], Kerstin Schotte (Schriftführerin im AfD-Landesverband Brandenburg)[386], Jessica Bießmann (MdA, BE)[387], Lena Duggen (MdL, BB)[388] und Lars Günther (MdL, BB)[389] berichteten auf Facebook über ihre Teilnahme am „Kyffhäusertreffen 2019“.

Nikolaus Kramer (MdL, MV, Vorsitzender der AfD Landtagsfraktion sowie Beisitzer im AfD LV Mecklenburg-Vorpommern und im Kreisverband Vorpommern-Greifswald, Unterstützer des „Flügel“) bedankte sich am 7. Juli 2019 in einem Facebook-Eintrag im Nachgang der Veranstaltung zudem dafür, dass er auf der – aus seiner Sicht „sehr gelungenen“ – Veranstaltung Grußworte sprechen und einen Wahlaufruf abgeben durfte.[390] Am 23. November 2019 veröffentlichte Kramer weiterhin Bilder von der als „Königsstuhltreffen“ bezeichneten Veranstaltung des „Flügel“, die am selben Tag in Binz (MV) stattgefunden und an der er ebenfalls teilgenommen hatte.[391] Auch Daniel Freiherr von Lützow (MdL, BB) teilte auf Facebook Bilder des „Flügel“-Treffens in Binz am 23. November 2019, die seine Teilnahme belegen.[392]

Der AfD-Bundestagsabgeordnete und seit September 2020 Landesvorsitzende der AfD Niedersachsen sowie 1. stellvertretende Vorsitzende im Kreisverband Northeim und Unterstützer des „Flügel“, Jens Kestner (MdB), teilte am 10. Dezember 2019 auf seiner Facebook-Seite mehrere Fotos des Hermannstreffens im Dezember 2019.[393] Auf dem Herrmannstreffen referierten u. a. fünf Vertreter des „Flügel“ zum Thema „Deutsche Souveränität und deutsche Interessen“. Zudem dominiert ein Foto von Björn Höcke den Eintrag Kestners. Stephan Bothe (MdL, NI) nahm ebenfalls an der Veranstaltung teil und hielt dort eine Rede.[394]

Der AfD-Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, Martin Reichardt (MdB), nahm im März 2020 am „1. Flügeltreffen Sachsen-Anhalt“ in Schnellroda (ST) teil und veröffentlichte am 8. März 2020 auf Facebook mehrere Fotos des Treffens, auf denen neben ihm selbst auch Björn Höcke, Hans-Thomas Tillschneider, Jürgen Pohl (MdB und stellv. Sprecher im AfD-Landesverband Thüringen) und Andreas Kalbitz zu sehen sind. Das Treffen kommentierte Reichardt mit den Worten:

„Ein gelungener Abend mit tollen Reden und super Stimmung!“[395]

Am 10. März 2020 veröffentlichte PI-NEWS auf seiner Website einen Bericht vom „1. Flügeltreffen Sachsen-Anhalt am 8. März in Schnellroda“. Bei der Veranstaltung waren laut Artikel u. a. Götz Kubitschek, Frank Pasemann[396] und Björn Höcke zu Gast. Moderiert wurde das Treffen von Jan Wenzel Schmidt (MdL, ST). Zuvor hatte Tillschneider die Veranstaltung bewerben.[397][398] Daniel Freiherr von Lützow nahm darüber hinaus ebenfalls an der Veranstaltung teil, was auf Facebook veröffentlichte Bilder belegen.[399]

Darüber hinaus lässt sich der Einfluss des „Flügel“ auf die Gesamtpartei daran erkennen, dass Inhalte des „Flügel“ und seiner Protagonisten in großem Umfang über die Sozialen Medien verbreitet werden.

Marius Franke, ehemaliger Besitzer im Landesvorstand der JA und Mitglied im Landesverband Thüringen, teilte wiederholt Beiträge der Facebook-Seite „Der Flügel“[400] und signalisierte damit seine Unterstützungshaltung für den Personenzusammenschluss.[401]

Auch Franz Dusatko, zweiter stellvertretender Landesvorsitzender der JA Brandenburg, teilte am 4. Februar 2019 auf Facebook einen Eintrag des „Flügel“, welcher darin zur innerparteilichen Geschlossenheit aufrief.[402]

Am 17. Juli 2019 teilte die JA Brandenburg auf ihrem Facebook-Profil den auf dem „Kyffhäusertreffen 2019“ gezeigten Einspieler „über den Menschen Björn Höcke“.[403]

Weiterhin weisen Vertreter der AfD-Landesebene in den Sozialen Netzwerken regelmäßig auf Beiträge und sonstige Verlautbarungen von Björn Höcke und Andreas Kalbitz hin und äußern vielfach ihre Unterstützung.

Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie veröffentlichte die JA Drangen in einem Facebook-Eintrag vom 22. März 2020 eine Collage aus vier Fotos, die – jeweils mit der Aufschrift „Zu Hause bleiben“ versehen – Vorschläge für eine Beschäftigung in der Wohnung bieten sollten. Hier wurde unter anderem ein Bild des Gesprächsbands „Nie zweimal in denselben Fluß. Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig“ präsentiert. Die JA Sachsen teile den Beitrag am Folgetag auf ihrem Facebook-Profil.

Die JA Sachsen-Anhalt teile regelmäßig Fotos sowie Videobeiträge von Björn Höcke. Außerdem waren bekannte „Flügel“-Vertreter wie Hans-Thomas Tillschneider, Jan Wenzel Schmidt und Martin Reichardt in der YouTube-Sendung „Steinzeugen“ der JA Sachsen-Anhalt zu Gast. Weiterhin organisierten Vertreter der JA Sachsen-Anhalt eine Veranstaltung namens „Junge Alternative Sachsen-Anhalt trifft Flügel“.

Die Quantität derartiger Beiträge unterstreicht die inhaltliche Nähe der JA Sachsen-Anhalt zu den führenden Personen des „Flügel“.[405][406][407][408][409][410][411][412][413][414]

Die JA Sachsen warb am 5. Juli 2019 für die neu eingerichtete Facebook-Seite des damaligen „Flügel“-Protagonisten Andreas Kalbitz, dessen Parteimitgliedschaft im Nachgang annulliert wurde, und forderte Unterstützung für diesen:

„Kräftig teilen und liken, vorwärts für Deutschland!“[415]

Patrick Pana kommentierte am 18. Juli 2019 auf seinem Twitter-Account die Umfragewerte des brandenburgischen AfD-Landesverbandes mit dem folgenden Wortlaut:

„Die #AfD Brandenburg kann diese Umfragewerte nur erreichen, weil […] sie die soziale Frage aufgreift […] sich als Bewegungspartei versteht […] zielführende Kooperationen betreibt […] sich nicht kopflos distanziert […] Kalbitz Sprecher ist.“[416]

Corinna Herold (MdL, TH, Vorsitzende im Kreisverband Mittelthüringen und Unterstützerin des „Flügel“) und Alexander Tassis (Fachreferent der AfD-Fraktion im Landtag Brandenburg und Unterstützer des „Flügel“) initiierten die Facebook-Seite Generation Björn. In der Beschreibung der Seite geben beide an, dass sie eine „Vereinigung zur Förderung das Gedankenguts Björn Höckes“ seien. So verkörpere Höcke „das Wesen eines gesunden Patriotismus, dessen Leitsatz lautet ‚Andere Völker achten wir, Deutschland aber lieben wir‘.“[417]

Wie zahlreiche weitere Vertreter der AfD-Landesebene teilte auch René Aust (MdL, TH, Beisitzer im AfD-Landesverband Thüringen und Vorsitzender im Kreisverband Südthüringen) am 21. März 2020 auf Facebook das anlässlich der formalen Auflösung des „Flügel“ durch die neurechte Zeitschrift Sezession mit Björn Höcke geführte Interview. René Aust kommentierte dieses folgendermaßen:

„Björn Höcke und der Flügel haben Fehler gemacht. Diese sind immer wieder – auch leider von den eigenen Leuten öffentlich – rauf und runter diskutiert worden. Was leider nie öffentlich Erwähnung findet, ist – bei allen Fehlern – die Bereitschaft Björn Höckes bis an die Grenze der Selbstverleugnung Größe zu zeigen. Obwohl er länger als jeder andere Sprecher seines Landesverbandes ist, diesen Landesverband zu großen Wahlerfolgen führte, und im positiven wie im negativen einer der bekanntesten Gesichter unserer Partei ist, verzichtet er seit Jahren darauf für den Bundesvorstand zu kandidieren, weil er weiß, vor welcher Zerreißprobe das die Partei stellen würde. Er stellt persönliche Ambitionen zum Wohle der Partei zurück. Nun kündigte er an, dass der Flügel dem Beschluss des Bundesvorstands zeitnahe nachkommen würde. In diesem informellen Netzwerk steckt viel Herzblut der Beteiligten. […] Ich weiß, dass viele jetzt von der Entscheidung den Flügel aufzulösen enttäuscht sein werden. Aber bei aller Enttäuschung sollte man unabhängig davon wie man zum Flügel und wie man zu dessen Auflösung steht, diese Entscheidung respektieren. […] Und ich hoffe, dass jetzt die unseligen Diffamierungen, Beleidigungen und ehrabschneidenden Etikettierungen gegenüber Björn Höcke zumindest in der eigenen Partei ein Ende finden.“[418]

Das Interview der Sezession mit Höcke fand darüber hinaus rege Verbreitung durch weitere Vertreter der AfD-Landesebene. Es wurde unter anderem durch Hans-Thomas Tillschneider (MdL, ST)[419], Doreen Schwietzer (MdL, SN)[420], Nikolaus Kramer (MdL, MV)[421] und René Aust (MdL, TH)[422], Andreas Harlaß (Presssprecher der sächsischen AfD-Landtagsfraktion)[423], Andreas Lohner (Landesvorstandsmitglied der AfD Hamburg)[424], Stefan Schröder (Landesvorstandsmitglied der AfD Thüringen und Referent der dortigen Landtagsfraktion)[425], die Junge Alternative Sachsen[426] und Björn Höcke selbst[427] in den Sozialen Netzwerken geteilt.

Auch Marius Franke (Beisitzer im Landesvorstand der JA Thüringen)[428], Jan Wenzel Schmidt (MdL, ST)[429][430], Ralph Weber (MdL, MV)[431], Dario Seifert (stellvertretender Landesvorsitzender der JA Mecklenburg-Vorpommern)[432] und Joachim Schneider (stellvertretender Landesvorsitzender des AfD-Landesverbands Schleswig-Holstein und stellv. Vorsitzender im Kreisverband Pinneberg sowie Landesobmann des „Flügel“ für Schleswig-Holstein)[433] teilten in den Sozialen Netzwerken Beiträge von Höcke.

Die JA Sachsen[434][435][436], die JA Saarland[437] und die JA Hessen[438][439] verbreiteten ebenfalls Beiträge von Björn Höcke weiter.

Jessica Bießmann (MdA, BE) veröffentlichte am 12. März 2020 auf Facebook eine mit ihrem Namen versehene Grafik, auf welcher sie bewundernde Worte für Björn Höcke fand:

„Deutscher Patriot – treuer Diener unseres Vaterlandes – Das Grundgesetz achtend. Dafür rechtswidrig diskriminiert und verfolgt von Inquisitoren in Politik und Medien.[440]

Die „Flügel“-Obfrau Baden-Württemberg, Christina Baum (MdL, BW), äußerte sich am 11. Februar 2020 auf Facebook anerkennend angesichts der von Björn Höcke gestellten Anzeige gegen die Bundeskanzlerin aufgrund ihrer Äußerungen zur Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten Thüringens:

„Bravo Björn !! Wir sind stolz auf Dich.[441]

Martin Böhm (MdL, BY) teilte am 7. Mai 2019 auf seiner Facebook-Seite ein YouTube-Video einer Rede Björn Höckes, die er auf Einladung der Junge Alternative Bayern am 5. Mai 2019 hielt. Dazu äußerte Böhm:

„Die ‚äußere Haltung gibt Eindruck über die Qualität des Denkens‘ … Auch in dieser Sichtweise ist Björn Höcke ein wirkliches Vorbild, nicht zuletzt für mich persönlich. Danke, lieber Björn, für solche Worte, denen ich leider nicht live beiwohnen konnte.“[442]

Auch Oliver Kirchner (MdL, ST)[443] und Christian Blex (MdL, NW, stellv. Sprecher im Bezirksverband Münster und Sprecher im Kreisverband Warendorf, Landesobmann des „Flügel“ für Nordrhein-Westfalen)[444] kommentierten exemplarisch in überaus positiver Weise Handlungen von Höcke und bekundeten ihre Sympathie für ihn.

Auch Marie-Thérèse Kaiser (Beisitzerin im AfD-Landesverband Niedersachsen und Kreisvorsitzende im AfD-Kreisverband Rotenburg (Wümme, NI)[445] teilte in den Sozialen Netzwerken Beiträge Höckes.

Kritische Medienberichte zu Björn Höcke und Andreas Kalbitz werden durch Vertreter der AfD-Landesebene in abschätziger Weise thematisiert und genutzt, um Partei für die „Flügel“-Protagonisten zu ergreifen. So verfasste der rheinland-pfälzische JA-Landesvorsitzende Alexander Jungbluth am 30. August 2019 auf Twitter folgenden Eintrag zu den Pressemeldungen hinsichtlich des rechtsextremistischen Vorlaufs von Kalbitz:

„Durchschaubares Manöver zu #Kalbitz. Wenige Tage vor Wahl kommen 12 Jahre alte Geschichten mit irgendwelchen Querverbindungen zu angeblichen Nazis. Im Osten kennt man diese Form der Propaganda noch zu gut.“[446]

Am 25. März 2020 teile Roland Ulbrich (MdL, SN) in einem Facebook-Eintrag einen Artikel der Tagesschau mit dem Titel „Richtungsstreit: Sachsens AfD-Spitze hält zu Ex-Flügel-Chefs“ und kommentierte diesen mit den Worten:

„In Sachsen halt nicht nur die Spitze, sondern auch die Basis zu Höcke und Kalbitz!“

Hier zeigt Ulbrich seine Solidarität zu beiden Protagonisten des „Flügel“‚ stellt sich an deren Seite und belegt somit seine Sympathie zur personellen wie auch programmatischen Ausrichtung des „Flügel“.[447]

Wie bereits auf der Bundesebene finden sich ebenfalls Beiträge von aktiven und ehemaligen AfD-Mitgliedern, in welchen die Beeinflussung der Gesamtpartei durch den „Flügel“ thematisiert wird.

Bereits im Februar 2019 warnte der damalige Co-Landesvorsitzende in Nordrhein-Westfalen, Helmut Seifen, in einem mehrseitigen Brief vor dem Einfluss des „Flügel“:

„Es drängt sich geradezu der Eindruck auf, dass vor allem Röckemann und Blex in Gemeinschaft mit dem Bezirkssprecher von Münster, Steffen Christ, mit Hilfe ihrer Flügelaktivitäten Björn Höcke in NRW eine Plattform schaffen wollen. […] Und wer über die Landesgrenzen von NRW hinausschaut, wird feststellen, dass ‚der Flügel‘ als eigenständige Partei in der Partei agiert und damit jeden beliebigen Einfluss auf die verschiedenen Landesverbände ausüben will. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen. Drei Jahre lang pilgerten die Flügelanten zum Kyffhäuser-Denkmal hin, […], und huldigen dort ihrem Idol Höcke. Für Ende November 2018 war ein Flügelkongress in NRW im Raum Paderborn anberaumt, getragen von einem Verein ‚Alternativer Kulturkongress Deutschland‘, der sich afd-nah nennt. Im Umfeld des letzten Bundesparteitags in Riesa soll Björn Höcke in Meißen mit ca. 200 Flügelanten Hof gehalten haben. […] ‚Der Flügel‘ scheint also die Partei AfD lediglich als Vehikel zur Beförderung der eigenen Agenda und des eigenen Personals zu benutzen. Zur Legalisierung von Spenden werden dann Vereine gegründet, die dieses Geschäft erledigen: In NRW der Verein ‚Alternativer Kulturkongress Deutschland‘, bundesweit der Verein ‚Konservativ‘.“[448]

Seifen beschreibt in seinem Scheiben die unterschiedlichen Vernetzungsaktivitäten des „Flügel“ in der Gesamtpartei und speziell im Landesverband Nordrhein-Westfalen, die aus seiner Sicht hauptsächlich dazu dienen, die eigenen politischen und personellen Ziele zu erreichen. Auch wenn Seifen infolge des anhaltenden Machtkampfes im Juni 2019 als Landessprecher zurücktrat, äußerte er sich am 10. Juli 2019 noch zuversichtlich, dass der „Flügel“ sich nicht durchsetzen werde. In dem Interview sprach er allerdings davon, dass die Zusammenarbeit mit seinem Co-Landesvorsitzenden Thomas Röckemann und dem Landtagsabgeordneten Christian Blex problematisch gewesen sei, da „die Loyalität dieser beiden einem Landesfürsten[gehörte), der nicht in Nordrhein-Westfalen beheimatet ist“. Damit verweist Seifen auf den aus seiner Sicht großen Einfluss, über den der „Flügel“ auch im Landesverband Nordrhein-Westfalen verfügte. Dies sei auch das Motiv für die Gründung des „Flügel“ gewesen, „um sich eine eigene Machtplattform zu schaffen, um damit über die Grenzen der Bundesländer hinweg seinen Einfluss gellend zu machen.“ Das sehe man laut Seifen ja auch in Bayern und Baden-Württemberg. Insgesamt sehe er den „Flügel“ als gefährlich an.[449]

Zum Einfluss des „Flügel“ äußerte sich – zumindest indirekt – auch der schleswig-holsteinische Landtagsabgeordnete Frank Brodehl. Er stellte in seiner Austrittserklärung vom 25. September 2020 eine „Radikalisierung der Partei“ fest:

„Das Verhalten des Landesvorstands und dessen fortgesetzte Akzeptanz durch die meisten Kreisvorstandsvorsitzenden spiegelt die Ausrichtung wider, die den Landesverband mittlerweile bestimmt: Der völkisch-nationalistische Grundton ist deutlich lauter als die Stimmen derjenigen in der Partei, die für eine seriöse und wertkonservative AfD-Politik eintreten. Insofern ist das Festhalten des Landesvorstandes an Doris von Sayn-Wittgenstein stimmig und es passt ins Bild, dass die jüngsten Personalentscheidungen des Bundesvorstands, namentlich der Parteiausschluss von Andreas Kalbitz, beim letzten Kreissprechertreffen mehrheitlich scharf kritisiert und für den ehemaligen Flügel-Protagonisten offen Partei ergriffen wurde.“[450]

Kritisch sieht Brodehl damit besonders den „völkisch-nationalistischen Grundton“ und die Unterstützung für Andreas Kalbitz durch die Kreissprecher, die auf einen starken Einkuss des „Flügel“ im Landesverband Schleswig-Holstein hindeuten.

Nachdem die bisherige AfD-Landesvorsitzende Niedersachsen und Landtagsabgeordnete Dana Guth am 12. September 2020 bei der Neuwahl des Landesvorstands gegen den „Flügel“-Anhänger Jens Kestner verlor, erklärte sie am 22. September erst ihren Austritt aus der AfD-Landtagsfraktion und schließlich am 3. Dezember 2020 ihren Parteiaustritt. Gegenüber dem NDR erklärte Guth diese Schritte damit, dass die Partei tief gespalten sei und der offiziell aufgelöste „Flügel“ zunehmend das Sagen übernehme. Weiter führte sie aus:

„Das, was Hardcore-Flügel-Vertreter in diesem Land möchten, das ist etwas, womit ich mich nicht identifizieren kann. Wenn Systemveränderndes diskutiert und salonfähig wird, dann ist für mich die rote Linie überschritten.“[451]

Mit Guth zusammen verließ auch der Niedersächsische Landtagsabgeordnete Jens Ahrends im September 2020 die Fraktion und im Oktober 2020 schließlich die Partei. Als Begründung führte er ebenfalls die dominierende Rolle des „Flügel“ an. So schrieb er laut Presseberichten in seiner Austrittserklärung:

„Die Alternative für Deutschland hat die Chance verpasst, sich von dem jetzt aufgelösten ‚gesichert rechtsextremen‘ Flügel zu trennen, stattdessen gewinnen dessen ehemalige Anhänger in den Ländern, bis hin zur Bundesspitze immer mehr Einfluss und Macht.“[452]

Zuletzt erklärte die baden-württembergische Landtagsabgeordnete Doris Senger im Oktober 2020, die erst im Juli 2019 in den Landtag nachgerückt war, ihren Austritt aus der AfD-Landtagsfraktion. Laut ihrer Erklärung sei ihr „eine Zusammenarbeit mit solch destruktiven Kräften aus dem ehemaligen Flügel schlicht nicht mehr möglich“. Ihre Erklärung verdeutlicht, dass zumindest die Labourfraktion in Baden-Württemberg aus ihrer Sicht von „Flügel“-Anhängern dominiert wird.

Am 22. Januar 2021 erklärte Senger schließlich ebenfalls ihren Austritt aus der Partei. Zur Begründung führte sie u. a. die „Ignoranz“ von Alice Weidel gegenüber den gemäßigten Kräften an:

„Ich hatte große Hoffnungen in die ursprüngliche Oppositionsarbeit gesetzt. Meine Hoffnung, dass sich der Landesverband BW wieder in die richtige Richtung bewegt, hat sich nicht erfüllt. Die Ignoranz der Landesvorsitzenden [Anm.: Alice Weidel] gegenüber den gemäßigten Mitgliedern, veranlasst mich letztendlich zum Austritt. Sie ist meiner Meinung nach nicht willens, extremen Elementen Einhalt zu gebieten.“[453]

Bereits im November 2018, kurz vor dem Bundesparteitag in Braunschweig (NI), hatten die beiden baden-württembergischen Landtagsabgeordneten Stefan Herre und Harald Pfeiffer die Fraktion und die Partei verlassen. In einer Presseerklärung begründeten sie diesen Schritt mit unterschiedlichen Auffassungen über die politische Ausrichtung:

„Die AfD-Landtagsabgeordneten Stefan Herre und Harald Pfeiffer verlassen mit sofortiger Wirkung die Fraktion und die Partei. Unterschiedliche Auffassungen über politische Ausrichtung in der Fraktion und der Partei lassen uns keine Perspektive mehr für eine konstruktive politische Arbeit. Wir verlassen die Alternative für Deutschland, weil wir mit ihr unsere liberal-konservativen Werte nicht mehr verfolgen können.“[454]

Doris Senger nannte zudem den Umgang mit einem Fraktionskollegen als auch ihr selbst als weiteren Grund für ihre Entscheidung:

„Ich sehe keine Basis zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mehr. Die Intrigen machen jegliche sachliche parlamentarische Arbeit unmöglich.“

Vor ihr halte auch Frank Brodehl den Umgang mit parteiinternen Kritikern angeprangert. So sprach er von einer „öffentliche[n] Verächtlichmachung gewählter Bundes- und Landespolitiker durch ein Landesvorstandsmitglied als ‚Renegaten, Verräter und Agenten‘, die ausgeschwitzt werden müssten“. Brodehl spielt damit vermutlich auf eine Äußerung von Jan Petersen-Brendel an, dem Sprecher des Kreisverbandes Flensburg-Schleswig. Dieser habe laut Brodehl in einem Kommentar die entsprechende Äußerung getätigt.[455]

Vor Petersen-Brendel hatte bereits Björn Höcke im März 2020 auf dem „1. Flügeltreffen Sachsen-Anhalt“ in Schnellroda gefordert, dass innerparteiliche Gegner „ausgeschwitzt“ werden sollten. Ebenfalls von Höcke wurde für diese Gruppe der Begriff der „Feindzeugen“ geprägt, der bei seiner Anhängerschaft stilbildend wirkte. So sprach z. B. Dubravko Mandic[456] (3. Beisitzer im Kreisverband Freiburg und Unterstützer des „Flügel“) in einem Video zum Bundesparteitag davon, dass „Meuthen wieder alle Register gezogen[hat], um sich den Medien und der Regierung im Grunde genommen anzupreisen als Kollaborateur. Ja, er hat auch gleichzeitig als Feindzeuge wieder fungiert, dem Verfassungsschutz auch wieder Argumente geliefert, warum wir beobachtet oder verboten werden sollten.“[457]

3. Kreisebene

Belege für den strukturellen Einfluss des „Flügel“ auf die AfD finden sich auch auf der Kreisebene. Wie bereits auf der Landesebene wird die Haltung zum „Flügel“ u. a. durch Aussagen zu der von Jörg Meuthen angeregten Debatte um eine Abspaltung des „Flügel‘ deutlich.

Peter Rebstock, Sprecher des AfD-Kreisverbands Zollernalb (BW), veröffentlichte am 1. April 2020 auf Facebook ein Bild mit der folgenden Aufschrift:

„Die Spaltung der AfD wäre eins nationale Katastrophe. Meuthen ist endgültig untragbar.“[458]

Axel Zamzow, Vorsitzender des AfD-Kreisverbands Bad Tölz (BY), teilte am 14. Juni 2020 einen Facebook-Eintrag, in dem ein Foto von Jörg Meuthen mit dem Hinweis „Nicht mein Vorsitzender“ zu sehen ist. Dazu hieß es:

„Aufgabe: Jeden Tag einmal daran erinnern, dass Jörg Meuthen einer der größten Heuchler unter der Sonne ist … Meuthen, ein wahrer Dystop… – Kreisverband verloren – Landesverband verloren – Landtagsfraktion zerlegt – […] Spaltungsdebatte der Partei kurz vor dem Superwahljahr – Bundesvorstand zerlegt – selbstherrliche Säuberungsmaßnahmen mit ungewissem juristischen Ausgang! Bravo Jörg. Du bist ein ganz Großer!“[459]

Der AfD-Kreisverband Main-Taunus (HE) positionierte sich durch das Teilen eines Facebook-Eintrags des Bundessprechers Tino Chrupalla (MdB). Dieser führte darin aus, dass er von Jörg Meuthen „menschlich enttäuscht“ sei. Man habe zwar einen „Vorstands-Beschluss zur Auflösung des Flügels eingeleitet“, doch dabei „stand die Einheit der Partei nie zur Debatte, und sie wird euch niemals zur Debatte stehen.“ Während Chrupalla hier die formelle Auflösung des „Flügel“ zwar begrüßte, distanzierte er sich von einer personell-ideologischen Abtrennung von der AfD. Der Kreisverband Main-Taunus schloss sich der Ansicht Chrupallas an:

„Es gibt nur eine AfD! Danke Tino Chrupalla!“[460]

Am 24. Mai 2020 veröffentlichte der AfD-Kreisverband Magdeburg (ST) auf seiner Facebook-Seite eine Stellungnahme zum Richtungsstreit. Als Unterstützer der Erklärung wurden Andreas Best, Vorsitzender des AfD-Kreisverbandes Wittenberg (ST), und die sachsen-anhaltinischen Kreisverbände Dessau-Roßlau, Stendal, Salzlandkreis, Mansfeld-Südharz und Jerichower Land aufgeführt. Die Erklärung kritisiert den Richtungsstreit und wirft Bundessprecher Jörg Meuthen spalterische Tendenzen vor.

„Mit großer Sorge betrachten wir, dass Jörg Meuthen auf den Pfaden von Bernd Lucke und Frauke Petry wandelt und mit seinem Handeln die Einheit der Partei gefährdet. Bedauerlicherweise wird er dabei von Teilen des Bundesvorstandes unterstützt. Wer in Zeiten der Krise die größte Oppositionskraft spaltet und dabei eine unheilige Allianz mit dem von den Altparteien instrumentalisierten Verfassungsschutz eingeht, der versündigt sich nicht nur an der Partei, sondern auch am Vaterland. In Zeiten der Krise braucht unser Land keine zerstrittene und gespaltene, es braucht eine starke und geeinte Alternative für Deutschland. Als stärkste oppositionelle Kraft muss unsere AfD entschlossenen Widerstand gegen das Treiben der Altparteien leisten.“[461][462]

In seinem Newsletter von Mai 2020 veröffentlichte auch der AfD-Kreisverband Nienburg-Schaumburg (NI) eine Stellungnahme zu den Überlegungen des Bundessprechers. Darin schrieb er:

„Der Vorstand ist sich einig, dass Meuthen mit seinem Vorstoß, über eine Spaltung der Partei nachzudenken, einen schweren, parteischädigenden Fehler gemacht hat. Die Einheit der Partei ist ein wichtiger Bestandteil des Erfolges der AfD als Volkspartei und darf nicht gefährdet werden.“[463]

Auch die durch den AfD-Bundesvorstand forcierte Auflösung des „Flügel“ wurde durch Akteure der Kreisebene rege thematisiert.

Am 20. März 2020 teilte Axel Zamzow, ehemaliger Vorsitzender des Kreisvorbands Bad Tölz (BY), auf seiner Facebook-Seite einen Eintrag von dem Mitglied des AfD-Kreisverbands Rhein-Erft (NW) Theo Gottschalk, der sich positiv über den „Flügel“ äußerte und seine Unterstützung signalisierte:

„Ich empfand den Flügel immer als eine Weltanschauung, ein Lebensgefühl und einen wichtigen Identifikationswert für unsere politische Arbeit. Der Flügel hat kein Rechtssubjekt, nur sehr flache Strukturen und ist kein Verein, sondern eine Verbindung Gleichgesinnter. Er ist Teil der DNA unserer AfD, so wie wir sie als Flügler sehen. An der Vehemenz mit der dieses unser politische Lebensgefühl bekämpft wird, kann man ablesen, für wie gefährlich es von unseren politischen Gegnern gehalten wird. Wie will man das auflösen? Sollte man das auflösen? Fällt der Flügel weg, fällt die AfD den Liberalen und Libertären im Westen in die Hände. Der Beschluss des Bundesvorstands wird der AfD ein Körperteil abschlagen. […] Der Gedanke des Flügels war immer ein belebender und treibender Aspekt unserer Parteiarbeit. Auch wann er unangepasst, manchmal ungeschickt, daherkam. Aber die politischen Erfolge im Osten geben uns recht. Ich bin über diese Entscheidung des Bundesvorstands maßlos enttäuscht! […] Auch wann ich in den letzten Tagen eigentlich genug Prügel einstecken musste, werde ich mich mit aller Kraft gegen die Auflösung des Flügels stemmen.“[464]

Axel Zamzow teilte am 21. März 2020 zudem in einer Facebook-Story eine Grafik mit folgender Aufschrift:

„Aufruf an alle Unterstützer des ‚AfD-Flügels‘: tretet nach dieser schändlichen Witzentscheidung des Bundesvorstands nicht aus der Partei aus! Kämpft jetzt erst recht weiter erfolgreich für Deutschland und gegen die ‚Beutegemeinschaft‘ aus weichgespülten Systemlingen, VS-Ubooten und rein Versorgungsorientierten!“[465]

Zamzow äußerte am 21. März 2020 auf Facebook ferner, dass der „Flügel“ auch nach seiner offiziellen Selbstauflösung weiter aktiv bleibe:

„Werte Freunde, ES GEHT WEITER !!! Nur der Name ändert sich. Die Strukturen bleiben, die Ansichten bleiben, die persönlichen Freundschaften bleiben, die gemeinsamen Ziele bleiben. Deswegen unsere Bitte: ‚NICHT AUS DER PARTEI AUSTRETEN !!!‘ Wir kämpfen weiter für unser Vaterland!“[466]

In demselben Sinne stellte der AfD-Kreisverband Teltow-Fläming (BB) am 22. März 2020 auf Facebook einen Eintrag seines Vorsitzenden Daniel Freiherr von Lützow (MdL, BB), der sich darin folgendermaßen äußerte:

„Aus aktuellem Anlaß, möchte ich nur kundtun, dass ich #nicht aus der #AfD #austreten werde und genauso wie die meisten sogenannten ‚Flügler‘, weiterhin den #Kampf um unsere #Heimat führen werde.“[467]

Der AfD-Kreisverband Märkisch-Oderland (BB) äußerte sich am 21. März 2020 auf Facebook ebenfalls entsprechend:

„Gut, Denken und handeln wir ohne Logo. Flügel ist die brennende Überzeugung deutscher Patrioten. Zu finden in Herz und Verstand standhafter Menschen, deren erstes Ziel ihr Land ist.“[468]

Damit bekundete der Kreisverband die Absicht zur Fortführung der „Flügel“-Aktivitäten ohne formellen Rahmen.

Am 21. März 2020 postete Holger Winterstein[469], 2. Sprecher im Kreisverband Süd-Ost-Thüringen, einen Eintrag zum „Umgang mit dem Flügel“. Darin bekannte er sich zu den Zielen der Sammlungsbewegung:

„Ich habe die Erfurter Resolution unterzeichnet und ich habe das im März 2015 in Arnstadt, gerne getan. Sich zur Gründungsidee der AfD weiter zu bekennen, ist mir eine Ehre und gibt mir selbst den Rückhalt, den ich für mein Bewusstsein als AfD Mitglied benötige. Was man einzelnen Personen, die sich ebenfalls ritterlich dazu bekennen anlastet, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. […] Egal was beschlossen wird, bekenne ich mich zur Erfurter Resolution, als Kern meiner Überzeugung und fühle mich damit der wahrhaftigen AfD verbunden. […] Die Nachfolger der Gestapo und Stasi, schützen übrigens immer noch keine Verfassung, sondern die Macht. Wenn wir vor diesem ‚Verfassungsschutz‘ kuschen, hätten wir 89 nicht auf die Straße gebraucht.“[470]

In zahlreichen Äußerungen der AfD auf Kreisebene wird die rechtsextremistische Bestrebung des „Flügel“ zudem bestritten und dieser als elementarer Bestandteil der AfD in Schutz genommen.

Daniel Schütte, Kreisverbandsvorsitzender des AfD-Kreisverbands Saarpfalz (SL), äußerte sich in einem Facebook-Eintrag vom 14. Juli 2019 wie folgt zur Person Höcke:

„Und war sich innerhalb dieser Freiheitlich, rechtlichen Grundordnung politisch oder mit seiner freien Meinungsäusserung bewegt, kann niemals ein Menschenfeind sein, und der kann niemals die Abschaffung oder den Umbau Deutschlands wollen. Und dürfte somit auch niemals ein Nazi, Rechtsradikal oder Rechtsextrem beschimpft oder bezeichnet werden. Er ist ein wahrer Patriot, ja ein wahrer sozial Patriot, der sein Land liebt, sich für deren Menschen einsetzt, und eine lebenswürdige Zukunft schaffen möchte, andere Länder und Kulturen respektiert, bereist und mit Herzklopfen wieder in seine Heimat zurückkehrt.“[471]

Der AfD-Kreisverband Wilhelmshaven-Stadt (NI) teilte am 23. März 2020 in einem Facebook-Eintrag einen Artikel der Tageszeitung DIE WELT mit dem Titel „Gericht: Höcke gerichtlich nicht zum Faschisten erklärt“. Der Kreisverband schrieb dazu:

„Was anderes war ja wohl auch nicht zu erwarten. Wir stehen zu unserem Parteifreund Björn Höcke.“[472]

Dubravko Mandic[473], „Flügel“-Anhänger und Beisitzer im Kreisverband Freiburg (BW), zeigte sich angesichts der Einstufung des „Flügel“ als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz gleichgültig und erklärte am 12. März 2020 in einem Facebook-Eintrag:

„Für uns wahre Patrioten ändert sich heute gar nichts. Wir wurden ausgespäht, wir machen keine Fehler, bei uns gibt es nichts zu skandalisieren, sonst hätte man es längst gegen Höcke und andere verwendet. Wir müssen davon ausgehen, dass der VS einem festgelegten Eskalationsszenario folgt, dem man nicht durch Wohlverhalten, sondern nur durch Masse begegnen kann. Als nächstes wird es heißen, die AfD sei mit dem Flügel untrennbar verflochten (was ja nur normal wäre) und müsse daher als Ganzes beobachtet werden. Deshalb Ja zu Disziplin, aber Nein zur Unterwerfung unter Haldenwangs faktische Vorgaben. Solidarität mit dem Flügel!“[474]

Pierre Jung, Sprecher des AfD-Kreisverbands Hamm (NW), verteidigte in einem Facebook-Eintrag vom 20. März 2020 den „Flügel“ gegen die Kritik der Gewerkschaft der Polizei (GdP) und des Bund der Kriminalbeamten (BDK):

„Und dies ist genau das Gegenteil von Faschismus. Die Entstehung des Flügels ist demgemäß direkt mit der Bewahrung eines der demokratischen Kernelemente verbunden. Der Flügel kann somit gar als antifaschistisch bezeichnet werden, selbstverständlich nicht im Sinne einer linksextremen verfassungswidrigen Ideologie. […] Sie meinen, dass wir mit den Werten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht im Einklang stünden. Zusätzlich wollen GdP, BDK und Reul prüfen, wie Polizeimitarbeiter, die dem Flügel angehören, aus dem Dienst entfernt werden können. Berufsverbote gab es schon einmal in einer Zeit, in der tatsächlich der Faschismus herrschte. […] Der Flügel versteht sich als Verfechter eines basisdemokratisch erstellten, eines durchweg demokratischen sowie das Grundgesetz bewahrenden Grundsatzprogramms, das wohl auf dem größten Basisdemokratischen Parteitag aller Zeiten in Stuttgart verabschiedet wurde. Personen, die diese Werte vertreten, mit Schmutz und herbeifantasierten Erfindungen zu überziehen, ist womöglich auch strafrechtlich bedeutsam.“[475]

In einem Beitrag auf Facebook vom 10. Juli 2019 teilte der AfD-Kreisverband Solingen (NW) einen Artikel über parteiinterne Kritik am „Flügel“ und erklärte diesbezüglich, der „Flügel“ bilde das „Rückgrat“ der Partei:

„Mal wieder ein völlig blödsinniger Artikel. Es hat sich nichts formiert, was es nicht auch schon vorher gab. Die innerparteiliche Strömung ‚Flügel‘ ist das Rückgrat der Partei und stellt die mit Abstand meisten Aktiven. Wir Solinger sind #Basisdemokraten und stehen somit auch zu Björn Höcke, der große Mehrheiten hinter sich hat, gute Arbeit leistet und gute #Wahlergebnisse liefert. Eine größere Spaltung ist nicht zu erwarten. Lucke ging, Petry ging und auch ein #Pazderski kann gehen. Personen sind austauschbar. Rückgraf nicht.“[476]

Anlässlich des AfD-Parteiaustritts van Verena Hartmann begrüßte der AfD-Kreisvorstand Märkisch-Oderland (BB) diesen am 28. Januar 2020 in einem Facebook-Eintrag und äußerte sich in diesem Zusammenhang auch positiv über die Bestrebung:

„Machtzuwachs für den FLÜGEL ist erstmal sympathisch. Mit Anstand und Respekt vor den Mitgliedern der Partei und ihren Wählern soll sie den Platz im Bundestag freimachen für einen standhaften Patrioten. Ist das zuviel Ehrlichkeit verlangt?“[477]

Am 20. März 2020 schrieb der AfD-Kreisverband Oberspreewald-Lausitz (BB) auf Facebook angesichts der Debatte um die Auflösung des „Flügel“: „Als hätten wir das nicht 2017 schon durch. […] Offenbar war/ist eine Neuauflage nötig geworden“ ein Bild mit der Aufschrift: „Fliegen ohne Flügel? Guten Flug liebe ‚Parteifreunde’…“.[478]

Die beigefügte Fotomontage suggeriert, dass die AfD nur mit „Flügel“ „(f)liegen“, also erfolgreich sein könne. Der rechtsextremistische „Flügel“ wird folglich als unverzichtbarer Bestandteil der Partei betrachtet.

Am 25. März 2020 teilte der AfD-Bezirksverband Harnburg-Nord auf seiner Facebook-Seite eine Stellungnahme des Hamburger Bürgerschaftsabgeordneten Thomas Reich, welcher ein Interview mit Alexander Gauland (MdB) kommentierte und sich dabei wie folgt gegenüber dem „Flügel“ positionierte:

„Ich selbst bin und war auch kein Anhänger vom Flügel, stimme aber seiner Aussage zu, dass Flügler unser Mitglieder und keine Gegner sind. Darum: Einer für alle, alle für einen!“[479]

Der AfD-Kreisverband Märkisch-Oderland (BB) äußerte im Zusammenhang mit der bevorstehenden Auflösung des „Flügel‘ am 24. März 2020 zudem:

„Die Flügel-Leute sind wichtig. Sie sind essentiell. Als Schrittmacher in der Partei sorgen sie für die stetige patriotische und konservative Ausrichtung.“[480]

Ein weiteres wesentliches Strukturelement, des den Einfluss des „Flügel“ auf die Gesamtpartei belegt, stellen die Solidaritätsbekundungen mit Andreas Kalbitz dar, welche im Zusammenhang mit der Debatte um dessen rechtsextremistischen Vorlauf und die Annullierung seiner Parteimitgliedschaft veröffentlicht wurden.

So solidarisierte sich der AfD-Kreisverband Hamm (NW) auf seiner Facebook-Seite am 16. März 2020 mit dem „Flügel“-Funktionär Andreas Kalbitz und teilte dessen Stellungnahme zu Vorwürfen bezüglich seines rechtsextremistischen Vorlaufs. Der Kreisverband zitierte folgenden Abschnitt:

„Die Gegner der AfD, die in bisher nie dagewesener Weise in einem nahezu geschlossenen politisch-medialen Komplex die AfD mit zunehmend unlauteren Mitteln bekämpfen, wollen keine ‚andere‘ AfD, sondern gar keine. Deshalb ist und bleibt das Gebot der Stunde der Mut zur Wahrheit, entschlossene Ausschöpfung aller juristischen und rechtsstaatlichen Mittel, sowohl in persönlicher als auch in genereller Hinsicht, vor allem aber Einigkeit und Geschlossenheit und unermüdliche Sacharbeit für unser Land. Es gilt das Wort Dr. Alexander Gaulands: ‚Seid einig, einig, einig!‘ Das war und ist die Grundlage unserer Erfolge für die dringend nötige Veränderung in unserem Land.“[481]

Am 19. März 2020 veröffentlichte der AfD-Kreisverband Märkisch-Oderland (BB) auf Facebook anlässlich der Kritik an Andreas Kalbitz folgenden Text:

„In schwierigen Zeiten erweist sich, auf wen man sich verlassen kann, wer zur Sache sieht. Es soll Laute geben, die gerade jetzt ihr wahres Gesicht zeigen, offenbaren, daß ihnen unser Ziel unwichtig ist. […] Kalbitz, verlaß Dich auf uns. Und der Rest soll sich auf harschen Gegenwind einstellen!“[482]

Am selben Tag teilten der AfD-Kreisverband Havelland (BB) und der AfD-Kreisverband Vorpommern-Rügen (MV) auf Facebook einen Eintrag der Junge Alternative Vorpommern-Rügen (MV), in welchem diese Folgendes schrieb:

„Kurz und knapp: Wir stehen zu Andreas Kalbitz!“[483][484]

Nachdem die Annullierung der Mitgliedschaft Andreas Kalbitz am 15. Mai 2020 durch den Bundesvorstand beschlossen wurde, äußerten sich Einzelpersonen auf der Kreisebene wie folgt. Holger Winterstein (TH) solidarisierte sich mit Andreas Kalbitz und bagatellisierte dessen Mitgliedschaft in der Heimattreue Deutsche Jugend (HDJ) als angebliche „Jugendsünden“:

„Kalbitz hat doch gut gearbeitet. Ein paar Jugendsünden hat doch jeder.“[485]

Peter Rebstock, Sprecher des AfD-Kreisverbands Zollernalb (BW), solidarisierte sich ebenfalls mit Kalbitz und veröffentlichte am 15. Mai 2020 auf Facebook ein Bild mit folgender Aufschrift:

„Heute ist ein rabenschwarzer Tag für die AfD, Einer der besten wurde ausgeschlossen.“[486]

Der ehemalige AfD-Bezirksverordnete Bernd Pachal[487] teilte am 15. Mai 2020 auf seiner Facebook-Seite einen Artikel des neurechten Jugendmagazins Arcadi mit dem Titel „Haltet Andreas Kalbitz! Kommentar zum möglichen Rauswurf“. In dem Artikel äußerte sich der Autor Reimond Hoffmann in lobender Weise über den „Parteisoldaten“ Andreas Kalbitz und forderte:

„Solidarität und haltet Kalbitz!“[488]

Am 17. Mai 2020 übernahm Edgar Naujok, Kreisvorsitzender Landkreis Leipzig (SN) und Kandidat für die Bundestagswahl 2021, einen Facebook-Eintrag des AfD-Kreisverbands Landkreis Leipzig vom selben Tage‚ der eine Grafik mit der Aufschrift „WIR STEHEN ZU ANDREAS KALBITZ‘ beinhalte. Der zugehörige Textbeitrag lautete:

„Wir stehen natürlich hinter Andreas Kalbitz und er bekommt von uns genauso unsere Unterstützung, wie er uns auch unterstützt hat. Wenn die Leute meinen mit einem Rauswurf und Zerschlagung des Flügels Wählerstimmen zu generieren, irrt man sich gewaltig. […] Andreas wir stehen hinter dir und hoffen, dass dieser Beschluss wieder zurück genommen wird.“[489]

Dubravko Mandic[490][491] postete am 16. Mai 2020 auf Twitter eine Liste derjenigen Personen im AfD-Bundesvorstand, welche für die Annullierung der Parteimitgliedschaft gestimmt hatten, und kommentierte sie folgendermaßen:

„Sie nutzen niemanden und schaden der Partei.“[492]

Carsten Härle (Vorsitzender der AfD-Fraktion Heusenstamm und Unterstützer des „Flügel“) teilte am 21. Mai 2020 auf Facebook einen Eintag, der auf die Annullierung der Parteimitgliedschaft Andreas Kalbitz‘ Bezug nahm:

„Dass die Parteioberen die Mitgliedsbeiträge rücksichtslos im Kampf gegen eigene Leute verschwenden, ist ja schon seit Jahren bekannt. Meuthen verkündete mal eine innerparteiliche ‚Stasi‘ um, vermeintlich Rechte verfolgen zu lassen, jetzt schmiss er seinen ‚Freund‘ Kalbitz persönlich raus.“[493]

Stephan Besch, Mitglied im AfD-Kreisverband Vorpommern-Greifswald (MV), teilte am 16. Mai 2920 eine Veröffentlichung des AfD-Kreisverbandes Saalekreis (ST): „Wir stehen zu Andreas Kalbitz“. Darin hieß es:

„Diese Entscheidung ist an Destruktivität kaum noch zu überbieten. […] Wer Andreas Kalbitz mit einem halbseidenen Beschluß aus der Partei wirft, der beraubt die Partei eines Eckpfeilers und riskiert ihren Zusammenbruch.“[494]

Zuvor hatte Besch ein YouTube-Video verbreitet mit folgendem Inhalt:

„‚Der Flügel‘ ist eine Haltung, die sich durch die Liebe zur Heimat speist! Diese Haltung ist unauflösbar!“[495]

Darüber hinaus veröffentlichten zahlreiche weitere Akteure der AfD-Kreisebene wie exemplarisch der stellvertretende Vorsitzende des AfD-Kreisverbands Brandenburg/Havel (BB) Ulf Insel[496], das ehemalige Vorstandsmitglied des AfD-Kreisverbands Rhein-Steg (NW) und Unterstützer des „Flügel“ Joachim Gerlach[497], der stellvertretende Vorsitzende des AfD-Kreisverbands Oberallgäu/Lindau/Kempten (BY) Roland Aicher (BY, 3, stellv. Vorsitzender im Bezirksverband Schwaben, 1. stellv. Vorsitzender im Kreisverband Oberallgäu/Lindau/Kempten)[498], der Sprecher des AfD-Kreisverbands Ulm/Alb-Donau (BW) Eugen Ciresa[499] und der Vorsitzende des AfD-Kreisverbands Havelland (BB) Dominik Kaufner[500] vergleichbare Verlautbarungen.

Darüber hinaus signalisierten zahlreiche Organisationseinheiten der AfD ebenfalls ihre Unterstützung und Solidarität gegenüber Andreas Kalbitz. So erklärte der Vorstand des AfD-Kreisverbands Saalekreis (ST) am 15. Mai 2020 auf Facebook:

„Die AfD Saalekreis steht zu Andreas Kalbitz! […] Wir versichern Andreas Kalbitz unsere uneingeschränkte Solidarität und hoffen, daß er vor Gericht Erfolg hat und bald wieder Mitglied unserer Partei ist.“[501]

Am 17. Mai 2020 teilte dieser Kreisverband auf Facebook außerdem eine „Protestnote zur Annullierung der AfD Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz“, in der es unter anderem hieß:

„Die Entscheidung, Andreas Kalbitz aus unserer Partei auszuschließen, ist für uns nicht nachvollziehbar. Wir stehen weiter zu unserem erfolgreichen Parteifreund Kalbitz und hoffen, dass der Landes- und Fraktionsvorstand von Brandenburg angemessen auf diese parteischädigende Entscheidung reagieren wird.“[502]

Der AfD-Kreisverband Oberspreewald-Lausitz (BB) teilte in Facebook-Einträgen ebenfalls wiederholt Solidaritätsbekundungen für Kalbitz.[503]

Der AfD-Kreisverband Magdeburg (ST) bekundete am 16. Mai 2020 auf Facebook seine Unterstützung für Kalbitz anhand einer Grafik mit der Aufschrift „KALBITZ BLEIBT!“[504]

Am 17. Mai 2020 postete der AfD-Kreisverband Landkreis Leipzig (SN) auf Facebook eine Grafik mit der Aufschrift „WIR STEHEN ZU ANDREAS KALBITZ“. Der zugehörige Textbeitrag lautete:

„Wir stehen natürlich hinter Andreas Kalbitz und er bekommt von uns genauso unsere Unterstützung, wie er uns auch unterstützt hat. Wenn die Leute meinen mit einem Rauswurf und Zerschlagung des Flügels Wählerstimmen zu generieren, irrt man sich gewaltig. […] Andreas wir stehen hinter dir und hoffen, dass dieser Beschluss wieder zurück genommen wird.“[505]

Darüber hinaus veröffentlichten zahlreiche weitere AfD-Kreisverbände in den Sozialen Medien Solidaritätsbekundungen gegenüber Andreas Kalbitz, so exemplarisch der AfD-Kreisverband Potsdam (BB)[506]‚ der AfD-Kreisverband Teltow-Fläming (BB)[507], der AfD-Kreisverband Märkisch-Oderland (BB)[508][509][510] der AfD-Kreisverband Paderborn (NW)[511], der AfD-Kreisverband Rhein-Sieg (NW)[512], der AfD-Kreisverband Chemnitz (SN)[513], der AfD-Kreisverband Bautzen (SN)[514], AfD-Bezirksverband Hamburg-Mitte (HH)[515], der AfD-Kreisverband Forchheim (BY)[516][517], der AfD-Kreisverband Unterallgäu/Memmingen (BY)[518] und der AfD-Kreisverband Ulm/Alb-Donau (BW)[519].

Das Bewerben von „Flügel“-Treffen und die positive Bezugnahme auf solche sowie die Unterstürzung kann als weiterer Beleg für den Rückhalt und die Wirkmächtigkeit des „Flügel“ in der Gesamtpartei gewertet werden.

Der AfD-Kreisverband Wilhelmshaven-Stadt (NI) veröffentlichte am 11. Januar 2020 einen Facebook-Eintrag, in welchem dieser positiv über die Teilnahme am „sechsten patriotischen Neujahrsempfang“ in Northeim (NI) berichtete:

„Gestern ging es ein paar ‚Flügel’schläge weit zu unseren Freunden nach Südniedersachsen, wo der sechste patriotische Neujahrsempfang auf dem Programm stand. In einem schönen historischen Gebäude traf man sich im Kreise der politischen Freunde in Northeim.“[520]

Am 14. Februar 2020 fand die Veranstaltung „Höcke kommt“ des AfD-Kreisverbandes Kulmbach (BY) statt. Als Veranstalter traten vom AfD-Kreisverband Kulmbach Georg Hock (Vorsitzenden) und Hagen Hartmann (stellvertretender Vorsitzender, Oberbürgermeisterkandidat bei der Kommunalwahl 2020) in Erscheinung. In der Bayerische Rundschau erschien am 11. Februar 2020 der Artikel „Zu Gast bei Freunden“. Auf die Frage, weshalb sich Björn Höcke im Kulmbacher Kommunalwahlkampf für Hagen Hartmann einsetze, antwortete Georg Hock, dass es zwischen ihm und Höcke eine enge Verzahnung und zudem einen guten Kontakt zwischen Höcke und Hartmann gebe. Gegenüber der Presse bezeichnete Hartmann die Person Höcke als einen „hochfeinsinnigen Menschen, förmlich ein Philosoph“. Die Veranstaltung fand am 14. Februar 2020 in der Stadthalle Kulmbach mit etwa 350 Besuchern statt. Einer nicht bekannten Anzahl von Veranstaltungsinteressenten musste mangels verfügbarer Plätze der Zutritt zur Veranstaltungshalle jedoch versagt werden. Georg Hock moderierte die Veranstaltung und begrüßte neben zwei bayrischen AfD-Landtagsabgeordneten auch Funktionäre der bayerischen AfD-Kreisverbände Coburg, Forchheim und Nürnberg. Unter den Besucher befanden sich ferner Luis Hill, Vorsitzender der JA Ostbayern, Benjamin Nolte und Paul Traxl, Vorsitzender des AfD-Kreisverband Aichach-Friedberg (BY) und Landesobmann des „Flügel“ für Bayern. Des AfD-Kreisverband Forchheim (BY) bezeichnete nach der Veranstaltung Björn Höcke auf Facebook als „fantastisch“, „brillianteste(n) Redner und Politiker Deutschlands“, „so geht Demokratie“.

Obwohl die Veranstaltung als Wahlkampfaktivität in Kulmbach mit der Symbolik der AfD beworben und durchgeführt wurde, ist sie aufgrund der beteiligten Organisatoren und Redner als Veranstaltung unter erheblichem Einfluss des „Flügel“ zu bewerten.[521][522][523][524][525][526][527][528][529][530][531][532][533][534]

Mit einem Facebook-Eintrag vom 27. April 2020 und einer zugehörigen Grafik warb der AfD-Kreisverband Landkreis Leipzig (SN) für das „letzte ‚offizielle‘ Flügeltreffen“ im Landkreis Leipzig am 30. April 2020.[535]

Hintergrund für die Durchführung des finalen „Flügel“-Treffens im Landkreis Leipzig war offenbar die Vorgabe der „Flügel“-Führungspersonen Björn Höcke und Andreas Kalbitz, die Aktivitäten des „Flügel“ bis zum 30. April 2020 einzustellen. Die Ausrichtung eines solchen Treffens im Landkreis Leipzig belegt die Verbundenheit des Kreisverbandes zum „Flügel“. Darüber hinaus wird mit dem Setzen von Anführungszeichen beim Adjektiv „offiziell“ angedeutet, dass es fortan inoffizielle Veranstaltungen des „Flügel“ gaben soll.

Die Teilnahme von Funktionären der AfD-Kreisebene an „Flügel“-Treffen kann ferner als weiterer Beleg für einen strukturellen Einfluss in der Gesamtpartei gewertet werden.

Karl Schwarz, Beisitzer im AM-Kreisverband Freiburg/Breisgau (BW), berichtete auf Facebook von seiner Teilnahme am „Flügeltreffen“ am 1. April 2019 in Berlin.[536]

Gerhard Bärsch, Sprecher des AfD-Kreisverbands Vogelsberg (HE), veröffentlichte am 6. Juli 2019 auf seiner Facebook-Seite ein gemeinsames Foto mit Björn Hocke vom „Kyffhäusertreffen 2019“.[537]

In einem weiteren Beitrag äußerte sich Gerhard Bärsch zum „Kyffhäusertreffen“ wie folgt:

„Danke für einen wundervollen Tag unter Parteifreunden! Vielen Dank vor allem an Björn Höcke, Andreas Kalbitz und Christine Anderson sowie die Organisatoren des diesjährigen Kyffhäusertreffens. Es waren tolle Reden zu hören, viele interessante Gespräche wurden geführt und gutes Wetter gab es noch gratis dazu. Das Credo der diesjährigen Veranstaltung ist, dass wir Einigkeit statt Spaltung brauchen, uns niemals öffentlich über Parteifreunde äußern und uns zudem auf unsere Gründungsideale zurück besinnen. In Einigkeit sind wir stark, in Aufspaltung überflüssig. Das müssen wir uns immer wieder bewusst machen.“[538]

Einem Facebook-Eintrag des AfD-Kreisverbandes Vorpommern-Rügen (MV) vom 7. Juli 2019 zufolge besuchten auch der Kreissprecher René Kruschewski und weitere Mitglieder des Kreisverbandes am Vortag das „Kyffhäusertreffen 2019“ in Leinefelde (TH). Die Teilnahme an der für den „Flügel“ bedeutsamsten Jahresveranstaltung ist als ein Beleg für eine enge Verbundenheit mit dem „Flügel“-Netzwerk zu bewerten.[539]

Am 20. September 2019 veröffentlichte die Junge Alternative Dresden Lichtbilder vom am selben Tag stattgefundenen „Sächsischen Flügeltreffen“ in Freital (SN). Darauf waren Björn Höcke, Andreas Kalbitz, Jörg Urban und Jens Maier zu sehen. Hierzu hieß es:

„Schönes und kraftvolles #Flügeltreffen in Sachsen! Volle Unterstützung für Björn Höcke und die AfD Thüringen!“[540]

Die Junge Alternative Altmark (ST) postete am 6. März 2020 einen Facebook-Eintrag, der Sebastian Koch (Vorsitzender im Kreisverband Altmark West, ST) als Teilnehmer eines „Flügel‘-Treffens in Schnellroda (ST) zeigte. Im Eintrag hieß es:

„Heute haben sich Vertreter der JA und des Kreisverbandes auf den Weg in die Kubitschek-Region gemacht, um nicht nur gute Reden von Reichardt, Tillschneider und Höcke zu lauschen.“[541]

Das „Familienfoto“ am 3. Oktober 2020 in Vechta (TH) kommentierte der „Flügel“-Anhänger Theo Gottschalk (NW) am 6. Oktober 2020 auf Facebook zudem wie folgt:

„Ein Familienfest, das mich an Kyffhäuserzeiten erinnert und gezeigt hat das die Solidarität unter den Patrioten des ehemaligen Flügel auch nach seiner Auflösung bestand hat.“[542]

Gemeinsam mit dem zitierten Text veröffentlichte Gottschalk außerdem diverse Fotos, die neben seiner eigenen auch die Teilnahme von Christian Blex (NW) und Jürgen Pohl (TH) belegen.

Neben Besuchen von „Flügel“-Treffen ist zudem auch das Teilen von Inhalten, die im Zusammenhang mit „Flügel“-Treffen stehen, festzustellen.

Am 29. Januar 2019 veröffentlichte zum Beispiel der AfD-Kreisverband Plön (SH) auf Facebook ein YouTube-Video der Rede Björn Höckes auf dem „Sachsentreffen“ des „Flügel“ vom 23. Januar 2019.[543]

Am 8. Juli 2019 teilte der AfD-Kreisverband Rhein-Sieg (NW) ein Video der Rede von Björn Höcke während des zu diesem Zeitpunkt stattfinden „Kyffhäusertreffen 2019“. Dieses Video übertitelte der Kreisverband:

„Kyffhäusertreffen 2019 Björn Höckes mitreisende Rede in 4K.“[544]

Am 22. März 2020 veröffentlichte Axel Zamzow, Vorsitzender im AfD-Kreisverband Bad Tölz (BY), auf seiner Facebook-Seite einen Auszug aus dem Kyffhäuser-Manifest von 2017 und schrieb dazu:

„Damals und jetzt, aktueller denn je.“

Im von ihm zitierten Auszug des Manifest hieß es:

„Wir begreifen die AfD als politische Alternative für Deutschland. Wenn eine Einheitsfront aus Altparteien und Medienfilz gegen die Interessen unseres Volkes und unserer Nation handelt, muß es eine Kraft für die gute Zukunft unseres Landes geben. Diese Kraft ist die AfD. Wir begreifen die AfD als politische Alternative mit Regierungsanspruch und warnen vor jedem Gedanken an verfrühte Koalitionen. Denn die AfD ist kein Steigbügelhalter, sondern möchte und wird einen Politikwechsel durchsetzen und inhaltliche Maßstäbe setzen. Wir gestalten die AfD als Volkspartei und als Partei, die nicht zum Selbstzweck wird. Wir sind für unser ganzes Volk da und sehen unsere Partei als Mittel, mit dem wir dem Ganzen bestmöglich dienen können: unsere Volk, unserer Nation und unserem Staat. Wir erhalten die AfD als zusammengeführte Oppositionsbewegung: viele Motive, weltanschauliche Breite, ein Auftrag! […] Wir verteidigen die Einheit der AfD gegen Spaltungsversuche von innen und außen, denn das ist die größte Gefahr: daß wir uns auseinanderreißen lassen. Gewonnen hätte dann nur einer: der politische Gegner.“[545]

Der bestehende strukturelle Einfluss des „Flügel“ lässt sich weiterhin daran erkennen, dass durch Akteure der AfD-Kreisebene in den Sozialen Netzwerken vielfach Inhalte und Beiträge von „Flügel“-Protagonisten wie Björn Höcke geteilt und weiterverbreitet werden. In diesem Zusammenhang wird zudem häufig eine Unterstützungshaltung betont.

So veröffentlichte Gerhard Vierfuß, stellvertretender Vorsitzender der AfD-Fraktion im Stadtrat van Oldenburg (NI), am 3. April 2020 einen Tweet, in dem er ein Interview mit Höcke teilte und diesen als „die zentrale Gestalt innerhalb der #AfD“ bezeichnete.[546]

Der AfD-Kreisverband Forchheim (BY) teilte am 16. Februar 2020 auf Facebook eine Rede von Björn Höcke beim Kommunalwahlalufakt in Kulmbach (BY) am 1. Februar 2020 und kommentierte den Auftritt mit den Worten:

„Björn Höcke, der brillanteste Redner und Politiker Deutschlands.“[547]

Am 15. September 2019 äußerte sich Otto Hiller von Gaertringen, Vorsitzender des AfD-Kreisverbands Bitburg-Prüm (RP), in einem Interview positiv über das Buch „Nie zweimal in denselben Fluß“ von Björn Höcke:

„Ich habe sein Buch gelesen. Den meisten Dingen, die er dort schreibt, würde vermutlich eine Mehrheit zustimmen. Es handelt sich um einige Dinge, die sich von selbst verstehen, fast könnte man sagen, dass sie trivial sind und es sich um Allgemeinplätze handelt. Womit er aneckt, ist sein Pathos – weswegen ihn manche als Hitlerimitat dämonisieren. Inhaltlich sind die Unterstellungen aber nicht zu halten.“[548]

Auch zahlreiche weitere Akteure der AfD-Kreisebene teilen in den Sozialen Netzwerken Beträge und Videos des „Flügel“-Protagonisten Björn Höcke, so zum Beispiel Harald Meußgeier (1. stellv. Vorsitzender im BV Oberfranken und Vorsitzender im Kreisverband Coburg-Kronach, BY)[549], Joachim Gerlach (ehemaliges Vorstandsmitglied des AfD-Kreisverbands Rhein-Sieg, NW)[550], Jens Dietrich (stellvertretender Vorsitzender im AfD-Kreisverband Umkreis Gotha, TH)[551], Simon Dennenmoser (Vorsitzender des AfD-Kreisverbands Göppingen, BW)[552], Daniel Schütte (Vorsitzender der AfD-Stadtratsfraktion in Homburg, SL)[553], Torsten Radtke (Vorsitzender im Kreisverband Halle, ST)[554] und Daniel Birkefeld (AfD-Bezirksverordneter in Berlin-Marzahn und Unterstützer des „Flügel“)[555].

Pierre Jung, Sprecher des AfD-Kreisverbands Hamm (NW), leitete und kommentierte am 24. Juli 2019 einen COMPACT-Artikel, in dem der Rechtsextremist Jürgen Elsässer bezugnehmend auf einen Auftritt Matteo Salvinis bei einer Veranstaltung der italienischen Partei Lega einen stärkeren Personenkult um Björn Höcke forderte:

„Wie geil ist das denn: Salvini auf einem aktuellen Video. Diese Begeisterung, diese Leidenschaft, diese Lebensfreude! Es zeigt sich wieder mal: Personenkult schließt die Massen, das Volk nicht notwendig aus. Er kann die Massen‚ das Volk auch beflügeln! Könnt Kir Euch vorstellen, was das für ein Gemeinschaftsgefühl ist? […] Könnte, müsste die AfD Personenkult nicht auch mit ihrem charismatischsten Politiker machen – nämlich mit Björn Höcke? […] Das Herz des Volkes und wird Köpfen erobert – mit Leuten zum Anfassen, die volkstümlich sprechen und den Entrechten und Beleidigten eine Stimme geben! […] Braucht die AfD mehr Höcke-Kult? Stimmen sie jetzt ab!“[556]

Elsässer plädiert in dem Artikel für mehr Personenkult in der AfD und berichtet begeistert von dem Gemeinschaftsgefühl, das sich dabei entstehe. So imaginiert er zwei „Führer“: Höcke im Osten und die „blonde Prinzessin“ Alice Weidel (MdB) im Westen. Jung kommentiert den Artikel mit den Worten „Etwas mehr Höcke wagen!“. Damit plädiert er für einen noch stärkeren Einfluss des „Flügel“-Protagonisten.

Zahlreiche Organisationseinheiten der AfD-Kreisebene teilten in den Sozialen Netzwerken ebenfalls Beiträge und Videos von Björn Höcke oder signalisierten auf andere Weise ihre Unterstützung für den „Flügel“-Protagonisten.

Am 17. Februar 2020 teilte der AfD Kreisverband Lahn-Dill (HE) das YouTube-Video eines Wahlkampfauftritts Björn Höckes mit folgendem Kommentar:

„Wenn man diese Rede anschaut, weiß man warum Her Höcke so viele Fans hat. Exzellent!“[557]

Am 26. Oktober 2019 postete der AfD-Kreisverband Märkisch-Oderland (BB) auf Facebook folgenden Text:

„Patriotische Grüße nach Thüringen. Der AfD – Kreisverband Märkisch-Oderland grüßt die thüringischen Kameraden, Björn Höcke und sein Wahlkampfteam. Mögt ihr einen beachtlichen Wahlerfolg einfahren, eine noch stärkere Fraktion stellen und möge Höcke in den Bundesvorsand aufrücken. Dahin, wohin ein Patriot, wie er, gehört!“[558]

Der AfD-Kreisverband Märkisch-Oderland wünscht an dieser Stelle nicht nur dem Rechtsextremisten und „Flügel“-Protagonisten Björn Höcke Erfolg, sondern wünscht sich darüber hinaus dessen Wahl in den AfD-Bundesvorstand.

Der AfD-Kreisverband Barnim (BB) nahm in einem Instagram-Eintrag vom 15. Juli 2019 unter anderem wie folgt zu den Rechtsextremismus-Vorwürfen gegen Björn Höcke Stellung:

„Er ist #Geschichtslehrer und weiß wovon er spricht! Ihn als Nazi zu betiteln zeugt von #Naivität und #Dummheit, Er ist ein wahrer #Kämpfer für #Deutschland.“[559]

Am 16. September 2019 teilte der AfD-Kreisverband Sigmaringen (BW) auf Facebook einen Pressebericht mit der Überschrift „Alexander Gauland: ‚Höcke wird immer wieder fehlinterpretiert'“ und kommentierte diesen folgendermaßen:

„Und das mit Absicht um ihn zu diffamieren.“[560]

Am 15. Februar 2020 teilte der AfD-Kreisverband Saalekreis (ST) auf Facebook einen Eintrag des AfD-Kreisverbandes Landkreis Leipzig (SN) vom 14. Februar 2020 über Björn Höcke und kommentierte diesen mit den Worten „Björn Höcke ein Mann ein Weg!“[561]

Der AfD-Kreisverband Wilhelmshaven-Stadt (NI) teilte am 27. April 2020 einen Facebook-Eintrag Höckes, in welchem dieser auf „die fünf Jahre des Flügel-Bestehens“ zurückblickte und die Geschichte des „Flügel“ darstellte. Der Kreisverband Wilhelmshaven-Stadt übertitelte dies mit den Worten:

„Danke Björn Höcke!“[562]

Auch zahlreiche weitere Kreisverbände teilten in den Sozialen Netzwerken Beiträge des „Flügel“-Protagonisten Höcke, so unter anderem der AfD-Kreisverband Südthüringen (TH)[563], der AfD-Kreisverband Landkreis Leipzig (SN)[564][565], der AfD-Kreisverband Zweibrücken (RP)[566], der AfD-Kreisverband Reutlingen (BW)[567][568][569] der AfD-Kreisverband Ulm/Alb-Donau (BW)[570], der AfD-Kreisverband Neustadt an der Weinstraße (RP)[571], der AfD-Kreisverband Vulkaneifel-Daun (RP)[572], der AfD-Kreisverband Wilhelmshaven-Stadt (NI)[573], der AfD-Kreisverband Northeim (NI)[574], der AfD-Kreisverband Vorpommern-Rügen (MV)[575][576][577] der AfD-Ortsverband Offenburg-Mittlere Ortenau (BW)[578], der AfD-Kreisverband Forchheim (BY)[579], der AfD-Kreisverband Passau/Freyung-Grafenau (BY)[580], der AfD-Kreisverband Oberallgäu Kempten-Lindau (BY)[581], der AfD-Kreisverband Weilheim-Schongau (BY)[582] und der AfD-Kreisverband Offenbach-Land (HE)[583].

Auch Organisationseinheiten der Junge Alternative verbreiteten in großem Umfang entsprechende Inhalte in den Sozialen Netzwerken. So teilte die Junge Alternative Dresden (SN) im Zeitraum von März 2019 bis März 2020 zwölf Facebook-Einträge des „Flügel“-Protagonisten Björn Höcke auf ihrer Facebook-Seite und verhalf ihm und seinen Positionen damit zu einer größeren Reichweite.[584][585]

Am 26. Januar 2020 teilte die Junge Alternative Altmark (ST) ein Foto von Vertretern der Junge Alternative Altmark und unter anderem den „Flügel“-Protagonisten Björn Höcke und Andreas Kalbitz auf Facebook. Dazu schreib diese:

„Wir als Junge Alternative Altmark und bekennende Höckejugend[586] konnten so dem Björn und dem Andreas einen Wimpel von unserem ‚Rechtsauszen-Fanclub‘ mit einem kleinen Zwinkern in Richtung Antifa übergeben. Wir freuen uns auf die kommenden Monate und Jahre in Zusammenarbeit und versprechen Euch, dass es auch in der Altmark in Zukunft Veranstaltungen zwischen der Jungen Alternative und dem Flügel geben wird. #jungealternative #jungealternativealtmark #jungealternativeSachsenanhalt #höckejugend.“[587]

Der Begriff Höckejugend deutet als provokative Anspielung auf den Begriff Hitlerjugend an und dokumentiert den Personenkult um Höcke. Die Verwendung dieser Formulierung stieß in den Medien auf Kritik, woraufhin die JA angab, dass eine Anspielung auf die Jugendorganisation der Nationalsozialisten vermeintlich nicht beabsichtigt gewesen sei. Unabhängig hiervon belegt die Verwendung dieses Begriffs jedoch die Verbundenheit der Junge Alternative Altmark mit Person und Ideologie Höckes.

Zahlreiche weitere JA-Untergliederungen verbreiteten Beiträge und Videos von Björn Höcke oder bewarben Veranstaltungen mit diesem, so zum Beispiel die Junge Alternative Detmold (NW)[588], die Junge Alternative Bielefeld (NW)[589][590] und die Junge Alternative Südbaden (BW)[591].

Die Junge Alternative Frankfurt am Main (HE) teilte zudem mehrere Facebook-Einträge der Flügel-Protagonisten Frank Pasemann (MdB), Christine Anderson (MdEP, Landesobfrau des „Flügel“ in Hessen), Hans-Thomas Tillschneider (MdL, ST), Jens Maier (MdB) und Björn Höcke (MdL, TH).[592][593][594][595][596]

Weitere AfD-Kreisverbände teilten zudem Beiträge weiterer prominenter „Flügel“-Vertreter oder nahmen positiv Bezug auf diese.

Am 25. Dezember 2019 teilte der AfD-Kreisverband Rostock (MV) einen mit „Weihnachten ist Widerstand!‘ überschriebenen Facebook-Eintrag von Hans-Thomas Tillschneider vom selben Tag. Dass Tillschneider als Obmann des „Flügel“ in Sachsen-Anhalt über den eigenen Landesverband hinaus rezipiert wird bzw. präsent ist, zeigt sich zudem daran, dass er laut dem vorgenannten Facebook-Eintrag bereits auf verschiedenen Veranstaltungen des Kreisverbandes Rostock zu Gast war.[597]

In einem Eintrag auf seiner Website vom 5. Januar 2020 bewarb der AfD-Kreisverband Altmark-West (ST) eine Bürgerdialog-Veranstaltung in Salzwedel (ST) mit Björn Höcke und Andreas Kalbitz zum Thema Linksextremismus. In dem Beitrag wurde die Wertschätzung gegenüber beiden Personen explizit hervorgehoben:

„Stolz dürfen wir verkünden, dass mit Björn Höcke und Andreas Kalbitz zwei besondere Gastredner aus Thüringen und Brandenburg nach Salzwedel kommen und unser Diskussionsmunde bereichern werden. […] Der Teilnahme zahlreicher Bürger und dem spannenden Erfahrungsaustausch blicken wir freudig entgegen.“[598]

Am 16. Mai 2020 teilte der AfD-Kreisverband Tübingen (BW) auf Facebook einen Eintrag der Landtagsabgeordneten Christina Baum (BW), „Flügel“-Obfrau in Baden-Württemberg, zu einem „Antifa-Überfall“. Kommentiert wurde dies u. a. folgendermaßen:

„Das muss jeder wissen. Bitte schließt Euch der AfD an. Mitglied werden. Spenden. Aktiv wenden. Kein wenn und aber mehr. Zitat: Die AfD ist die letzte evolutionäre Chance die dieses Land hat (Björn Höcke).“[599]

Am 12. Januar 2020 aktualisierte der AfD-Kreisverband Northeim (NI) sein Profilbild. Das Bild zeigte die beiden prominentesten „Flügel“-Protagonisten Höcke und Kalbitz.[600]

Der AfD-Kreisverband Nienburg-Schaumburg (NI) bewarb mehrere Veranstaltungen, bei denen maßgebliche „Flügel“-Protagonisten auftreten sollten.[601][602]

Darüber hinaus verbreiteten Vertreterinnen und Vertreter der Kreisebene zahlreiche weitere Inhalte, welche eine positive Haltung zum „Flügel“ erkennen lassen.

Daniel Birkefeld (BE) postete am 23. April 2020 auf Twitter einen Link zur Dresdner Erklärung – eine Unterschrifteinliste, die zum Zusammenhalt in der Partei aufruft – und am 19. Mai 2020 einen Link zur sogenannten Niedersachsen-Erklärung. Hierbei handelt es sich um eine Online-Abstimmung, die sich dafür aussprach, unterschiedliche Parteiströmungen in die AfD zu integrieren und die Annullierung der Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz zurückzunehmen. Beide Erklärungen unterstreichen die Bedeutung des „Flügel“.[603]

Auch Edgar Naujok, Vorsitzender im AfD-Kreisverband Landkreis Leipzig (SN), veröffentlichte am 20. Mai 2020 auf seiner Facebook-Seite einen Link zu der sogenannten Niedersachsen-Erklärung.[604]

Auf dem Facebook-Profil des AfD-Kreisverbandes Südwestmecklenburg (MV) solidarisierte sich das Mitglied des Kreisverbandes, Frank Baethke, in einem Eintrag vom 21. März 2020 mit den führenden Vertretern des „Flügel“ Björn Höcke und Andreas Kalbitz:

„Die AfD ist in Ostdeutschland so erfolgreich, weil wir hier Politiker haben, die den Finger stets in die Wunde legen und kompromisslos unsere Positionen vor dem politischen Gegner vertreten. Das haben Björn Höcke Andreas Kalbitz mit den fulminanten Wahlerfolgen im vergangenen Jahr bewiesen. Umso wichtiger ist es, dass wir unseren Parteifreunden an der politischen Front den Rücken stärken und die Reihen stets geschlossen halten.“

Die zu dieser Zeit laufenden Diskussionen bezeichnete Baethke als schädlich und forderte dazu auf, „unseren Parteifreunden“ also Höcke und Kalbitz, den Rücken zu stärken und die Reihen stets geschlossen zu halten.[605]

Folgende Erkenntnisse legen zudem exemplarisch einen wachsenden strukturellen Einfluss des „Flügel“ auf Kreisebene dar und verdeutlichen das Vorgehen des „Flügel“ gegen parteiinterne Gegner.

Ein von der Zeitung Dewezet am 6. Dezember 2018 veröffentlichtes Interview mit Holger Biester, Mitglied im Landesvorstand der AfD Niedersachsen, und seiner Ehefrau Elke Biester, AfD-Kreistagsabgeordnete im Landkreis Hameln-Pyrmont (NI), behandelte unter anderem die Frage nach einem „Rechtsruck“ im AfD-Kreisverband Weserbergland (NI). So hieß es:

„Im Übrigen, so Holger Biester, seien ‚Politik und Meinungsbildung mehr, als nur das Bestellen von Lampions in den Farben Schwarz, Rot Gold‘. Insbesondere den ‚Rechtsruck‘, der sich derzeit innerhalb des AfD-Kreisverbands Weserbergland abzeichne, bezeichnete Holger Biester am Donnerstag im Gespräch mit unserer Zeitung als ‚unerträglich‘. Wörtlich: ‚Das ist eine regelrechte Sekte, die sich da im Kreisverband herausgebildet hat.‘ Da würden beispielsweise derzeit ’nur noch Antragsteller als Mitglieder in die AfD aufgenommen, die sich offiziell zur politischen Linie eines Björn Höcke bekennen und bereit sind, diese auch nach außen zu vertreten‘.“[606]

Deshalb seien bereits 17 Mitglieder aus dem Kreisverband ausgetreten, so der Artikel.

In einem Artikel unter Mitwirkung des ehemaligen AfD-Mitglieds Stefan Buck berichtete der Schwarzwälder Bote am 10. Dezember 2020 zudem von einem immensen „Flügel“-Einfluss innerhalb des AfD-Kreisverbands Zollernalbkreis (BW):

„Seine Ansichten bezeichnet Buck als ‚liberal-konservativ‘. Damit aber, das habe er schnell gemerkt, sei er innerhalb des Kreisverbands Zollernalb, der seit Ende 2017 von Hans-Peter Hörner und Peter Rebstock geführt wird, in der Minderheit gewesen – zumindest nicht auf Linie des Vorstands. […] Statt innerparteilich die ganze Bandbreite politischer Argumente zuzulassen, hätten Hörner und Rebstock zunehmend dafür gesorgt, dass „Gemäßigte“ an den Rand gedrängt, von Posten verdrängt worden und dafür Vertreter des rechten Parteiflügels in führende Positionen gekommen seien. […] Die rechte Strömung habe nach der jüngsten Mitgliederversammlung klar die Oberhand im Kreisvorstand gewonnen, mit Hans-Peter Hörner an vorderster Front.“[607]

Im Juli 2020 traten außerdem zwei AfD-Mitglieder aus der Partei und der Kreistagsfraktion Esslingen aus. Laut Medienberichten begründeten beide ihre Entscheidungen ebenfalls mit dem Einfluss des „Flügel‘ im Kreisverband. So wird eines der beiden ehemaligen Parteimitglieder mit der Aussage zitiert, der „Flügel“ habe die Sache komplett übernommen.[608]

Mit Timo Weber berichtete im November 2020 ein weiteres ehemaliges Parteimitglied über eine Radikalisierung in der AfD. Weber war bis zu seiner Abwahl im August 2020 Vorsitzender des AfD-Kreisverbandes Ludwigshafen (RP). In einem Doppelinterview mit einem bereits 2015 ausgetretenen Mitglied erklärt Weber, dass er die Radikalisierung sowohl in der Partei im Allgemeinen aber euch im Kreisverband gespürt habe. Auf die Frage hin, welches Lager den Kurs der AfD künftig bestimmen werde, antworte Weber:

„Eher das Höcke-Lager. Die Abstimmungsergebnisse waren relativ knapp, auch bei der letzten Bundesvorstandswahl. Der Flügel ist nach wie vor existent, auch wenn die AfD behauptet, er sei aufgelöst.“[609]

II. Quantitative Analyse der Verbindungen zur Einflussnahme der erwiesen extremistischen Bestrebung „Der Flügel“ auf die Gesamtpartei

Für die folgenden statistischen Analysen wurden die Verbindungen von Personenprofilen der Gesamtpartei und des „Flügel“ in den Sozialen Netzwerken ausgewertet. Um nur die Aktivitäten zu berücksichtigen, die in der Verantwortung der Profilbetreiber der AfD liegen, wurden ausschließlich Verbindungen berücksichtigt, die von den AfD-Personenprofilen ausgehen oder auf eine wechselseitige Beziehung schließen lassen (wie Freundschaftsbeziehungen). Auch im vorliegenden Kapitel setzen sich diese Verbindungen aus Zustimmungsbekundungen zu Profilen und Beiträgen, sonstigen Reaktionen auf Beiträge, Freundschaftsbeziehungen und dem Teilen von Beiträgen zusammen.

Insgesamt wurden auf den betrachteten Sozialen Netzwerken 676 Personenprofile von 473 Funktionsträgerinnen und -trägern der AfD zugeordnet, die nicht dem „Flügel“ zuzurechnen sind. Zusätzlich konnten 76 Personenprofile ausgewählter Protagonistinnen und Protagonisten und weiterer relevanter Anhängerinnen und Anhänger[610] des „Flügel“ identifiziert werden. Insgesamt haben 63,6 % der AfD-Personenprofile[611] Verbindungen zu „Flügel“-Profilen (Tabelle 2). Im Beobachtungszeitraum kam es dabei zu 14.371 Verbindungen. Darunter sind 1.201 Freundschaftsbeziehungen zwischen AfD- und „Flügel“-Profilen zu verzeichnen. Damit hat statistisch gesehen jedes betrachtete AfD-Personenprofil 1,8 Freundschaftsbeziehungen zu einem der betrachteten „Flügel“-Profile und jedes „Flügel-Profil ist mit 15 AfD-Profilen freundschaftlich verbunden. Da ausschließlich besonders relevante „Flügel“-Profile bei dieser Analyse berücksichtigt werden sind, dürfte die tatsächliche Zahl höher liegen.

Tabelle 2: Verbindungen von AfD-Profilen zu Profilen des „Flügel“

AfD-Profile (N) Verbindungen (N)* % an AfD-Profilen (N=676) Verbindungen zu „Flügel“-Profilen 430 14.371 63,6 Freundschaftsbeziehungen 263 1.201 38,9 Folgen oder Likes von „Flügel“-Profilen 213 1.346 31,5 Reaktionen auf und Teilen von „Flügel“-Beiträgen 352 11.824 52,1 davon Likes/Loves 334 10.559 49,4

* Mehrfachnennungen der „Flügel“-Profile eingeschlossen, N = Anzahl.

Weiterhin likten und/oder folgen 213 der AfD-Profile 1.346 „Flügel“-Beiträge und Profile(n). Insgesamt wurden im Untersuchungszeitraum 11.824 Reaktionen von AfD-Profilen auf Beiträge von „Flügel“-Profilen in Form des Teilens und Setzen eines Emojis von Beiträgen festgestellt. Damit reagierte mehr als die Hälfte der AfD-Profile in den Sozialen Netzwerken auf Beitrage der „Flügel“-Profile. Bei 10.559 und damit über 53,3 % der Reaktionen handelt es sich um Zustimmungsbekundungen (Like- oder Love-Button). Diese Likes wurden von insgesamt 334 und damit fast der Hälfte der in die Analyse aufgenommen AfD-Profile der Kreis-, Landes-, Bundes- und europäischen Ebene vergeben.

Die folgende Abbildung 1 zeigt die 20 AfD-Personenprofile mit den meisten Verbindungen in Richtung „Flügel“-Profile. Der Besitzer im AfD-Landesverband Niedersachsen und Vorsitzende des Kreisverbands Northeim (NI), Maik Schmitz, weist mit 571 die meisten Verbindungen in Richtung „Flügel“-Profile auf, gefolgt von Hans-Stefan Edler (Schatzmeister des Landesverbandes Brandenburg) und Corinna Herold (MdL, TH). Das Personenprofil des Bundessprechers, Tino Chrupalla (MdB), liegt mit 275 von ihm ausgehenden Verbindungen auf Platz 8 und das Profil des stellvertretenden Landesvorsitzenden in Brandenburg‚ von Lützow (MdL, BB), mit 274 Verbindungen auf Platz 9 aller Profile. Weiterhin gehören die Profile von Nikolaus Kramer (MdL, MV), Andreas Harlaß (Beisitzer und Pressesprecher der Landtagsfraktion Sachsen), Anne Schwieger (Beisitzerin im Landesverband Hamburg) und Udo Hemmelgarn (MdB und Sprecher im Bezirksverband Detmold, NW) zu jenen Profilen mit den zahlreichsten Verbindungen zum „Flügel“.

Abbildung 1: Zwanzig AfD-Profile mit den meisten auf „Flügel“-Profile gerichtete Verbindungen (N)

  • Maik Schmitz: 571
  • Stefan Edler: 559
  • Corinna Herold (MdL, TH): 461
  • Ronny Kumpf: 453
  • Pierre Jung: 406
  • Daniel Schütte: 378
  • Andreas Best: 303
  • Tino Chrupalla (MdB): 275
  • Daniel Freiherr von Lützow (MdL, BB): 274
  • Nikolaus Kramer (MdL, MV): 267
  • Johannes Brinkrolf: 247
  • René Kruschewski: 235
  • Kerstin Schotte: 230
  • Kai Habicht: 220
  • Andreas Harlaß: 217
  • Anne Schwieger: 215
  • Thomas Damson: 207
  • Andreas-Dieter Iloff: 190
  • Udo Hemmelgarn (MdB): 179
  • Martin Schmidt: 178

Die „Flügel“-Profile, zu denen die meisten eingehenden oder wechselseitigen Verbindungen in den Sozialen Netzwerken im Beobachtungszeitraum bestanden, sind in Abbildung 2 aufgeführt. Das Personenprofil von Björn Höcke (MdL, TH) zeigt mit 3.433 mit Abstand die meisten eingehenden Verbindungen vonseiten der AfD-Profile, gefolgt von Birgit Bessin (MdL, BB) mit 2.511 und „Flügel“-Obmann Enrico Komning (MdB) mit 1.246. Unter den „Flügel“-Profilen mit den meisten eingehenden Verbindungen vonseiten der AfD-Personenprofile sind neben den beiden Führungsfiguren Höcke und Kalbitz noch fünf weitere „Flügel“-Obleute: Hans-Thomas Tillschneider (ST), Thorsten Weiß (BE), Jens Maier (SN), Christian Blex (NW) und Enrico Komning (MV).

Abbildung 2: „Flügel“-Profile mit den meisten eingehenden Verbindungen von AfD-Profilen (N)

  • Björn Höcke (MdL, TH): 3.433
  • Birgit Bessin (MdL, BB): 2.511
  • Enrico Komning (MdB): 1.246
  • Jessica Bießmann (MdA, BE): 655
  • Frank Pasemann (MdB): 557
  • Martin Reichardt (MdB): 539
  • Thorsten Weiß (MdA, BE): 522
  • Dirk Spaniel (MdB): 493
  • Jörg Urban (MdL, SN): 428
  • Hans-Thomas Tillschneider (MdL, ST): 390
  • Katrin Ebner-Steiner (MdL, BY): 262
  • Thomas Röckemann (MdL, NW): 98
  • Jürgen Pohl (MdB): 81
  • Steffen Kotré (MdB): 75
  • Jens Maier (MdB): 74
  • Christian Blex (MdL, NW): 72
  • Andreas Kalbitz (MdL, BB): 69

Es ist davon auszugehen, dass bestimmte Ereignisse im Berichtszeitraum einen Einfluss auf das Kommunikationsverhalten in den Sozialen Netzwerken zwischen AfD- und „Flügel“-Akteuren hatten, wenn auch die sein quantifizierende Betrachtung keine Rückschlüsse auf die Inhalte der Kommunikation zulässt. Im Folgenden sind die Veränderungen der Verbindungsanzahl zwischen AfD- und „Flügel“-Profilen vor und nach den folgenden Ereignissen dargestellt (Abbildung 3):

  • Bundesparteitag am 30. November und 1. Dezember 2019
  • Bekanntgabe der Erhebung des „Flügel“ zur erwiesen rechtsextremistischen Bestrebung am 12. März 2020
  • Meuthens Aussage zur Abspaltung des „Flügel“ am 1. April 2020
  • Auflösung des „Flügel“ am 30. April 2020

Gemessen an der Anzahl der Verbindung gab es vor und nach dem Bundesparteitag am 30. November und 1. Dezember 2019 keine statistisch relevanten Veränderungen im Kommunikationsverhalten zwischen AfD- und „Flügel“-Profilen (Abbildung 3). Bemerkenswert ist, dass auch keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Verbindungen vor und nach der Erhebung des „Flügel“ zur erwiesen extremistischen Bestrebung seitens des BfV feststellbar sind. Es kam lediglich zu einer Abnahme von 5,8 % von 398 auf 375 Verbindungen. Dabei hätten sowohl eine deutlichere Abnahme aufgrund der Signalwirkung der Erhebung und damit einhergehenden Distanzierungen für Teile der Gesamtpartei als auch ein Anstieg der Verbindungen aufgrund etwaiger Solidarisierungen mit dem Personenzusammenschluss zu Veränderungen führen können. Die Anzahl der interagierenden AfD-Profile blieb gleich.

Auch wäre zu vermuten gewesen, dass die formale Auflösung des „Flügel“ das Kommunikationsverhalten zwischen dem Personenzusammenschluss und der Gesamtpartei in der Art tangiert, dass sich die Verbindungen in den Sozialen Netzwerken verringern. Auch dies ist nicht der Fall. Einen Monat vor und nach der Auflösung des „Flügel“ blieb die Anzahl der Verbindungen auf einem konstant hohen Niveau von jeweils knapp 900 Verbindungen bei gleichbleibender Anzahl der interagierenden Profile.

Das einzige Ereignis, dessen Auswirkung auf das Kommunikationsverhalten sich durch die quantitative Ausprägung der Verbindungen deutlich nachzeichnen lässt, ist Meuthens Aussage zur Abspaltung des „Flügel“ am 1. April 2020. Während bis zwei Wochen vor der Aussage Meuthens noch 373 Verbindungen der AfD-Personenprofile zu „Flügel“-Profilen zu verzeichnen waren, stieg die Anzahl bis zwei Wochen nach Meuthens Verlautbarungen um 40,5 % auf 524 Verbindungen. Dies kann ein Indiz dafür sein, dass die von Meuthen angestoßene Diskussion zu vermehrten Reaktionen vonseiten der AfD in Richtung „Flügel“ führte. Auch die Zahl der interagierenden AfD-Profile stieg um 18,4 %.

Abbildung 3: Veränderungen der Verbindungshäufigkeiten vor und nach für die Partei relevanten Ereignissen (N)

Vorher Nachher Bundesparteitag     Spaltungsdebatte 373 524 Erhebung des Flügel 398 375 Auflösung des Flügel 89X 89X

Zusammengefasst standen im Untersuchungszeitraum fast zwei Drittel der AfD-Personenprofile mit „Flügel“-Profilen in Kontakt. Dabei gab es 14.371 Verbindungen und darunter 1.201 Freundschaftsbeziehungen. Die Verbindungen sind in allen betrachteten Funktionsebenen der Gesamtpartei AfD auf Kreis- und Landesebene sowie auf der Bundes- und europäischen Ebene festzustellen. Insbesondere zu den Profilen der Obleute des „Flügel“ wurden zahlreiche Verbindungen ausgehend von AfD-Personenprofilen festgestellt. Die meisten Verbindungen wurden zu Björn Höcke, aber auch Birgit Bassin und Enrico Komning gefunden. Die betrachteten Ereignisse, wie der Bundesparteitag, die Bekanntgabe der Erhebung des „Flügel“ zur erwiesen extremistischen Bestrebung und die Auflösung des „Flügel“, hatten nur wenig Einfluss auf die Quantität der Verbindungen in den betrachteten Sozialen Netzwerken. Lediglich die Spaltungsdebatte ausgehend von Meuthen lässt einen Einfluss vermuten, auch wenn durch die rein quantitative Deskription hier keine kausalen Beziehungen interpretiert werden können. Insgesamt zeigt sich jedoch, dass die Profile der Gesamtpartei nach wie vor zahlreiche Verbindungen zu „Flügel“-Profilen unterhalten und auch nach der Auflösung des „Flügel“ keine Veränderungen diesbezüglich festzustellen sind.

F. Belege zur Feststellung tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung I. Menschenwürde

Art. 1 Abs. 1 GG schützt Personen(gruppen) dagegen, in einer Menschenwürde verletzenden Weise ausgegrenzt, verächtlich gemacht, verspottet oder sonst herabgewürdigt zu werden. Mit dem Begriff der Menschenwürde ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen verbunden, der es verbietet, Personen oder Personengruppen das Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft abzusprechen und sie als minderwertige Wesen zu behandeln.[612]

1. Völkisch-nationalistische Aussagen und Positionen

Hinsichtlich der Feststellung tatsächlicher Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) ist zu prüfen, ob sich in der Programmatik sowie in Aussagen von Parteiakteuren und Organisationseinheiten auf Bundes-, Landes- oder Kreisebene Anhaltspunkte finden, die auf einem völkisch-abstammungsmäßigen Gesellschafts- und Volksverständnis gründen.

Ein solches Verständnis misst der Existenz und dem Erhalt homogener ethnisch-biologischer bzw. ethnisch-kultureller Völker, die es als Subjekte mit einem einheitlichen Kollektivwillen konstruiert, eine überragende Bedeutung bei. Im völkischen Denken ist insofern die innere Homogenität unbedingt zu wahren respektive wiederherzustellen und durch scharfe Abgrenzung und Exklusion von als „fremd‘ definierten Entitäten zu verteidigen. Der völkische Nationalismus trennt deshalb klar in autochthone und migrierte Bevölkerungsteile, was einer nicht aufhebbaren Unterscheidung zwischen Eigen- und Fremdgruppen entspricht. Er geht darüber hinaus mit einer Überhöhung der eigenen, meist ethnisch-biologisch definierten Nation und Abwertung anderer Nationen einher. Ein wichtiger Bestandteil der neueren völkischen Ideologieansätze ist seit den 1970er Jahren das Konzept des Ethnopluralismus. Nach diesem neurechten Ideologem, welches eine modernisierte völkisch-nationalistische Grundkonzeption wiedergibt, wird die Welt als Pluralität distinkter kollektiver Entitäten in Form van kulturell definierten Ethnien wahrgenommenen. Die unterstellte kollektive Identität einer Ethnie wird dabei insbesondere durch ihre Kultur definiert und dem einzelnen Angehörigen der Ethnie pauschal zugeschrieben. Dadurch determiniert die kollektive Identität die des Individuums, wodurch seine Eigenschaften und individuellen Merkmale völlig vernachlässigt werden. Des Weiteren wird in der raumgebenden Komponente des Ethnopluralismus den meisten Ethnien eine angestammte geographisch umrissene Region zugewiesen, in weicher sich die kulturelle Identität ausschließlich entfalten kann. Nach dieser Konzeption ist ein Volk nur in einer langen zeitlichen Kontinuitätslinie denk- und somit erleb- bzw. erfahrbar, als organisch gewachsene Gemeinschaft und basierend auf einer gemeinsamen, sich über einen langen Zeitraum erstreckenden Geschichte. In einem solchen Konzept sind Zugezogene von vornherein pauschal ausgeschlossen, da sie eine „gemeinsame Geschichte“ nicht nachholen und somit kein authentischer Teil des Volkes werden können. Zudem geht das Homogenitätskonstrukt des völkischen Nationalismus bzw. Ethnopluralismus von einem natürlichen und einheitlichen Volkswillen aus, negiert damit die Interessenvielfalt einer – ungeachtet ihrer ethnischen Zusammensetzung – pluralistischen modernen Gesellschaft und postuliert stattdessen eine gemeinsame Schicksalsgemeinschaft.

Ein in dieser Weise auf ethnisch-abstammungsmäßigen Prämissen beruhender Volksbegriff ist mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar und verfassungsrechtlich unhaltbar.[612a] Er stellt die Subjektivität des Individuums und den aus der Menschenwürde folgenden Achtungsanspruch des Einzelnen in Frage und führt überdies zu einer Verweigerung elementarer Rechtsgleichheit für all jene, die nicht der ethnisch definierten „Volksgemeinschaft“ angehören.[613] Rechtsbeziehungen, wie etwa die Staatsangehörigkeit, werden an die Ethnie bzw. Rasse des Menschen geknüpft und ausgeschlossenen Individuen ein rechtlich minderwertiger Status zugeschrieben, der der Menschenwürde und dem Diskriminierungsverbot aus Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3 GG entgegensteht.

Auch das Konzept des Ethnopluralismus ist – soweit es sich auf ein ethnisch-kulturelles Volksverständnis stützt – mit der Achtung der Menschenwürde unvereinbar.[614]

Die Propagierung des Ethnopluralismus in diesem Sinne bietet folglich tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung.

Das Eintreten für eine restriktive Einwanderungspolitik ist für sich genommen verfassungsschutzrechtlich unbeachtlich, auch wenn damit die nationale kulturelle Identität, Sprache und Brauchtum geschützt werden sollen. Wenn in diesem Zusammenhang allerdings das erklärte politische Ziel propagiert wird, das deutsche Volk in seinem ethnisch-kulturellen Bestand zu erhalten, kann dies einen Anhaltspunkt für ein ethnisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis begründen. Denn diesem Ansatz liegt die Vorstellung zu Grunde, dass das Grundgesetz von einem deutschen Volk im ethnischen Verständnis ausgehe oder ausgehen solle, das nicht aus der Gesamtheit der deutschen Staatsangehörigen besteht, sondern aus der Gesamtheit der „ethnischen“ Deutschen. Des läuft in der Folge auf eine Klassifizierung von Staatsangehörigen auf Grundlage der ethnischen Herkunft in Deutsche erster und zweiter Klasse hinaus.[615] Die politische Forderung des ethnisch-kulturellen Erhalts des Volkes deutet zudem darauf hin, das Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrecht an dem Ziel ethnischer Homogenität auszurichten und ethnische Kriterien dabei entsprechend zu berücksichtigen. Die politische Forderung nach dem Erhalt der ethnokulturellen Identität ist dabei nicht erst dann verfassungsschutzrelevant, wenn sie zur direkten Ausgrenzung und Diskriminierung ethnisch nichtdeutscher Staatsangehöriger führt. Denn völkisch-abstammungsmäßige und rassistische Kriterien verstoßen auch dann gegen die Menschenwürde, wenn sie nicht absolut gelten und es Ausnahmen geben soll.[616]

Anhaltspunkte für einen ethnisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff können sich darüber hinaus ergeben, wenn mit den Begriffen „Umvolkung“[617], „Volkstod“[618] „Völkermord“[619], „Großer Austausch“[620] oder ähnlichen Umschreibungen die Vorstellung transportiert werden soll‚ wonach das ethnisch homogene deutsche Volk durch den Zuzug von Ausländern unterzugehen drohe und in seiner Existenz gefährdet sei.

Auch sich an diese Vorstellungen anschließende Forderungen nach einer umfassenden „Remigration“ oder einer „Reconquista“, die die Ausweisung großer Teile der Bevölkerung zur Folge hätten, weisen auf ein völkisches Konzept hin.[621][622]

Entsprechende Anhaltspunkte können des Weiteren vorliegen, wenn die pluralistische Gesellschaft per se ohne sachlichen Bezug als existentielle Gefahr und als Grundübel für das ethnisch-kulturell als Einheit verstandene deutsche Volk dargestellt wird oder anknüpfend an die ethnische Abstammung zwischen zwei Klassen deutscher Staatsbürger unterschieden wird.[623] Auch Forderungen nach einer vollständigen Assimilierung von Migranten an die autochthone deutsche Bevölkerung[624] sowie die grundsätzliche Überhöhung ethnischer Kriterien, in der eine vollständige Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv zum Ausdruck gebracht wird, stellen Anhaltspunkte für ein ethnisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis dar.

Im Folgenden ist zu untersuchen, ob und inwieweit einschlägige Anhaltspunkte für ein ethnisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis in Programmatik sowie in Aussagen von Parteiakteuren und Organisationseinheiten auf Bundes-, Landes- oder Kreisebene festzustellen sind.

1.1 Programmatische Schriften

Bereits das Grundsatzprogramm der AfD bietet Anhaltspunkte für ein völkisch-abstammungsmäßiges Volksverständnis.[625]

Zwar finden sich im AfD-Grundsatzprogramm Aussagen, die die Identität des Volkes an die Kultur knüpfen und insofern prinzipiell für alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft und Ethnie offen sind:

„Kultur ist außerdem die zentrale Klammer, in der sich auch ein neues Politikverständnis sehen muss. Unser aller Identität ist vorrangig kulturell determiniert.“[626]

Gleichwohl enthält das AfD-Grundsatzprogramm jedoch Aussagen, die für ein ethnisch-biologisches Volksverständnis sprechen:

„Dass die Geburtenrate unter Migranten mit mehr als 1,8 Kindern deutlich höher liegt als unter deutschstämmigen Frauen, verstärkt den ethnisch-kulturellen Wandel der Bevölkerungsstruktur.[627]

Auch wann sich diese Aussage vordergründig auf die Bevölkerungsstruktur bezieht, folgt daraus, dass die AfD der Einbürgerung von Migranten jedenfalls dann ablehnend gegenüber stehen muss, wenn es zu einer ethnisch-kulturellen Strukturverschiebung führt. Denn die AfD kann offensichtlich nicht einen ethnisch-kulturellen Wandel der Bevölkerungsstruktur ablehnen, gleichzeitig jedoch einen ethnisch-kulturellen Wandel des Volkes gutheißen. Hiernach aber zeigt sich, dass die AfD auch in ihrer Grundsatzprogrammatik die Identität des Volkes eben nicht (nur) kulturell versteht, sondern durchaus auch ethnisch rückkoppelt.

Der AfD-Landesverband Thüringen wendet sich gegen die vermeintlich multikulturalistische Ideologie als Gefahr für das Funktionieren der deutschen Gesellschaft. So erklärt er in seinem Programm zur Landtagswahl 2018:

„Die Gewährleistung der Sicherheit ist einerseits von einem gemeinschaftsorientierten Werte-, Sitten- und Normengefüge abhängig, das sich über Jahrhunderte hinweg ausgeprägt hat. Andererseits ist sie auf die Durchsetzung von Recht und Ordnung durch den Staat angewiesen. Eine intakte Rechtsordnung fußt auf unhinterfragten Selbstverständlichkeiten, die es in der von allen Altparteien angestrebten multikulturellen Gesellschaft nicht geben kann. Deshalb weist die AfD Thüringen entschieden das Ansinnen zurück, unsere über Generationen gewachsene Vertrauensgesellschaft in eine multikulturelle Gesellschaft aufzulösen.“[628]

Ganz ähnlich äußerte sich der Thüringer AfD-Landesvorsitzende Höcke in einer Rede am 8. August 2019:

„Ja, es ist so, unsere in Jahrhunderten – und, liebe Freunde, es dauert Jahrhunderte, bis ein Volk eine Vertrauensgesellschaft ausprägt, das ist ein Gesetz, das von fast allen – und Spitzbuben hatten wir vorher auch, versteht mich nicht falsch, und Spitzbuben hat jedes Volk, ja – bis eine Vertrauensgesellschaft und bis ein gegründetes Sitten-, Werte- und Normengefüge entstanden ist, dem wir alle folgen und das wir alle für gut befinden. Das ist keine Aufgabe von einer Generation. Das dauert Generationen, das dauert Jahrhunderte von Jahren. Und wir haben in Deutschland gut und gerne gelebt, weil unsere Vertrauensgesellschaft intakt war […] Die Vertrauensgesellschaft wird zerstört durch die multikulturelle Gesellschaft. Da multikulturelle Gesellschaft ist eine Misstrauensgesellschaft.“[629]

Ein über „Jahrhunderte hinweg“ ausgeprägtes „Werte-, Sitten- und Normengefüge“ als unbedingte Voraussetzung für die Gewährleistung van Sicherheit, wie dies die AfD Thüringen apodiktisch voraussetzt, bedeutet im Umkehrschluss, dass eine Einwanderungsgesellschaft für sich genommen bereits ein elementares und unaufhebbares Sicherheitsrisiko darstellt, mithin von Migrantinnen und Migranten, die naturgemäß nicht Teil eines solchen Jahrhundertelangen Entwicklungsprozesses sein können, unweigerlich eine entsprechende Gefahr ausgeht. Das Beharren der AfD Thüringen auf einer historischen Kontinuitätslinie enthält eine völkische Komponente, denn ihr liegt der angeblich diametrale Gegensatz zwischen Einheimischen und Zugewanderten bzw. zwischen dem Eigenen und dem Fremden zugrunde. Diese Polarisierung impliziert die Exklusion des- oder derjenigen, die eine solche nur „über Generationen“ gewachsene „intakte Rechtsordnung“ oder homogene „Vertrauensgesellschaft“ vermeintlich gefährden‚ also Nicht-Einheimische bzw. Einwanderer. Die multikulturelle Gesellschaft wird als Negativfolie per se mit Misstrauen und Rechtlosigkeit verbunden.

Durch den Gegensatz zwischen multikultureller Gesellschaft einerseits und der gewachsenen Vertrauensgesellschaft andererseits wird zudem deutlich, dass es der AfD Thüringen bei der Kritik am Multikulturalismus[630] nicht um eine Kritik an Integrationspolitik im Sinne eines Zuviels an „Laissez-faire“ bzw. falsch verstandener Toleranz und Rücksichtnahme gegenüber eingewanderten Kulturen geht, sondern dass das Zusammenleben verschiedener Kulturen generell als problematisch angesehen wird.

Die AfD Sachsen spricht in ihrem Wahlprogramm für die Landtagswahl 2019 in ähnlicher Weise davon, dass eine „natürlich gewachsene Heimat“ eine „sichere sächsische und deutsche Identität prägt“.[631]

Die AfD Thüringen unterstellt an anderer Stelle ihres Wahlprogramms 2019 den übrigen Parteien nicht nur, eine multikulturelle und damit für das deutsche Volk schädliche Gesellschaftsform anzustreben, sondern auch die bisherigen sozialen Verhältnisse planvoll umgestalten. So schrieb die AfD Thüringen:

„Die Auswirkungen [Anm: der Migrationspolitik] sind für Thüringen besonders gravierend, weil die in Teilen linksextreme Landesregierung hier günstige Rahmenbedingungen vorfindet, um über eine Veränderung des Staatsvolks ihrer ideologischen Wahnvorstellung einer multikulturellen Gesellschaft näher zu kommen. Die Folgen dieser verfassungsfeindlichen Politik sind in unserem Freistaat bereits jetzt zu beobachten. Ganze Stadtteile sind in den letzten drei Jahren bevölkerungspolitisch gekippt, weil man dort schwerpunktmäßig Hunderte Ausländer in Sozialwohnungen oder Plattenbaugebieten unterbrachte.“[632]

Die vermeintlich planvolle „Veränderung des Staatsvolkes“ wird hier als Vehikel zur Implementierung einer multikulturellen Gesellschaft gesehen. Die Veränderung des Staatsvolkes steht hier als Synonym für den Prozess einer vorsätzlichen, ideologisch motivierten ethnischen Durchmischung der Bevölkerung. Damit knüpft der thüringische AfD-Landesverband an das neurechte Narrativ des Großen Austauschs an, welches die strukturelle Substitution der angestammten Bevölkerungen Europas durch Zuwanderer aus dem afrikanischen, arabischen oder maghrebinischen Raum behauptet. Nach dieser neurechten Verschwörungstheorie treiben westliche Polit- und Wirtschaftseliten den beschriebenen Prozess planvoll voran, um die kulturellen Identitäten der Völker Europas zu erodieren und so eine entwurzelte und entfremdete Bevölkerung zu generieren. Die dadurch geschwächten Individuen sollten dann als wählfähige Masse von Arbeitskräften globalen Kapitalinteressen dienen. Die Neue Rechte sieht dabei den Multikulturalismus als ideologische Grundlage der Eliten, die diesen für das eigene Volk schadhaften Prozess steuern.

1.2 Bundesebene

Anlässlich der Forderung des niedersächsischen Innenministers nach einer Rückführung der in kurdischen Gefängnissen inhaftierten IS-Kämpfer schrieb der AfD-Bundesverband in einem Facebook-Post vom 16. Oktober 2019:

„Hier saßen 12.000 Islamisten hinter Schloss und Riegel, 800 von ihnen konnten lauf Medienberichten entkommen. Ausgerechnet mit diesen – deutsch oder Pass-deutsch – hat der Innenminister Mitleid.“[633]

Für eine breite Empörungswelle innerhalb der AfD sorgte im Juni 2019 vor allem ein Vergewaltigungsfall auf Mallorca, bei dem eine junge deutsche Urlauberin von vier Männern aus Hessen missbraucht worden sein soll. Der Vorfall wurde wiederholt zum Anlass genommen, um eine strikte Unterscheidung zwischen autochthonen Deutschen und vermeintlich nicht-integrierbaren „Pass-Deutschen“ insbesondere türkischer Abstammung zu propagieren.

Vor allem ein entsprechender Facebook-Eintrag der AfD-Bundestagsabgeordneten Alice Weidel erhielt von einer Vielzahl von Mitgliedern und Organisationseinheiten auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände Zuspruch und wurde dementsprechend häufig weiterverbreitet. So teilten diverse Mitglieder und Organisationseinheiten am 7. Juli 2019 den besagten Beitrag Weidels, in dem diese Fotos der Tatverdächtigen veröffentlichte und dazu schrieb:

„Gruppenvergewaltigung auf Mallorca: Das sind keine Deutschen!“[634]

Hierzu weiter:

„Bei den mutmaßlichen Tätern soll es sich um vier Männer aus Hessen handeln, die in den Medien als ‚Deutsche‘ kolportiert werden. Richtigerweise handelt es sich bei den Vergewaltigern jedoch um Passdeutsche bzw. Deutsch-Türken. Warum der Blätterwald dieses Detail weitestgehend verschweigt, ist offensichtlich: Angesichts der zahlreichen sexuellen Übergriffe durch Migranten sucht man händeringend nach deutschen Tätern, im Bemühen, die Statistik nicht zu bunt werden zu lassen. Dabei ist es höchste Zeit, Ross und Reiter endlich beim Namen zu nennen!“

Die in Diskursen der AfD vielfach anzutreffende Unterscheidung zwischen genuin Deutschen und „Pass-Deutschen“ suggeriert ein Deutschsein erster und zweiter Klasse und verkennt bzw. missbilligt die Einheitlichkeit der verfassungsrechtlich zwingend mit gleichen Rechten und Pflichten verbundenen Staatsbürgerschaft. Die häufige Differenzierung zwischen autochthonen und eingebürgerten Deutschen verweist auf den ethnisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff, in dessen Anwendungslogik bei der Vergabe der Staatsbürgerschaft ethnische Kriterien zu berücksichtigen wären. Auch in weiteren Verlautbarungen auf Bundesebene wird zwischen „Passdeutschen“ einerseits und „Urdeutschen“ oder „herkunftsdeutschen Bewohnern“ andererseits unterschieden.“[636][637][638]

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Gottfried Curio äußerte sich auf einer Wahlkampfveranstaltung in Thüringen am 19. September 2019 wie folgt:

„Denn diese Wertevorstellungen, dieses gemeinsame Weltverständnis, das läuft ja über gemeinsame Sprache, Musik, gemeinsame Geschichte, Rechtsempfinden, Literatur. Wir verständigen uns darüber, wie unser Leben zu führen sei. Ausgedrückt, gespiegelt in der Kultur, mit Hilfe von Sitten und Gebräuchen. Wo aber Kultur bewusst Ideologiegetrieben verändert wird, da wird Identität gezielt und absichtsvoll zerstört. […] Und, und an den Schulen. […] Keine Klassiker gelesen, keinen Überblick über deutsche Geschichte. Keine Kenntnis von Bach, Mozart, Beethoven. Sie wissen nicht, warum Pfingsten ein Feiertag ist, was Luther eigentlich wollte. Dafür kennen sie die fünf Säulen des Islam. Humanistische Bildung aber meinte doch, dass die Schule den ganzen Menschen bilden soll. Dass er sich seiner selbst bewusster wird, seiner Herkunft und Sprache, seiner Identität und Geschichte. Aber die Kinder von heute, sie werden zu gesichtslosen Steuerzahlern von morgen herangezüchtet. Und dieser äußere Identitätsverlust durch Migration samt demografischer Veränderung des Staatsvolks, er geht traurigerweise einher mit einem innerlichen Identitätsverlust des Einzelnen.“[639]

Aus den Ausführungen wird das geschlossene Kulturkonzept Curios ersichtlich, wonach Kultur neben einem gemeinsamen Geschichts- und Rechtsempfinden mit einer letztlich ethnisch zu definierenden und über einen langen Zeitraum geprägten kollektiven Identität korrespondieren und ein „gemeinsames Weltverständnis“ ausprägt. Außenstehende, etwa Migrantinnen oder Migranten, haben nicht nur per definitionem erschwerten Zugang zu einer solchermaßen identitär aufgefassten Kultur. Sie werden vielmehr zu Zerstörern der inneren und äußeren Identität erklärt. Dieser allumfassende Identitätsverlust geht Curio zufolge auf einen ideologisch motivieren und vorsätzlich umgesetzten Prozess zurück, der auf die „Herabzüchtigung“ der einzelnen Menschen zu „gesichtslosen Steuerzahlern“ abziele. Dieser biologistischen Wortwahl liegt eine Argumentation zugrunde, die die Wertschätzung des Einzelnen sowohl nach außen wie auch nach innen an eine kollektive Identität knüpft. Insgesamt enthält die Rede Curios die bekannten Merkmale ethnopluralistischen Denkens, nämlich ein ethnisch definiertes Kulturverständnis und das Narrativ eines planvollen, ideologiegetriebenen demographischen Prozesses zur Zerstörung ebendieser Kultur.

In einer weiteren Rede Curios Ende 2019 betont dieser zudem:

„Und wir müssen den Menschen auch sagen, dass der absehbare demografische Wandel, der jetzt dramatisch sichtbar wird, in den Schulen, in den Kitas. Je tiefer sie kommen, desto deutlicher. Das ist nicht nur ein kulturell zivilisatorischer Bruch, der da droht, sondern das kann mittelfristig auch zu einem Kippen der Mehrheitsverhältnisse bei der politischen Willensbildung führen. Und nur die AfD erkennt hier die existenzielle Zukunftsfrage für das Fortbestehen freiheitlich rechtlicher Verhältnisse unserer über Jahrhunderte gewachsenen Kultur.“[640]

In der Konsequenz bedeute dies, dass Zuwanderer niemals vollwertiger Teil der „über Jahrhunderte“ gewachsenen Kultur werden können, sondern diese in ihrer Existenz gar bedrohen. Insofern bestätigen die aufgeführten Aussagen den exkludierenden Charakter des ethnisch zentrierten Kulturbegriffs.

In einem Beitrag für die neurechte Zeitschrift Sezession stellt der Europaabgeordnete Maximilian Krah (MdEP) ebenfalls den Zusammenhang zwischen Ethnie und Kultur heraus:

„Warum aber bedarf es der Rückkoppelung an ein vorrechtliches Phänomen wie der Ethnie? […] Tatsächlich ist der gemeinsame Wille das Maßgebliche, das aus einer Bevölkerung ein Volk macht. Dieser Wille aber braucht Voraussetzungen. Die kulturelle Homogenität – nicht eine totale, sondern eine grundsätzliche – schafft die langfristige Basis für die Ausbildung einer Identifikation mit dem Staat und eines gemeinsamen politischen Willens. Das ist weniger ein Postulat als vielmehr eine empirische Erkenntnis: je heterogener die Bevölkerung, um so geringer die Bereitschaft zu Solidarität und dem Hintanstellen eigener Bedürfnisse zugunsten des Kollektivs. […] Und oft erkennt man gerade im Verlust den Wert; angesichts der dramatischen demographischen Lage sprechen wir vom Bestand und von der Existenz unseres kulturell und – man fürchtet sich fast, es zu sagen: – ethnisch bereits nicht mehr homogenen Volkes.“[641][642]

Krah vermeidet es, die von ihm postulierte, auf einer gemeinsamen ethnischen Basis beruhende kulturelle Homogenität zu verabsolutieren, sieht darin aber dennoch die erforderliche Voraussetzung für einen „gemeinsame[n] Wille[n]“, der maßgeblich für die Charakteristik eines Volks sei. Damit kommt nicht nur ein antipluralistischer Ansatz zum Ausdruck, sondern ein letztlich weitgehend geschlossenes ethnozentriertes Kultur- und Volkskonzept, das zuvorderst auf den „Bestand“ des Volkes als Voraussetzung für kollektive Solidarität abstellt. Da Krah ein „ethnisch bereits nicht mehr homogenes Volk“ als Horrorbild insinuiert („man fürchtet sich fast, es zu sagen“), macht er deutlich, dass nach seiner Vorstellung ein ethnisch homogenes Volk das Idealbild wäre.

Ein weiterer wichtiger Aspekt in der ethnozentrierten Argumentationskette ist die Bezugnahme auf das neurechte Verschwörungsnarrativ des Großen Austauschs.[643]

So polemisierte wiederum der AfD-Bundestagsabgeordnete Gottfried Curio gegen die Migrationspolitik als vermeintlich vorsätzlichen Plan zur Vernichtung des eigenen Volks:

„Denken wir an unser Land, das gehört doch zum Zauber unseres Deutschlands, dass jeder Landstrich hier seine eigene Geschichte, seine eigene Tradition, seinen eigenen Geist hat. Das ist kein Widerspruch zur Einheit unseres Vaterlandes, sondern eine immer neue, bereichernde Entfaltung des einen Deutschlands. Das ist was ganz anderes als die EU-Romantiker und Globalisten, die eine künstliche Vielfalt beschwören, die doch nur eine amorphe, gesichtslose Vermassung ist. […] Denn was damals, was vor 30 Jahren wiedergewonnen wurde, es ist jetzt wieder in Gefahr. Damals wurde wiedergewonnen ein einiger, demokratischer, deutscher Rechtsstaat, unser Nationalstaat, Deutschland. Er muss bewahrt werden. […] Meine Damen und Herren, Kinder sind unsere Zukunft. Was soll denn Deutschlands Zukunft sein? Es sind nicht nur die ungeschützten Grenzen, nein, die Saat der ungesteuerten Migration geht auf im Innern. Die Regierung Merkel weiß es und sie will es. Wir müssen dem Einhalt gebieten. Jetzt. […] Und während dieser Import immer weitergeht, preisen die UN eine sogenannte Ersetzungsmigration, Replacement Migration, als Lösung der demografischen Krise an. Und Merkel setzt das in die Tat um. Man folgt einem Ersatzteilkonzept von Menschen und Völkern. […] Und was uns schmerzen muss, das alles wird überhaupt nicht – diese demografische Entwicklung – als das, was sie ist, angesehen, als nationaler Notstand, nein, nur rein funktional als Fachkräftemangel, schrumpfender Arbeitsmarkt, Unternehmensgewinne könnten zurückgehen. Da holt man sich eben als Ersatz ein paar Pseudofachkräfte aus dem Ausland. Das Volk ist für diese Politiker offenbar nur ein beliebig austauschbares Objekt der Politik.“[644]

Curio unterstellt ein planvolles und vorsätzlich destruktives Vorgehen politischer Verantwortungsträger, insbesondere der Bundeskanzlerin („Merkel weiß es und sie will es“), gegen das eigene Volk. Die verwendeten Negativbegriffe „gesichtslose Vermassung“, „Ersetzungsmigration“ und „Ersatzteilkonzept“ suggerieren, die politischen Eliten intendierten aus Herrschafts- und Gewinnstreben nur die Schaffung eines künstlichen und beliebigen Gebildes, das in völligem Gegensatz zum organisch gewachsenen Volk und dessen „Zauber“, eigener „Tradition“ und eigenem „Geist“ stehe. Dieses dichotomische Denken zwischen vermeintlich artifiziellem Einwanderungsstaat einerseits und natürlichem, romantisiertem und verklärtem Volk andererseits ist nicht nur ein in der rechtsextremistischen Publizistik häufiger Topos, sondern verweist eben auch auf den zugrunde liegenden ethnisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff. Curio komplettiert die Erzählelemente des Großen Austauschs, indem er gegen deutsche Politiker als bereitwillige Erfüllungsgehilfen internationaler Organisationen und „Globalisten“ – in diesem Fall der Vereinten Nationen – und deren volkszerstörerischen Pläne agitiert.

Während Curio im vorausgegangenen Beispiel Alternativbegriffe verwendet, referenzieren andere Vertreter der AfD-Bundesebene explizit den neurechten Terminus „Bevölkerungsaustausch“ und damit den zugrunde liegenden völkischen Denkansatz.

So teilte der AfD-Bundestagsabgeordnete Petr Bystron am 4. Mai 2019 in einem Tweet ein Video des österreichischen Politikers Hans-Christian Strache, in dem dieser die Behauptung eines stattfindenden Bevölkerungsaustausches bekräftigt, und kommentierte dies mit einem „Danke! @HCStracheFP! #Bevölkerungsaustausch“.[645]

Ähnlich äußerten sich die Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann (Sprecher im Kreisverband Fulda (HE))[646], Jörn König (Vorsitzender im Kreisverband Hannover Stadt)[647], Hansjörg Müller (1. stellv. Vorsitzender im AfD-Landesverband Bayern und Vorsitzender im Kreisverband Berchtesgadener Land)[648], Sven Kachelmann[649] und Frank Pasemann[650][651].

Auch der Bundestagsabgeordnete Udo Hemmelgarn geht von einer bewussten Auflösungsstrategie gegen die einheimische deutsche Bevölkerung aus:

„Sie werden sich fragen, warum wird legale und sogar illegale Migration dann bewusst gefördert? Da sind vor allem zwei Zielsetzungen zu nennen. Sinn und Zweck ist die starke Reduzierung der eigenen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung und die Zerstörung des kulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls. Es geht um die Erreichung eines großen Ziels: den Moloch Europa. Dazu passt gut das Zitat von Joschka Fischer aus 2005: ‚Deutschland muss von außen eingehegt und von innen durch Zustrom heterogenisiert werden, quasi verdünnt.‘ […] Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland klarmachen: das ist kein Zufall, diese Masseneinwanderung. Sie ist gewollt. Und wenn wir alle das verstanden haben, wächst der Widerstand, der schon länger hier Lebenden. […] Bei der CDU steht das bereits im Parteiprogramm. Dort heißt es ‚Resettlement‘ beziehungsweise ‚Replacement‘. Wehe, wer es mit dem deutschen Wort ‚Umvolkung‘ bezeichnet.“[652]

Hemmelgarn bezieht sich nicht nur auf die Verschwörungstheorie des Großen Austauschs, sondern assoziiert diesen mit dem aus dem NS-Sprachgebrauch stammenden Begriff „Umvolkung“. Auch wenn er die Verwendung des Terminus ironisiert, deutet er dennoch an, diesen als den treffendsten Begriff für die vermeintlich willentlich betriebene Auflösung Deutschlands anzusehen.

Einen forcierenden Faktor im verschwörungstheoretischen Narrativ des Großen Austauschs stellt neben der vorsätzlichen Volkszerstörung durch die international vernetzten Eliten auch der insbesondere von linker Seite vermeintlich vorangetriebene sogenannte „Ethnomasochismus“ dar. Weite Teile vor allem der westeuropäischen Bevölkerung, so der Vorwurf, seien von kulturmarxistischen Eliten geradezu zum Hass auf das eigene Volk erzogen worden und forderten gewissermaßen die Selbstauflösung. Diesen Aspekt greift wiederrum Curio auf, indem er sprachlich abgemildert von „kultureller Selbstverleugnung“ spricht:

„Aber ein letztes Wort, damit möchte ich schließen, zu Weihnachten. Hierzulande warnen ja Imame in Moscheen ganz offen vor der Gefahr von Weihnachten. Vielleicht war das ein Wink für unsere Integrationsbeauftragte Frau Widmann-Mauz, die vielleicht aus vorauseilender Kultursensibilität in ihrer Jahresendkarte, wir kennen so was als Weihnachtsglückwunschgruß, das Wort Weihnachten ganz bewusst vermied. Und anders als zu Hannuka oder Ramadan, heißt es beim Weihnachtsgruß wörtlich: ‚Egal woran sie glauben‘. Und mit dieser kulturellen Selbstverleugnung toppt sie noch das Werk ihrer Vorgängerin. Das war ja diese Frau Özoguz, die schon gar nicht erkennen wollte, wohin man sich in sich in Deutschland eigentlich integrieren soll. […] Ich frage Sie, was wird aus unserem Land? Wie geht das weiter? Wir wissen ja alle. Früher musste man beim Krippenspiel einen König schwarz anmalen. Demnächst müssen wir wohl zwei Könige weiß anmalen. Armes Deutschland […]“[653]

Curio deutet mit der Formulierung der „kulturellen Selbstverleugnung“ das, Element des „Ethno-“ oder „Nationalmasochismus“ an, das in neurechten Denkmustern die Selbstaufgabe eines Volkes meint. Die politischen Eliten können umso eher die Neuansiedlung kulturfremder und deshalb inkompatibler Migrantinnen und Migranten islamischen Glaubens in Deutschland vorantreiben, als die Bevölkerung in Teilen aufgrund ihrer ethnomasochistischen Ausprägung diesem Austausch entgegenkommt.

Im Konstrukt des Großen Austauschs erscheinen – wie oben bereits dargelegt – sogenannte „Kulturmarxisten“ als willfährige Helfer der ökonomischen und politischen Eliten bei der Zerstörung des Volks. Der „Kulturmarxismus“ verfolgt gemäß der Neuen Rechten in abgewandelter Form des ursprünglichen Marxismus eine eher kulturelle als ökonomische Agenda. Insbesondere die Vertreter der sogenannten 68er seien ihm zuzuordnen und entfalteten ihren ideologischen und politischen Einfluss durch die in Verwaltung, Zivilgesellschaft und Wirtschaft erlangten Positionen. Kulturmarxisten strebten such die Abschaffung der Nationalstaaten und die Etablierung einer „One-World“-Ordnung an, was sie objektiv zu Unterstützern des Großen Austauschs mache.

In einer Rede bei einer Veranstaltung des neurechten Institut für Staatspolitik gab die Co-Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion Alice Weidel (MdB) den „Kulturmarxisten“ und ihrer vermeintlichen Ideologie des „Multikulturalismus“ die Schuld an der angeblichen Zerstörung Deutschlands:

„Der Punkt ist ja: Deutschland wird in seiner Substanz zerstört. Und alle machen mit. Und alle klatschen. […] Grüne Themen bestimmen also die politische Agenda praktisch aller etablierten Parteien in der deutschen politischen Landschaft von der extrem Linken bis zur Merkel-Union, die mit der Bundeskanzlerin zugleich den wichtigsten Vollstrecker grüner Politik stellt. […] Die Schattenseite des gesellschaftlichen Siegeszugs der 68er-Bewegung ist der von ihnen propagierte Kulturmarxismus, der unter dem Schlagwort der Befreiung einer Vielzahl freiheitsfeindlicher Ideologien den Weg vom exotischen Randphänomen in den Mainstream bereitet hat. Die Ideologie des Gender-Mainstreaming und des Multikulturalismus hat hier ebenso ihre Wurzeln […]. Die kulturmarxistische, grüne Ideologie versucht über wechselnde Vehikel, sozialistischen Kollektivismus einzuführen. Multikulturalismus, der die bürgerliche Gesellschaft unterhöhlt, indem er das Staatsvolk fragmentiert.“[654]

Die hier vorgebrachte Kritik am „Multikulturalismus“, die eine Fragmentierung des Staatsvolkes beklagt, lässt jedoch auch eine Auslegung zu, der die Befürwortung eines ethnisch homogenen Staatsvolkverständnisses zugrunde liegt, das gerade durch, die Fragmentierung in Kulturen bedroht sei. Insofern bleibt die Aussage mehrdeutig, auch wenn mit der vorangestellten und plakativen Behauptung der „Zerstörung Deutschlands… Und alle machen mit. Und alle klatschen.“ beim Publikum bewusst an Narrative des Großen Austauschs appelliert wird.

Auch der Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion und Ehrenvorsitzende der Partei Alexander Gauland beschrieb in einem Gastbeitrag der Online-Ausgabe der Zeitschrift Sezession eine internationale Wirtschaftselite, die Migration aus Profitgier und eigenen Machtinteressen fördere und dabei die Zerstörung der ethnokulturellen Struktur eines Volks willentlich in Kauf nehme:

„Und wenn Sie sich die Stellungnahmen mancher Spitzenfunktionäre aus der Wirtschaft von Herrn Kaeser über Herrn Zetsche zur Migrationspolitik erinnern, dann ist das zuvor Gesagte völlig richtig. Denn sie haben überall der Merkelschen Flüchtlingspolitik zugestimmt. Sie haben behauptet, dadurch würden sie Arbeitskräfte bekommen und die brauchten sie und dieser wirtschaftliche Erfolg sei sehr viel wichtiger. […] Die Bindung dieser neuen Elite an ihr jeweiliges Heimatland indes ist schwach. In einer abgehobenen Parallelgesellschaft fühlen sich ihre Angehörigen als Weltbürger. Der Regen, der in ihren Heimatländern fällt, macht sie nicht naß. Sie träumen von der ‚one world‘ und der Weltrepublik. […] Die Allianz aus internationalistischer Linker und internationalen Unternehmen zeigt sich vor allem in der Förderung der Migration und der Aufweichung nationaler Strukturen. Im Gegensatz zur Bankenrettung ist der Nutznießerkreis der neuen Völkerwanderung ungleich größer. […] Da die Völker unwillig sind, den grauen Tod der Diversity zu sterben, haben die Globalisten den Migranten als neues revolutionäres Subjekt entdeckt. Die ganze Panik um den angeblich menschengemachten Klimawandel ist bloß der Begleitlärm, ebenso wie die ständig frisch und eiternd gehaltene Schuld der weißen Männer im allgemeinen und der Deutschen im besonderen. […] Das elementare Bedürfnis eines Volkes besteht darin, sich im Dasein zu erhalten. Das ist im Grunde unser Parteiprogramm in einem Satz. Es geht uns einzig um die Erhaltung unserer Art zu leben. Das zentrale politische Zukunftsthema lautet: Identität. Das ist nicht im Sinne einer ethnischen Reinheit gemeint, die hat es nie gegeben. Völker sind nichts Statisches, sie nehmen Fremdes auf und verändern sich dadurch, und wenn dieser Prozeß der Einverleibung und wechselseitigen Prägung allmählich stattfindet, ist nichts dagegen zu sagen.“[655]

Gaulands Aussagen können einerseits als Appell zum Erhalt einer nationalen Leitkultur und Identität („Es geht uns einzig um die Erhaltung unserer Art zu leben.“) angesehen werden, die verfassungsschutzrechtlich unbeachtlich wären. Andererseits stellt Gauland soziale Veränderungen und nicht zuletzt Zuwanderung in verschwörungstheoretischer Weise und in Anlehnung an das Narrativ des Großen Austauschs als vorsätzlich gesteuerten Prozess einer Elite dar, wobei unterstellt wird, die „Panik um Klimawandel“ und die „eiternd gehaltene Schuld der weißen Männer“ dienten lediglich als „Begleitlärm“ für die Förderung der Migration und der Aufweichung nationaler Strukturen. Überdies deutet die Wortwahl Gaulands – Daseinserhaltung als elementares Bedürfnis eines Volkes‚ „graue[r] Tod“ der Völker – auf ein ethnokulturell homogenes, antipluralistisches und weitgehend ausgrenzendes Volksverständnis hin. Die Feststellung, Identität sei nicht im Sinne einer absoluten ethnischen Reinheit zu verstehen, lässt überdies einen mehrdeutigen Interpretationsspielraum dergestalt zu, wonach das Volk zwar nicht absolut, aber zumindest auch oder überwiegend ethnisch zu verstehen sei. Hierbei ist zu beachten, dass die politische Forderung nach weitgehender Wahrung der Homogenität nicht erst dann verfassungsfeindlich ist, wenn Homogenität in ihrer Absolution gefordert wird.[656]

Zieht man überdies frühere Aussagen Gaulands heran‚ wie etwa aus einer Rede 2018, in denen er ausführte: „Wir leben nicht die Verfassung. Wir lieben unser Volk. […] Identität, Nationales, Kultur kann man nicht verändern. Sie ist uns angeboren und sie ist etwas, was wir alle zum Leben brauchen.“[657], so zeigt sich, dass das Bekenntnis zur wechselseitigen kulturellen Prägung nicht durchweg aufrechterhalten wird.

Auch erfolgt die Anlehnung an das Narrativ des Großen Austauschs nicht einmalig, so sprach Gauland bereits 2018 in einer Rede unter Verweis auf eine „ethnisch-kulturelle Vereinheitlichung“ vom „allmählichen Austausch des deutschen Volkes gegen irgendeine Bevölkerung“ und stellte fest:

„Wer in diesem Land von Umvolkung spricht, ist ein Nazi, es sei denn, er begrüßt sie. Mit jedem Tag, den diese Regierung nicht ausgetauscht wird, arbeitet sie daran, uns auszutauschen.“[568]

2018 hatte Gauland bereits konstatiert:

„Ludwig der 14., der Sonnenkönig, hätte sich nicht getraut, was sie[Merkel] sich traut, dass sie […] ein Volk völlig umkrempelt und viele fremde Menschen uns aufpfropft und uns zwingt, die als eigenes anzuerkennen. Das geht nicht und das geht auch nicht ohne Bundestag. […] Das ist leider auch die Politik vieler gesellschaftlicher Kräfte und der Kirchen und es ist ihre Aufgabe, in den Kirchen dagegen zu wirken, dass dieses Land von der Erde verschwindet und sozusagen nur noch irgendeine uns fremde Bevölkerung hier lebt. Wir sind die Deutschen und wir wollen das bleiben.“[659]

Dass Gauland das Volk, dessen elementares Bedürfnis es sei, sich im „Dasein zu erhalten“, nicht selbstverständlich als Summe aller deutschen Staatsangehörigen begreift, belegen zudem frühere Aussagen, in denen er feststellte:

„Entscheidend ist natürlich auch die Frage: Wie anpassungsbereit ist der Mensch? Ich halte es für richtig, wenn mein Freund Björn Höcke sagt: Indem ich die deutsche Grenze Überschreite und einen deutschen Pass habe, bin ich noch kein Deutscher.“[660]

Damit macht Gauland deutlich, dass er unter den deutschen Staatsangehörigen eine diskriminierende Unterscheidung vornimmt, nämlich zwischen deutschen Staatsangehörigen, die er als „Deutsche“ ansieht, und deutschen Staatsangehörigen, die er nicht als „Deutsche“ akzeptiert. Dieses Verständnis kommt auch in seiner Aussage aus 2016 zum Ausdruck:

„Der Profifußball folgt eben anderen Regeln, und eine deutsche oder eine englische Nationalmannschaft sind eben schon lange nicht mehr deutsch oder englisch im klassischen Sinne.“[661]

Viele AfD-Funktionärinnen und -Funktionäre bewerten die Migrationskrise 2015/2016 zwar als Schlüsselereignis und als Bestätigung des gegenwärtigen Bevölkerungsaustauschs, doch kommt darin letztlich nur ein bereits seit längerer Zeit andauernder gesellschaftlicher Trend zum Ausdruck.

So kommentiert die AfD-Bundestagsabgeordnete Franziska Gminder eine Bildzusammenstellung aus Werbeanzeigen mit jeweils gemischt-ethnischen Paaren bestehend aus einer weißen Frau und einem dunkelhäutigen Mann wie folgt:

„Eine Auswahl von Werbeanzeigen im Westen. Eine Interpretation kann an dieser Stelle nicht geschrieben werden, da wir keine Sperre riskieren wollen. Kann sich jeder mal Gedanken machen, was damit bezweckt werden soll und ob die Ereignisse in Europa und Deutschland seit 2015 so ganz zufällig sind.“

Gminder ergänzte mit den Worten:

„Jeder denke sich seinen Teil.“[662]

Franziska Gminder sieht damit in solchen Werbeanzeigen einen politisch-medialen, ideologisch gesteuerten Vorlauf, der die Bevölkerung mental auf den Bevölkerungsaustausch und die Migrationsbewegungen im Jahr 2015 vorbereiten und manipulativ einen etwaigen Widerstand gegen eine solche Entwicklung von vornherein unterbinden sollte. Sie knüpft damit verschwörungsideologisch an die Erzählung des Großen Austauschs an und deutet durch den Hinweis auf eine mögliche Sperre eine rassistische Interpretation der Werbeanzeigen an.

Einen Beitrag der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) um den zukünftigen Umgang mit Klimaflüchtlingen kommentierte der AfD-Bundestagsabgeordnete Armin-Paulus Hampel wie folgt:

„Warum nennt Claudia Roth das Kind nicht beim Namen? Es geht um ‚Umvolken‘ – um nichts anderes geht es.“[663]

Die Theorie eines vermeintlich gesteuerten Bevölkerungsaustauschs zu Lasten des deutschen Volks ist für Hampel so prägend, dass eine Diskussion über Fluchtursachen als Scheindebatte zurückgewiesen wird, die nur dazu diene, den Umvolkungsprozess als wahres Motiv zu verschleiern.

In ähnlicher Weise werden auch das sogenannte Resettlement-Programm der Vereinten Nationen oder das Humanitäre Aufnahmeprogramm der Bundesregierung, in deren Rahmen Deutschland jährlich ein Kontingent besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge im einstelligen Tausenderbereich aufnimmt, als Fortsetzung eines Großen Austauschs verunglimpft. So bezeichnete der Bundestagsabgeordnete Steffen Kotré (BB) das Programm als „Volksaustausch“ und kommentierte wie folgt:

„Umsiedlung läuft weiter, AfD hakt nach. Meine weitere Anfrage an die Bundesregierung ergab, dass die Migranten, die via Flugzeug ins Land gebracht werden, direkt ins Sozialsystem einwandern. Was viele schon ahnten, ist jetzt bestätigt worden. Wir werden uns im Bundestag weiterhin gegen diese Vorgänge stemmen. Helfen Sie uns dabei und senden Sie uns Hinweise, die uns dabei helfen die Machenschaften der Regierung aufzudecken. #Umsiedlung #Umsiedlungsprogramm #volksaustausch #Bundestag #AfD“[664]

Kotré diffamiert damit eine offen humanitäre Maßnahme als klandestine „Machenschaft“ der Regierung.

Ähnlich äußerte sich der Bundestagsabgeordnete Hansjörg Müller in einem Facebook-Eintrag vom 3. November 2019:

„Zuwanderung wird nur noch aus dem Blickwinkel der Flüchtlinge betrachtet. Schulbücher und Schulaufgaben werden dem von der UN vorgegebenen und vorangetriebenen Bevölkerungsaustausch angepasst und voll und ganz auf Menschen aus dem islamisch geprägten Kulturkreis zugeschnitten.“[665]

Müller suggeriert, dass die Vereinten Nationen als völkerfeindliche Kraft den Bevölkerungsaustausch vorantreiben und sogar letztlich die Islamisierung von Schulbüchern und Schulaufgaben zu verantworten hätten.

Einen Facebook-Eintrag der AfD-Bundespartei veröffentlichten diverse AfD-Kreisverbände am 19. bzw. 20. Oktober 2019 auf ihren Verbandsseiten. Der Beitrag des Bundesverbands thematisierte den Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration, kurz UN-Migrationspakt, welcher am 19. Dezember 2018 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde:

„++ UN-Migrationspakt: Hessen erhält die ersten Umsiedlungswilligen aus Afrika ++ Das Resettlement-Programm, das aus dem UN-Migrationspakt hervorging, nimmt Fahrt auf. In dieser Woche hob der erste Charterflug ab, um 154 Äthiopier ins hessische Kassel zu fliegen. Der Flieger landete dafür in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, anschließend ging es über den Wolken zurück. Ein zweiter Transport ist schon geplant. Dieser soll Mitte November 220 weitere ‚Flüchtlinge‘ transportieren, deren Ansiedlung ebenfalls in Deutschland geplant ist. Die afrikanischen Länder jubeln. Videos, zehntausendfach geklickt, machen die Runde und sorgen für nur noch mehr Zuwanderungswillige direkt in unsere Sozialsysteme! Hier geht es mitnichten um arme ‚Flüchtlinge‘, wie so oft behauptet. Vielmehr sollen die auf dem afrikanischen Kontinent nicht mehr beherrschbaren Populationszuwächse nach Europa, vorwiegend Deutschland, umgesiedelt werden. Der UN-Migrationspakt wurde ohne jede Beteiligung des Bundestages, geschweige denn unter Rückversicherung bei der Bevölkerung, unterzeichnet. Er eröffnet der Neuansiedlung und damit dem Austausch der schon länger hier Lebenden langfristig Tür und Tor. Der große Plan dahinter kann nur zynischer Natur sein, denn unsere Sozialsysteme ächzen schon heute unter der Last.“[666][667]

Die Bezeichnung von Migrationsbewegungen als „Umvolkung“ ist auch durch weitere AfD-Funktionäre auf Bundesebene festzustellen.

So verwendete etwa der Bundestagsabgeordnete Petr Bystron den Begriff „Umvolkung“ zur Beschreibung des angeblich geheim von den Vereinten Nationen gesteuerten Bevölkerungsaustauschs.[668]

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Heiko Hessenkemper wiederum äußerte:

„Das Umvolkungsprogramm läuft. Oder sollte man besser ‚Austausch-Migration im Sinne der UN‘ sagen?“[669]

Auch in weiteren Stellungnahmen greift Hessenkemper auf diese Wortwahl zurück.[670][671]

Der euphemistische Begriff der „Umvolkung“ stand für die gewaltsame Germanisierung der eroberten osteuropäischen Gebiete durch das NS-Regime, also die Deportation und Vertreibung angestammter Bevölkerungsgruppen und die Neubesiedelung durch Deutsche zur Gewinnung von Lebensraum. Der Rekurs auf diesen Begriff zur Beschreibung eines vermeintlich von einer „globalistischen“ Elite gesteuerten Bevölkerungsaustauschs verharmlost die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und diskreditiert konkrete Hilfsprogramme, die aus Gründen humanitärer Hilfe eine Umsiedlung Geflüchteter vorsehen.

Teilweise wird auf die historische Bedeutung des Begriffs auch explizit Bezug genommen. So äußerte sich erneut Heiko Hessenkemper in einer Grußbotschaft an die AfD Würzburg wie folgt:

„Beginnen wir mal mit dem Kernthema, das diese politisch-medialen Klassen offensichtlich umtreibt. Das Thema Umvolkung. Oh, so ein böses Wort, vom Verfassungsschutz auch überprüft. Es ist natürlich auch ein widerliches Verbrechen aus der Nazizeit, das aber genauso ein Verbrechen heutzutage ist. Der Artikel 6 der Menschenrechtskonvention und Menschenrechtserklärung von 1998 sagt, dass jede Art von Umvolkung ein Verbrechen gegen die Menschenrechte ist und eigentlich ein UN-Tribunal nach sich ziehen müsste.“[672]

Als weiteres Synonym für den Großen Austausch wird von einigen Funktionsträgern der Partei auch die Formulierung „Große Transformation“ genutzt, wie etwa vom Bundestagsabgeordneten Karsten Hilse, der ebenfalls in den Flüchtlingsbewegungen nach Europa eine gezielte Umsiedlung zur Zerstörung der hiesigen Kulturen erkennen will:

„Und diese Dystopie [Anm.: gemeint sind die Folgen der Migrationsbewegung nach 2015] zeigt sich nicht nur an der Zunahme von Gewaltverbrechen. Sie zeigt sich auch in der Flutung Deutschlands mit Migranten aus anderen, unserer Kultur zum größten Teil inkompatiblen Kulturkreisen. Es geht hier nicht um die Aufnahme von Flüchtlingen oder politisch Verfolgten. Es wird hier ganz klar die Umsiedlung von Millionen von Menschen nach Europa und vor allen Dingen nach Deutschland betrieben. […] Ja, wir haben eine Verpflichtung zu moralischem Handeln. Das gebietet uns unsere humanitäre, humanistische Erziehung und unsere humanistische Weltanschauung. Aber wir haben keine Verpflichtung zur Selbstaufgabe. Wir haben keine Verpflichtung, der Zerstörung unseres Vaterlandes durch Ausplünderung mittels Euro, der Zerstörung unserer wirtschaftlichen Grundlagen durch die Energiewende und der Auslöschung unserer Kultur und unseres Volkes tatenlos zuzusehen. Aber, aber genau das, genau das erwartet man von den Deutschen. Sie sollen tatenlos die sogenannte Große Transformation – einigen, die sich vielleicht mit chinesischer Geschichte auskennen: da gab es den Großen Sprung, jetzt gibt es die große Transformation – wir sollen dieser Großen Transformation also tatenlos zusehen.“[673]

Auch hier wird das rechtsextremistische Narrativ des Großen Austauschs referenziert, indem Migration als Instrument zur „Auslöschung“ der ethnischen und kulturellen Homogenität Deutschlands dargestellt wird.

In ähnlicher Weise polemisiert die Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst gegen den Prozess einer vermeintlichen Auswechslung der Bevölkerung:

„Unsere Regierung betreibt am liebsten und unter großem Getöse Prestigeobjekte wie Klima- und Weltrettung und möchte wohl am liebsten ganz Afrika zu uns evakuieren. Vermutlich soll dieser größenwahnsinnige Großmut vom eigentlichen kleingeistigen Politikversagen ablenken. Ich sage nur: Berliner Flughafen, die Rente ist sicher, Weihnachtsmärkte und Freibad Gäste schützen… Und unter dem Radar des gut meinenden Schlafmichels läuft die Islamisierung Deutschlands durch Zuzug und Entwicklung der politisch gewollten neuen Bevölkerung.“[674]

Für den angeblich vorsätzlich initiierten Zersetzungsprozess zu Lasten der ethnokulturellen Homogenität Deutschlands prognostiziert der Beisitzer im AfD-Bundesvorstand Stephan Protschka (MdB) ein Schreckensszenario, das ultimativ auf den Tod der einheimischen Bevölkerung hinauslaufe, womit der Abgeordnete unverkennbar an den rechtsextremistischen Topos vom „Volkstod“ anknüpft:

„Die [Anm.: gemeint sind einreisende Migranten] kommen nur nicht mehr direkt in Bayern an, sondern die kommen direkt in den Bus, die kommen direkt in den Zug und werden deutschlandweit verteilt. Und sie werden euch auch vor der Haustür gefahren, meine Damen und Herren. Und wenn ihr nicht beginnt, am 1. September die Wende herbeizuführen, dann haben wir bald kein Deutschland mehr. Dann haben wir bald keine Einwohner mehr. Dann sind wir tot, meine Damen und Herren.“[675]

Protschkas zwar nicht explizite, aber sinngemäße Bezugnahme auf das rechtsextremistische Stereotyp vom bevorstehenden „Volkstod“ ist gleichsam eine völkisch-paranoide Steigerung der neurechten Dystopie vom Großen Austausch.

Aus den Bedrohungsszenarien einer die einheimische Bevölkerung flutenden und volkszersetzenden Migration leiten AfD-Politiker als Gegenmittel das Recht ab, sich aktiv zu vereidigen. So schrieb etwa der Geschäftsführer der AfD-Bundestagsfraktion Bernd Baumann (MdB) auf Twitter unter ein Bild von eingereisten minderjährigen Flüchtlingen:

„Es ist nie zu spät, Europa zu verteidigen!“[676]

Ferner häufen sich in den Beiträgen auf der Bundesebene Wendungen, die eine Eliminierung des deutschen Volkes im Sinne des bekannten Narrativs unterstellen. So teilte der AfD-Kreisverband Weserbergland (NI) am 4. Mai 2020 einen Facebook-Beitrag der AfD-Fraktion im Europäischen Parlament mit dem Titel „Afrikanisierung Europas zerstört Wohlstand!“. Darunter wurde von einer „Zerstörung der abendländischen Kultur und des Erbes unserer Geschichte“ gesprochen, die unter anderem durch die planvolle Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik der Bundesregierung erfolge:

„Mehr oder minder versteckte Zusammenarbeit mit skrupellosen Schlepperbanden, Migranten-Direktflüge aus Afrika nach Westeuropa oder die Umsiedlung von Flüchtlingskindern unter dem Vorwand von Mitmenschlichkeit, Toleranz und Barmherzigkeit finden täglich statt. […] Maßgebliche Kräfte, wie beispielsweise die Bundesregierung […] und andere überwiegend linke Kräfte, verstärken diese Tendenz. […] Nur die AfD setzt sich für die Menschen in Deutschland ein und hält dagegen. Konkret geht es bei diesem Vorgängen um die Zerstörung der abendländischen Kultur und des Erbes unserer Geschichte.“[677]

1.3 Landesebene

Der frühere nordrhein-westfälische Co-Landesvorsitzende Thomas Röckemann (MdL, NW) forderte in einer EU-Wahlkampfrede am 17. Mai 2019 in Gütersloh, die „Kulturnationen“ Europas gegen die massive Einwanderung zu vereidigen:

„Reden wir einmal über Grenzen und reden wir über das totale Versagen der alten Parteien, die gewaltiges Unheil über unser deutsches Volk, über unsere deutsche Nation und über die Völker Europas gebracht haben. […] Europas Grenzen werden spätestens seit 2015 von einer riesigen Menschenwelle überflutet. […] Europa ist die Vielfalt all seiner Kulturnationen. Wir sind angetreten, um sie zu verteidigen. Unsere Parole ist: Freiheit und Vaterland. Holen wir uns Europa zurück. Und noch besser, holen wir uns unser Deutschland zurück.[678]

Die apodiktische Forderung „holen wir uns unser Deutschland zurück“ impliziert nicht nur die konsequente Zurückdrängung von Migration, sondern auch Ansätze eines ethnopluralistischen, die gegenseitige Vermischung ausschließenden Kulturkonzepts.

Der Landtagsabgeordnete (BW) und Sprecher im Kreisverband Rottweil-Tuttlingen, Emil Sänze, sprach sich ebenfalls für eine homogene Gesellschaftskonzeption aus. Die ethnische Volkszugehörigkeit sollte Sänze zufolge maßgebliche Richtschnur jeden politischen Handelns sein:

„Haltung für die Zukunft der eigenen Identitätsgemeinschaft zeigt keiner, wenn es um den eigenen kurzfristigen Vorteil geht – und die Handlungsfolgen interessieren offenbar erst recht niemand mehr. Sollte jemand sich Gedanken machen, was bei aller Effizienz die unheimliche sittliche Inhaltsleere und Anpassungsfähigkeit der deutschen Kultur ausmacht – im Werbeverhalten der Discounterprospekte, der Telekommunikationsfirmen, der Deutschen Bahn kann er fündig werden: Einheimische Rentnerpaare, aber hübsche blonde Frauen im Fortpflanzungsalter, vitaler exotischer Mann, gemischtes Kind. […] Man macht sich hier mit Absicht blind und tut so, als ob Volkszugehörigkeit oder Religion eines Menschen in einer bis zur Dekadenz libertären, materialistischen Gesellschaft ohne jeden Belang seien – ohne Belang eben, wenn er nicht zufällig ein verhasster Deutscher ist. Diese Haltung ist falsch, denn sie macht aus ideologischem Wollen heraus den Staat blind und wertlos, zumal sie jede reale Bedrohung als vermeintlich unmöglich ignoriert. […] Das Problem der offiziellen Gleichmacherei in Deutschland besteht darin, dass der reale Verlust der Vertrauenskultur ignoriert wird, die nun einmal unter Menschen, die einander kulturell ähnlich sind, eher entsteht. […] Ebenso war der gesellschaftliche Grund-Zusammenhalt intuitiv vorhanden, da die Gesellschaft überwiegend homogen war. Wir müssen ehrlich sein. Die Handhaben für die Erosion unseres durch gemeinsame Volkszugehörigkeit sozusagen zwanglos-harmonisch geprägten Zusammenlebens, das heute durch immer bizarrere Strafgesetze erzwungen werden soll, haben wir Deutschen selbst geschaffen bzw. zugelassen.“[679]

Sänzes ideologische Grundannahmen und Wortwahl bringen in mehrfacher Hinsicht Anhaltspunkte für völkische, im Widerspruch zur Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes stehende Positionen zum Ausdruck. Der von ihm beschworenen „eigenen Identitätsgemeinschaft“ liegt eine ethnische Komponente zugrunde, weshalb diese Bezeichnung nicht zufällig an den NS-belasteten Begriff der Volksgemeinschaft anknüpft, der scharf und kompromisslos zwischen Teilhabern und Nicht-Teilhabern einer solchen Lebensgemeinschaft trennte. Wie bedeutsam die strikt ethnische und damit das Fremde exkludierende Komponente in Sänzes Denken ist, wird an seiner heftigen Kritik an Werbestrategien mit gemischt-ethnischen Paaren als angeblich vorbildhaftem Lebensmodell ersichtlich. Die Übernahme einer ethnisch indifferenten Haltung führt Sänze zufolge zwingend zu einem „Verlust der Vertrauenskultur“ oder einer Erosion des „zwanglos-harmonisch geprägten Zusammenlebens“. Dies impliziert, dass für den Landtagsabgeordneten Sänze Vertrauen und ein friedliches Zusammenleben nur in einer ethnisch homogenen Gemeinschaft leb- und erfahrbar ist.

Auch andere Politiker auf Landesebene der AfD nehmen eine an ethnischen Kriterien ausgerichtete Einteilung deutscher Staatsbürger in einheimische Deutsche und eingebürgerte Deutsche mit Migrationshintergrund vor. So kommentierte etwa die AfD-Fraktion im Landtag Sachsen-Anhalt in einem Facebook-Eintrag die Kriminalstatistik wie folgt:

„In der Statistik des Landes ist jedoch nicht genau wiedergegeben, wann es sich um so genannte ‚Passdeutsche‘ handelt. Deshalb ist eine weitaus höhere Dunkelziffer durchaus zu vermuten.“[680]

Die pejorative Bezeichnung „Passdeutsche“ suggeriert, dass deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund nicht zum deutschen Volk gehörten und es sich bei ihnen nicht um wirkliche Deutsche handle, die deshalb klar – etwa im Hinblick auf ihr Deliktverhalten – von einheimischen Deutschen zu unterscheiden seien.

Auch Christina Baum (MdL, BW) differenzierte explizit anhand ethnischer Kriterien, indem sie auf Facebook schrieb:

„Ich bin der Lobbyist der ‚Biodeutschen‘! Liebe Bürger, ich stelle immer deutlicher fest, dass die autochthonen Deutschen, dass hellhäutige, hier seit Jahrhunderten ansässige Volk, fast keine Interessenvertreter mehr hat. Jede noch so unbedeutende Minderheit hat ihre Lobbyisten, nur die ethnische deutsche (Noch-)Mehrheit nicht. Deshalb bekenne ich mich offen: Ich bin Euer Lobbyist!“[681]

Das von Baum herausgestellte Merkmal „hellhäutig“ deutet einen biologistisch-rassistischen Grundansatz an. Auf Grundlage eines ethnokulturell-antipluralistischen Gesellschafts- und Identitätsbildes geht Baum von einheitlichen Interessen der einheimischen Deutschen aus, die es gegen die natürlicherweise davon abweichenden Interessen von Bevölkerungsgruppen anderer ethnischer Herkunft durchzusetzen gelte.

Der führende „Flügel“-Protagonist Björn Höcke (MdL, TH) teilte in einem Facebook-Eintrag vom 7. Mai 2020 einen Videobeitrag, in dem er sich im Gespräch mit dem AfD-Bundestagsabgeordneten Jens Kestner und dem AfD-Fraktionsvorsitzenden im Landtag Sachsen-Anhalt Oliver Kirchner zur Corona-Krise äußerte:

„Nein, es geht nicht um die Bevölkerung. Es geht um das deutsche Volk, das hier zu Hause ist und das auch in Zukunft er zu Hause sein sollte. Für das kämpfen wir. Und für das setzen wir uns ein als gute Patrioten und Demokraten. Und wollen eine gute Politik nicht nur für die Bevölkerung machen, für die auch, aber vor allen Dingen mal für unser deutsches Volk. Weil das ist in den letzten Jahrzehnten wesentlich zu kurz gekommen. […] Also ich wünsche mir für unser deutsches Volk, dass man die Krise, die mit schlimmen Folgen unser Leben verändern wird. Es hat ja erst gerade begonnen, dass man sie auch als Chance erkennt. Ich wünsche mir, dass wir die Ich-Gesellschaft überwinden und wieder mehr vom wir sprechen. Ich wünsche mir eine neue Solidarität, und ich wünsche mir die Erkenntnis bei immer mehr Deutschen, dass nur die Nation im gegenwärtigen Stadium der Weltgeschichte der Ort ist, an dem Demokratie und Solidarität wirklich gelebt werden können und dass wir eine falsch angelegte Globalisierung zurückabwickeln müssen. Und das wir ja sagen zu einer Renaissance der Nation als Ort, in der wir eine Heimat haben und die wir gemeinsam fortentwickeln.“[682]

Gerade in Zusammenschau mit Aussagen Höckes aus seinem Buch „Nie zweimal in denselben Fluß“, dass die Politik vor allem der autochthonen Bevölkerung verpflichtet sei,[683] wird deutlich, dass Höcke unter dem „deutschen Volk, das hier zu Hause ist“, vor allem die ethnisch-abstammungsmäßigen Deutschen versteht. Höcke wiederholt damit seine bereits in anderen Kontexten geäußerte These, wonach wahre Solidarität und Demokratie nur in der Nation verstanden als ethnisch-homogene und heimatverbundene Gemeinschaft zu realisieren sei.

Der AfD-Landesverband Nordrhein-Westfalen beklagte in einer Publikation den „wesens- und kulturfremde[n] Zuzug“ von Einwanderern, die Europa eroberten.[684] Die brandenburgische Landtagsabgeordnete Lena Duggen und der Sprecher des Landesverbandes Mecklenburg-Vorpommern Hagen Brauer äußerten sich ähnlich.[685][686][687]

Die abwertende Darstellung von Migranten als wild-, wesens- und kulturfremd in Bezug auf einheimische Deutsche bringt eine Distanz zum Ausdruck, womit die Geschlossenheit der eigenen ethnokulturellen Identität, die es zu schützen gelte, unterstrichen werden soll. Die Steigerung einer grundsätzlich verfassungsschutzrechtlich nicht relevanten „Kulturfremdheit“ zur „Wesensfremdheit“ deutet auf eine angenommene naturgegebene Inkompatibilität von Zuwanderern mit der deutschen Kultur hin.

Am 25. Dezember 2019 teilte der AfD-Kreisverband Rostock (MV) einen mit „Weihnachten ist Widerstand!“ überschriebenen Facebook-Beitrag von Hans-Thomas Tillschneider (MdL, SN). Tillschneider kritisierte in diesem Post zunächst, dass die höchsten Kirchenrepräsentanten Weihnachten zu politischen Zwecken instrumentalisierten. So habe Kardinal Reinhard Marx die Weihnachtsbotschaft 2019 darauf beschränkt, pauschal von einer „Menschheitsfamilie“ und von der Heiligen Familie als „Asylsuchende“ zu sprechen. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, wiederum habe Weihnachten in unzulässiger Weise mit der Anregung verbunden, unbegleitete minderjährige Migrationswillige aufzunehmen. Für Tillschneider selbst aber steht bei Weihnachten keine „Menschheitsfamilie“ im Vordergrund, sondern das Feiern des Fests nach dem jeweiligen national bzw. ethnokulturell geprägten Brauchtum:

„Mit Weihnachten hat all das gar nichts zu tun. Ja, die Christenheit bildet eine große Familie, aber diese Familie ist nach Völkern gegliedert, und die Mitglieder dieser christlichen Völkerfamilie unterscheiden sich seit jeher dadurch, wie sie Weihnachten feiern. […] Gerade in den Ritualen des Weihnachtsfestes zeigt sich der Nationalcharakter. An Weihnachten feiern wir nicht ein beliebiges Fest, so wie wir auch nicht mit jedem Beliebigen feiern. An Weihnachten treffen wir uns im Kreis der Familie, im Kreis derer, die uns am nächsten stehen, besinnen uns auf unsere Wurzeln, gedenken der Ahnen und pflegen das uralte Brauchtum. Weihnachten bedeutet so vor allem eines: Identität und Verwurzelung. Weihnachten ist der Gegensatz zur Entwurzelung, zur Beschleunigung und zur Mobilmachung einer ganzen Welt. Indem wir unsere deutsche Weihnacht feiern, leisten wir Widerstand gegen die one-world-Ideologie, wie sie die Kirchen propagieren […].“[688]

Tillschneider deutet das Weihnachtsfest in einem ethnopluralistischen Sinne. Eine solche Sichtweise ist für sich genommen nicht verfassungsschutzrelevant, doch kommt in den Ausführungen des AfD-Politikers zum Ausdruck, wie prägend dessen völkisches Denken auch für die Auslegung von Sachverhalten außerhalb des unmittelbar Politischen ist. Die Nationalisierung bzw. Ethnisierung des Weihnachtsfests kommt durch die Verwendung des Begriffs „deutsche Weihnacht“ und die Aufforderung zum Ausdruck, das Fest zuallererst zum Gedenken an die „Ahnen“ und Pflegen des „uralte[e] Brauchtum[s]“ zu nutzen und sich seiner Identität und Verwurzelung zu vergewissern. Dieses völkische Deutungsmuster stellt er wiederum der vermeintlichen „One World“-Strategie der offiziellen Kirchenleitungen entgegen.

Äußerungen Björn Höckes bei einem „Bürgerdialog“ zur Sozialpolitik zeigen, wie sehr der thüringische AfD-Landesvorsitzende und führende „Flügel“-Protagonist auch dieses Politikfeld in einen völkischen Deutungskontext stellt:

„Zu den ausufernden Sozialleistungen, die den Staat zur bloßen Melkkuh degradierten, kam noch die vorsätzlich betriebene Auflösung der bislang relativ exklusiven Solidargemeinschaft, um die Segnung des Sozialstaates, des deutschen Sozialstaates für die ganze Welt zu öffnen. Das war der direkte Weg in den Abgrund. […] Die Basis jeder vernünftigen Sozialpolitik sind folgende Punkte. […] Die Eingrenzung eines bestimmen Verantwortungsraums und einer definierten Solidargemeinschaft, was gleichzeitig den berechtigten Ausschluss externer Zugriffe bedeutet. Weiterhin die hohe Eigenverantwortung der Einzelnen und deren Selbstdisziplin. Und, hier schwingt ein wenig Preußen mit, nicht ganz ungewollt, Leistungen der Gemeinschaft nur im wirklichen Bedarfsfall in Anspruch zu nehmen. Aus dem ersten ergibt sich die Notwendigkeit des souveränen Nationalstaates. […] Mit einer fragmentierten, multikulturellen Gesellschaft unter globalkapitalistischen Wirtschaftsverhältnissen ist das nicht zu schaffen. Liebe Freude, die ursprüngliche Idee des Sozialstaates als konkreter nationaler Solidargemeinschaft ist im Zuge der totalen Vergesellschaftung und der Multikulturalisierung zu einem ruppigen Verteilungskampf der Einzelinteressen um die sozialen Ressourcen verkommen. Der Sozialstaat fungiert in diesem Spiel nur noch als Melkkuh und als Reparaturbetrieb für die Kollateralschäden eines entfesselten Raubtierkapitalismus. Das bedeutet, wenn wir den Sozialstaat retten wollen, müssen wir uns wieder zur Nation und zur Gemeinschaft entwickeln und eine wirkliche Volkswirtschaft aufbauen.“[689]

Die Forderung nach einer Stärkung des Nationalstaates zur Erhaltung der Sozialsysteme wird bei Höcke kombiniert mit der Forderung nach einer Rückkehr zur Solidargemeinschaft. Da diese Solidargemeinschaft in Höckes Verständnis nur innerhalb einer ethnokulturell homogenen Gesellschaft umsetzbar ist, lassen sich der Positionierung Anhaltspunkte für eine Sozialpolitik entnehmen, die nach ethnischen Kriterien differenziert und damit dem Diskriminierungsverbot und der Menschenwürde entgegensteht.

Auch der bereits auf Bundesebene beschriebene Rekurs auf den Verschwörungsmythos vom Großen Austausch findet sich – sprachlich variiert – regelmäßig bei AfD-Politikern auf Landesebene. So schreibt der thüringische AfD-Landessprecher Stefan Möller (MdL, TH):

„Wir sind die einzige Opposition, die den Fokus ihrer Politik nach wie vor grundsätzlich daran ausrichtet, was dem eigenen Volk nützt. Das ist natürlich ein offener Affront für eine Regierung, die an einer Auflösung des Nationalstaats interessiert ist und in deren Reihen haufenweise regelrechte Deutschlandhasser mitbestimmen. Diese Fanatiker wollen durch die massive Förderung einer schon quantitativ nicht integrierbaren Zuwanderung das Volk in seinem Bestand völlig verändern. Mal wird das ganz unumwunden zugegeben (z. B. wenn Ostdeutschland für ‚zu weiß‘ erklärt wird), um es dann an anderer Stelle wieder als Verschwörungstheorie darzustellen.“[690]

Möllers Behauptung, das deutsche Volk solle gezielt in „seinem Bestand“ durch Migration völlig verändert und der Nationalstaat aufgelöst werden, knüpft an den Großen Austausch an.

Patrick Pana, stellvertretender JA-Landesvorsitzender, stellte in einem Beitrag die Leistungen des mit einer Auflösungsaufforderung konfrontierten „Flügel“ heraus. Indem er insbesondere das Verdienst betonte, den für „immer mehr Bürger deutlich sicht- und fühlbare(n) Bevölkerungsaustausch“ kommuniziert zu haben. Der „Flügel“ zeichne sich, so Pana, durch drei elementare Kernpunkte aus:

„1.) Das notwendige Verständnis, dass eine wirkliche politische Wende nicht (nur) im Parlament, sondern im sozialen und kulturellen Raum und somit erst einmal in den Köpfen der Bürger stattfinden muss. Folglich ist es von fundamentaler Bedeutung, den vorpolitischen Raum zu ‚erobern‘, sprich die Einbindung metapolitischer Elemente in den täglichen Parteienbetrieb. Die freundschaftliche Kooperation, bei gleichzeitiger Autonomie mit außerparlamentarischen Initiativen, seien es aktivistische, publizistische, popkulturelle, theoriebildende oder sonstige Organisationen, ist unerlässlich. […] Die AfD muss Bewegungspartei werden.

2.) Das Verständnis, dass eine ‚echte Alternative‘ die großen Herausforderungen unseres Jahrhunderts nicht mit denselben transatlantischen, neoliberalen und nichtssagenden Phrasen der Altparteien beantworten wird können. Ein solidarischer Patriotismus, ein gesellschaft- und wirtschaftlicher Identitätsansatz, der der zersetzenden Politik der Etablieren diametral entgegensteht. Ein nahezu revolutionärer Ansatz, denn Heimat und Volk werden nicht als Marktplatz und Humankapital, sondern als eine metaphysische, die reine ökonomische Vernunftslogik übersteigende gemeinschaftliche Verantwortung, für sich, für Vor- und Nachfahren, verstanden.

3.) Die existenziellen Fragen Europas und der gesamten westlichen Welt, vor die uns das 21. Jahrhundert gestellt hat, müssten mittels einer klaren Sprache und direkten Aussagen kommuniziert werden, jedoch ohne chauvinistische Zusätze und dem entsprechenden situationsbedingtem Fingerspitzengefühl, welches in der Politik immer notwendig ist. Sei es der für immer mehr Bürger deutlich sicht- und fühlbare Bevölkerungsaustausch, die sozialen Verwerfungen oder auch die ökologischen Katastrophen; die Zeit der Kaffeekränzchen ist vorbei. Die Bewusstseinswerdung des Volkes für die alles entscheidenden Fragen muss forciert werden.“[691]

Des Weiteren postete Patrick Pana bei Twitter eine Ablichtung einer Seite des Kapitels „Revoltiert“ des Buchs „Revolte gegen den Großen Austausch‘ von Renaud Camus. Mit seinem Bildkommentar „Revoltiert! #ltwbb #ltwsn19“ empfiehlt er den Text, dessen Autor namensgebend für die verschwörungstheoretische und völkische Propaganda vom Großen Austausch ist.[692]

Der Rekurs auf den Begriff des Großen Austauschs wird auch von diversen anderen AfD-Funktionären der Landesebene wörtlich oder in leichten Abwandlungen benutzt.[693][694][695][696]

Björn Höcke etwa sprach von der „großen Transformation“[697] und der sächsische Landtagsabgeordnete und Beisitzer im AfD-Landesverband Sachsen Sebastian Wippel verwendete den Begriff „Ersetzungsmigration“.[698]

Wie oben bereits für die Akteure der Bundesebene aufgezeigt, wird auch auf Landesebene der aus dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch stammende Begriff „Umvolkung“ als Synonym für den Großen Austausch genutzt.

Ronald Gläser (MdA, BE) kommentierte auf Facebook einen Artikel des FOCUS folgendermaßen:

„Die Obrigkeit will gezielt Migranten aus anderen Erdteilen hier auf dem Land ansiedeln, um die stehende einheimische Bevölkerung zu ersetzen? Warum wenden eigentlich Leute beschimpft, wenn sie den Begriff ‚Umvolkung‘ verwenden?“[699]

Auch der Landesverband Schleswig-Holstein[700] und der Landtagsabgeordnete und Vorsitzende im Kreisverband Germersheim, Matthias Joa (RP)[701], teilten zustimmend Artikel, die den Begriff „Umvolkung“ verwenden.

Das baden-württembergische AfD-Landesvorstandsmitglied Karl Schwarz bediente sich zudem eines Tiervergleichs. Er veröffentlichte auf Facebook ein Bild mit der Aufschrift „Eine Taube die in einen Schweinestall fliegt wird noch lange kein Pferd“ und kommentierte dies wie folgt:

„Wie wird eine Taube zum Pferd? Ach ja stimmt, durch einen gesunden Tieraustausch.“[702]

Ungeachtet der variablen Wortwahl oder entsprechender Vergleiche soll aber ein einheitlicher Vorgang, nämlich der vermeintliche gesteuerte Prozess einer Volksvermischung bzw. -zersetzung beschrieben werden.

Der Landtagsabgeordnete Hans Peter Stauch (BW) griff unter Verweis auf die drohende „Volksvermischung“ auf eine besonders deutliche und offen rassistische Wortwahl zurück:

„Der große Volksaustausch kommt. Verstärkt strömt fremdes Blut und fremde Kultur im Rahmen der unkontrollierten Massenmigration über viele Länder hinweg, aber auch durch junge Studenten nach Europa – Hauptziel Deutschland. Multikulturelle Volksvermischung. Der hellbraune, afroasiatischmitteleuropäische Menschentyp ist das Wunschbild und soll mit der Durchmischung geschaffen werden. Menschen, die mit niederem bis mittlerem IQ sollen vermutlich als eine willige Arbeiterkaste zur Verfügung stehen.“[703]

Während im ethnopluralistischen Diskurs codiert von ethnokultureller Identität die Rede ist, verweist Stauchs Begriffspaar „fremdes Blut und fremde Kultur“ auf die völkisch-biologistische Substanz, die dem Denken in identitär-homogenen Kategorien zugrunde liegt. Mit der Beschreibung der angeblich durch die Migration und „Volksvermischung“ beabsichtigten Schaffung eines neuen Menschentyps minderer Intelligenz, um die Verfügbarkeit williger Arbeitskräfte zu erhöhen, verfällt Stauch in einen offenen verschwörungsideologisch motivierten Rassismus.

Als ideologisches Motiv hinter dem Großen Austausch wird überdies mitunter das Elitenprojekt einer „One-World“-Ordnung, basierend auf einem universalistischen und antinationalen Denken, vermutet.

In seiner Rede auf der PEGIDA-Demonstration am 17. Februar 2020 stellte Björn Höcke den Zusammenhang zwischen der sogenannten „One-World“-Ideologie transnationaler Eliten und dem vermeintlichen Ausverkauf deutscher Interessen her.

„Die große Transformation, liebe Freunde. Das ist der große Umbau. Der große Umbau, also die Überwindung der traditionellen Industrie in Deutschland, die Überwindung der Völker und die Überwindung der Kulturen. Und auch ein Friedrich Merz, das muss ich noch mal betonen, der ja als einer ihrer Nachfolger gehandelt wird, hat mit deutschen Interessen nichts am Hut. Das sei gerade denen noch mal mitgegeben, die als Konservative Hoffnung in diesen Mann setzen. Diese Hoffnungen sind nicht berechtigt. […] Er hat bei BlackRock, der größten Schattenbank der Welt, sein Millionenvermögen gemacht und zwar als Ausverkäufer Deutschlands. Mittlerweile ist BlackRock der größte Einzelaktionär bei elf von 30 Dax-Konzernen. Merz ist wie Merkel Teil einer geschlossenen transatlantischen Polit-Elite, die die Völker und Kulturen im Rahmen ihrer One-World-Ideologie ins Visier nimmt. […] Das sind und werden niemals Freunde eines deutschen Volkes und einer deutschen Nation sein, liebe Freunde, das dürfen wir nicht glauben.“[704]

Die verschwörungstheoretischen Merkmale vom Großen Austausch – Synonym mit Begriffen wie „große Transformation“ oder „große[r] Umbau“ umschrieben – bringt Höcke in seiner PEGIDA-Rede ein weiteres Mal zum Ausdruck. Es gehe einer „geschlossenen tansatlantischen Polit-Elite“, als deren Teil er sowohl Bundeskanzlerin Merkel als auch ihren möglichen Nachfolger als Parteivorsitzenden Friedrich Merz sieht, zur Etablierung einer One-World-Ordnung um die Zerstörung von gewachsenen Völkern, traditionellen Industrien und identitären Kulturen.

Unter den volksfeindlichen transnationalen Eliten wiederum wird dem jüdischen US-Investor George Soros, der mit seinen Stiftungen in verschiedenen Ländern für eine offene und pluralistische Gesellschaft eintritt eine zentrale Rolle als Förderer des Großen Austauschs beigemessen.

So positionierte sich der stellvertretende Landesvorsitzende der AfD in Brandenburg, Daniel Freiherr von Lützow (MdL, BB), in diesem Sinne, indem er bei Facebook einen COMPACT-Artikel mit dem Titel „George Soros und sein 7-Punkte-Plan für den Volksaustausch“ teilte und ihn ausdrücklich empfiehlt.[705]

Wie bereits auf Bundesebene werden auch auf Landesebene sogenannte Resettlement-Programme der Europäischen Union oder der Vereinten Nationen bzw. humanitäre Aufnahmebeschlüsse der deutschen Regierung als realpolitischer Ausdruck des Großen Austauschs gesehen.

So konstatiere Carsten Ubbelohde (MdA, BE und Beisitzer im AfD-Landesverband Berlin), Mitglied im AfD-Landesverband Berlin, im Zusammenhang mit einem Resettlement-Programm:

„Der Große Austausch geht weiter!“[706]

Neben der Beschreibung dieses intendierten Umwandlungsprozesses sehen die Propagandisten der Verschwörungslegende vom Großen Austausch am Ende des Umwandlungsprozesses überdies die völlige Zerstörung der ethnokulturellen Identität eines Volkes und seine substanzielle Vernichtung. Dadurch wird der in der rechtsextremistischen Szene verbreitete „Volkstod“-Topos referenziert. Der Terminus fand zunächst Anwendung in bevölkerungspolitischen Debatten Anfang des 20. Jahrhunderts und bezeichnete das „Absterben“ eines – konstruiert – organisch gewachsenen Volks, wurde später ein Propagandabegriff in der biologistischen NS-Ideologie und wird heute durch Rechtsextremisten zur Agitation gegen demographische Prozesse infolge von Migration, Integration oder der Abwanderung Einheimischer aus ländlichen Regionen genutzt. Der wörtliche oder sinngemäße Rekurs auf diesen Begriff steigert also das verbale Aggressionslevel in der Migrationsdebatte.

Andre Ufer, Beisitzer im Landesvorstand der Junge Alternative Sachsen, will in der aktuellen Zuwanderungspolitik ein „betreutes Aussterben“ erkennen[707] und für den rheinland-pfälzischen Landtagsabgeordneten Matthias Joa stellen angebliche Pläne zur Neubesiedelung Deutschlands einen „schleichende[n] Genozid an der eigenen Bevölkerung“ dar.[708]

In eine ähnliche Richtung weisen Umschreibungen eines kommenden „Untergangs“, einer „Selbstauslöschung“ oder „Invasion“, mit denen Dringlichkeit und Bedrohungsgrad der von Migranten ausgehenden existentiellen Gefahr für die autochthone Bevölkerung bzw. das ethnisch-kulturelle deutsche Volk unterstrichen werden sollen. So äußerte der niedersächsische Landtagsabgeordnete Jens Ahrends (MdL, NI)[709]:

„Europa ist die Heimat der Europäer! Nicht der Afrikaner, nicht der Araber oder sonstiger Kulturen. […] Geeint in dem Streben nach Frieden und Freiheit! Ein Christlich Jüdisches Europa, dass sich gegen den Islam behaupten muss oder unter der Scharia untergeht.“[710]

Bisweilen wird mit der Gleichsetzung von Migration und Kolonisierung zudem eine aggressive Invasion durch Einwanderer und deren vermeintliches Streben nach dauerhafter gesellschaftlicher Dominanz skizziert, um die einheimischen Deutschen mit Wissen und Wollen der Politik gleichsam auszuplündern. So heißt es beim Landtagsabgeordneten Matthias Joa (RP):

„Babys verhelfen Paaren zum Daueraufenthaltsrecht – und ‚unbegleitete Flüchtlinge‘, oftmals aber mit Begleitperson, ermöglichen als Ankerkinder der ganzen Sippe die bequeme Überstellung in die Kolonie Germanistan. Die Veränderung der Bevölkerungsstruktur ist keine ‚Verschwörungstheorie‘, sondern durch Fakten belegt. Wir werden hier demographisch in die Minderheit gedrängt. Wir werden ausgenommen wie die Weihnachtsgänse‚ und demographisch unterwandert. All dies geschieht mit Wissen und Wollen der Politik – bereits jetzt sind etwa 56% der U6-Jährigen Migranten. Völliger Wahnsinn, und eine Debatte über die kulturelle Selbstauslöschung soll von den Zensoren stigmatisiert werden.“[711]

Vertreter der Neuen Rechten in Europa leiten zudem aus der Gefahr eines irreversiblen Bevölkerungsaustauschs die Forderung einer konsequenten Remigration ab. Dieser Begriff wird insbesondere von der rechtsextremistischen Identitäre Bewegung verwendet und impliziert das Postulat, das Gros der Schutz suchenden Flüchtlinge konsequent zurückzuführen, was Massenabschiebungen ohne entsprechende Einzelfallprüfungen zur Folge hätte.

Die Forderung nach Remigration stellt auch Emil Sänze auf, indem er einen Zeitungsartikel zur Unterbringung syrischer Kinder in einem Kindergarten mit der Überschrift versah:

„+++Remigration und Hilfe zur Selbsthilfe statt Integration+++“.[712]

Sänze lässt letztlich offen, ob und in welchem Umfang eine „Remigration“ erfolgen sollte, weshalb die Forderung letztlich mehrdeutig bleibt.

Eine hauptsächliche Ursache für die angeblich fortgeschrittene Wehrlosigkeit eines Großteils der einheimischen Deutschen gegenüber den volkszerstörerischen Kräften der Migration und der dafür verantwortlichen Politik sieht die Neue Rechte zudem im vermeintlich innerhalb Deutschlands weit verbreiteten „Ethno“- oder „Nationalmasochismus“. Die Skepsis, die Verachtung oder gar der Hass gegenüber dem eigenen ethnischen Volk und damit der mangelnde Überlebenswille resultierten aus der Deutschland von den alliierten Siegermächten aufgezwungenen Umerziehung nach dem Zweiten Wellkrieg. Aus diesem – beschönigend auch als Vergangenheitsbewältigung oder Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeichneten – Prozess sei ein „Schuldkult“ entstanden, der es verhindere, dass Deutschland seine eigenen Interessen effektiv wahrnehme oder gar seine nationalen Potenziale voll ausschöpfe. Die Bezeichnung „Ethnomasochismus“ weitet innerhalb des ethnopluralistischen Diskurses die Perspektive auf die europäischen Völker insgesamt aus, die angeblich ebenfalls Gefahr liefen, sich durch die selbstauferlegte Schuld angesichts ihrer kolonialen Vergangenheit zu paralysieren.

Der niedersächsische Landtagsabgeordnete Stephan Bothe benannte auf einem „Flügel“-Treffen am 7. Dezember 2019 den aus seiner Sicht vorherrschenden Nationalmasochismus als Bedrohungsfaktor für den Fortbestand der deutschen Nation:

„Derart bedroht wie heute war der Fortbestand unserer Nation schon sehr, sehr lange nicht mehr. Masseneinwanderung, National-Masochismus, linksgrüne Gutmenschen und kriminelle Ausländer, um nur einige Beispiele zu nennen, haben Deutschland im jungen einundzwanzigsten Jahrhundert fest im Griff.“[713]

1.4 Kreisebene und andere

Zunächst wird untersucht, ob Funktionärinnen und Funktionäre bzw. Organisationseinheiten der AfD auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände einen ethnisch-biologistischen und/oder ethnisch-kulturellen Volksbegriff vertreten, wie er typischerweise in der Ideologie des völkischen Nationalismus konstruiert wird.

So schreibt der AfD-Kreisverband Unterfranken Nord (BY) in einem Facebook-Eintrag vom 12. Februar 2019 anlässlich eines DIE WELT-Artikels mit dem Titel „George Soros: ‚Die Menschen in Europa müssen aufwachen, bevor es zu spät ist'“:

„Nie wurde das Bündnis zwischen Raubtierkapitalismus und grünem Globalismus deutlicher als hier und nie wurde auch deutlicher als jetzt, was diese Leute wollen. Nämlich das Ende der europäischen Völker, Kulturen, Identitäten und demokratischen Nationalstaaten zugunsten einer autokratischen Elitenherrschaft über ein Volksgemisch in überstaatlichen Gebilden wie der EU. Ich glaube: Die Menschen in Europa werden aufwachen. Aber anders als Soros das wünscht.“[714]

Der Kreisverband Unterfranken Nord fürchtet eine vermeintlich drohende Auflösung der europäischen „Völker, Kulturen und Identitäten“ zugunsten eines „Völkergemischs“. Mit dieser Aussage knüpft er unmittelbar an das Narrativ des Ethnopluralismus an, weicher eine ethnische oder kulturelle Binnendiversität von Staaten und Gesellschaften kategorisch ablehnt, um eine von ihm behauptete Verschiedenheit der Völker basierend auf divergierenden biologistischen, sozialen und kulturellen Komponenten zu bewahren. Das ethnopluralistische Konzept betrachtet – wie bereits oben aufgezeigt[715] – den Nationalstaat als wesentlichen Referenzpunkt der gewachsenen Abstammungs-, Kultur- und Solidargemeinschaften, weshalb dessen Bedeutungsverlust im Zuge von Migrationsbewegungen und supranationaler Integration vehement bekämpft wird. Das aus ethnozentristischer Sicht behauptete Ende der „demokratischen Nationalstaaten zugunsten einer autokratischen Elitenherrschaft“ in „überstaatlichen Gebilden wie der EU“ wird daher mit dem Verlust der eigenen kulturellen Identität gleichgesetzt. Die Aussagen des AfD-Kreisverbands Unterfranken Nord verweisen auf ein ethnisch-kulturelles Volksverständnis, wie es in der ethnopluralistischen Ideologie angelegt ist und das infolge der ihm immanenten Exklusion des fremden Migranten keine Teilhabeperspektive offeriert.

Auch der AfD-Kreisverband Kleve (NW) bediente sich auf seiner Website ethnopluralistischer Narrative. So veröffentlichte er am 8. Juni 2019 einen Artikel mit dem Titel „FÜR DAS EUROPA DER VATERLÄNDER“ und warnte darin vor einer drohenden „Auflösung der Völker“ aufgrund von „unbegrenzte[r] Masseneinwanderung“ und einer damit einhergehenden kulturellen und ethnischen Vermischung:

„DAS EUROPA DER VATERLÄNDER IST DA UNGLEICH REALISTISCHER UND GEFAHRLOSER ZU ERREICHEN. DER ZUSAMMENSCHLUSS DER EUROPÄISCHEN VÖLKER UNTER WAHRUNG IHRER KULTURELLEN IDENTITÄT UND NATIONALEN SOUVERÄNITÄT ERSCHEINT MACHBAR. IN DIESER UNION SOLLTE EINE GEMEINSAME AUßEN-, WIRTSCHAFTS- UND VERTEIDIGUNGSPOLITIK ANGESTREBT WERDEN, DIE EUROPA NICHT ZUM SPIELBALL DER SUPERMÄCHTE WERDEN LÄSST. WIR BRAUCHEN DEN BRÜSSELER ZENTRALISMUS UND SEINE GLOBALISIERER NICHT, SONDERN WOLLEN DIE EUROPÄISCHEN REGIONEN MIT IHREM EINMALIGEN KULTURELLEN REICHTUM FÖRDERN UND ERHALTEN. DAZU MUSS DRINGEND DIE UNBEGRENZTE MASSENMIGRATION NACH EUROPA GESTOPPT WERDEN, DENN DIE SICH SCHON ANBAHNENDE AUFLÖSUNG DER VÖLKER ERZEUGT ZWANGSLÄUFIG KONFLIKTE UND BEDROHT DEN FRIEDEN.“[716]

Ein weiseres Statement gegen die Vermischung von Ethnien verbreitete der AfD-Kreisverband Kassel-Stadt (HE) am 20. August 2019 auf Facebook, wo er einen Artikel der Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT kommentierte, die über das Wahlprogramm der Thüringer AfD und die nach Übernehme der Regierungsverantwortung von ihr geplante „massive Abschiebungsinitiative“ zur Verhinderung „multireligöse[r] und multiethnische[r] Schmelztiegel“ berichtete:

„Es gibt keinen plausiblen Grund für das Verbleiben von Illegalen in Deutschland. Unsere Bürger müssen hart arbeiten um deren illegalen Aufenthalt in Deutschland zu finanzieren. Mit welchem Recht? Integration von Menschen anderer Kulturen ist meist eine Illusion. Die Konflikte in der größten multikulturellen Gesellschaft, den USA, zeigt bis heute eine klare Trennung der Ethnien die nie überwunden wurde. Alle Konflikte spielen sich zwischen den ethnischen Gruppen ab; es ist nie eine homogenen Gesellschaft entstanden. Die USA sind bis heute eine zu tiefst gespaltene Nation mit erheblichem Gewaltpotenzial. Die Zahl von Morden in den Großstädten spricht eine deutliche Sprache. Eine solche Entwicklung wollen wir definitiv nicht!“[717]

Der Kreisverband Kassel-Stadt suggeriert also die vermeintliche Konfliktfreiheit ethnisch homogener Gesellschaften, wohingegen das Zusammenleben verschiedener Ethnien zwangsläufig gravierende Probleme verursache. Als Negativbeispiel eines „multiethnische[n] Schmelztiegel[s]“ werden die USA angeführt, die nach den Aussagen des Kreisverbands bis heute eine „zu zutiefst gespaltene Nation“ und geprägt von gewaltsamen Konflikten seien, die sich ausschließlich „zwischen den ethnischen Gruppen“ abspielten. Eine Integration kulturfremder Ethnien in Deutschland sei mit Blick auf die Entwicklungen in den USA folglich weder möglich noch wünschenswert. Die Äußerungen des AfD-Kreisverbandes Kassel-Stadt belegen dessen ethnisch-kulturell basiertes, geschlossen exkludierendes Volksverständnis, das im Widerspruch zum offenen Volksbegriff des Grundgesetzes steht.

Auf ähnliche Weise argumentiert ein Beitrag, der Aussagen des baden-württembergischen AfD-Landtagsabgeordneten und Sprechers des AfD-Kreisverbands Rottweil-Tuttlingen (BW) Emil Sänze aufgriff und am 11. September 2019 auf der Website des AfD-Kreisverbandes Rottweil-Tuttlingen veröffentlicht wurde. Sänze äußerte sich demnach ablehnend bezüglich der Aufnahme von Flüchtlingskindern in einen Kindergarten der baden-württembergischen Ortschaft Glatt:

„Immer wieder vernehmen wir das gebetsmühlenartig wiederholte Mantra der Integration. Das ändern nichts daran, dass Integration der falsche Weg ist“, stellt Sänze fest. „Es macht keinen Sinn, dass Schutzsuchende und deren Kinder, denen lediglich ein temporärer, von dem Weiterbestehen der Fluchtgründe abhängender Schutz zusteht, integriert werden müssen. Die Integration, die angestrebt wird, stülpt den Menschen eine ihnen vollkommen fremde westliche Kultur über und beraubt sie ihrer Wurzeln. Das Beispiel türkischer Einwanderer und von Migranten aus dem moslemischen Kulturkreis zeige zudem, dass diese sich bei der Integration sehr schwer tun und sich viele unter ihnen selbst nach drei Generationen weder als Deutsche nach ihrer ursprünglichen Nationalität richtig verbunden fühlen. […] Heimat lässt sich schließlich nicht durch Sprach-Kenntnisse, ein Dach über dem Kopf und finanzielle Unterstützung erschaffen. Heimat ist mehr. Sie ist immer auch mit der eigenen Kultur verbunden. Letztlich geht es immer um Hilfe zur Selbsthilfe, um eine andere Form der Entwicklungshilfe“, erläutert Sänze und kommt zum Schluss: „Unsere Devise heißt: Remigration statt Integration. Das Konzept ‚Fit4Return‘ bietet den schutzbedürftigen Schutzsuchenden eine echte Perspektive.“[718]

Auch an dieser Stelle tritt ein ethnopluralistisches Weltbild zutage, nach welchem Menschen nur in ihrer angestammten Region und Gesellschaft leben sollen. Eine Integration in fremde Gesellschaften sei prinzipiell nicht möglich und zerstöre die in sich geschlossenen und in ihrer Verschiedenheit zu erhaltenden Kulturen. Die räumliche Verbindung von „Kultur“ und „Heimat“ wird also als Ausdruck eines ethnisch homogenen, organisch gewachsenen Gemeinwesens gesehen. Dieses Weltbild nimmt Menschen somit nicht als einzelne Individuen mit sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, Einstellungen und kulturellen Prägungen wahr, sondern ordnet sie allein bzw. prioritär aufgrund ihrer ethnischen Herkunft einer imaginierten, feststehenden „kollektiven Identität“ zu. Ferner wird Migrantinnen und Migranten aufgrund ihrer ethnischen Herkunft eine kulturelle Inkompatibilität unterstellt und – daraus resultierend – die Integrationsfähigkeit gänzlich abgesprochen. Bei einem solchen determininistischen Identitätsverständnis wird der Einzelne zum bloßen Objekt staatlichen Handels degradiert. Die postulierte kulturelle Homogenität rechtfertigt die soziale Ausgrenzung von Angehörigen anderer Kulturen. In der Gesamtschau belegen diese Ausführungen ein ethnisch-kulturelles Volksverständnis, welches dem Prinzip der Menschenwürde zuwiderläuft.

Auch Holger Winterstein (TH), stellte in seinem Facebook-Kommentar vom 21. Oktober 2019 die Behauptung auf:

„Resettlement, wie wir es wollen – Fachkräftemangel beheben durch AfD-Wählen. Thüringen wird dann zum Einwanderungsland für Deutsche und zum Abwanderungsland für Leute die unsere Kultur abstößt und die auch nicht so recht in unser gewachsenes Bevölkerungsantlitz passen wollen. Ich selbst kenne junge Leute aus Bayern, Hessen und NRW, die die Nase gestrichen voll haben, islamische Exklaven vor ihrer Nase zu haben und die jeden Tag ein Stück mehr eingehen. Sie würden mit ihren Familien gerne hierherkommen um aufzublühen und ihre Identität zu wahren. Herzlich Willkommen!“[719]

Mit der Beschreibung eines gewachsenen deutschen „Bevölkerungsantlitz[es]“ und der Behauptung einer kulturellen Inkompatibilität „islamische[n] Exklaven“, welche die deutsche Identität bedrohten und aus diesem Grund zur Abwanderung gezwungen werden sollten, bedient auch Winterstein eindeutig völkische bzw. rassistische Argumentationsmuster.

Für die völkisch-nationalistische Sichtweise Wintersteins sprechen zudem weitere Beiträge von ihm in den Sozialen Medien. So bezeichnete er in einem Facebook-Post vom 2. Juni 2019 ein homogenes Volk als essentielle Grundlage für Freiheit:

„‚Deine Freiheit endet dort, wo meine beginnt‘ fühlen deine Gegner – ‚Unsere Freiheit endet dort, wo die Freiheit der Anderen beginnt‘ befürchtete schon Immanuel Kant sinngemäß – Und Rosa Luxemburg sagte über Gedankenfreiheit: ‚Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.‘ Allen Dreien ist dadurch klar gewesen, dass die größtmögliche Freiheit, nur innerhalb einer Gruppe Gleichgesinnter, einem homogenen Volk, möglich ist. Genau das wollten sie wohl auch wirklich ausdrücken. Wer seine Freihalt in diesem Sinne nicht verteidigt, wird sie verlieren.“[720]

Es ist gleichsam die Umkehrung des Freiheitsbegriffs, diesen, wie Winterstein, an die Einbindung in ein homogenes Kollektiv zu knüpfen. Eine solche Auslegung widerspricht dem grundgesetzlich gebotenen Wert- und Achtungsanspruch des Einzelnen.

Das Weiteren schrieb Winterstein am 16. März 2020 auf Facebook:

„Das deutsche Volk hatte sich einen Staat gegeben, eine Nation, Grundgesetz und Recht. Es ist daher Herr darüber. Der Herr hat es geben und wenn es nicht mehr taugt, kann er es auch wieder nehmen oder verändern. Der Selbstzweck bleibt der Erhalt des deutschen Volkes. Es gibt keine Moral darüber.“[721]

Nach Wintersteins Auffassung hat der „Erhalt des deutschen Volkes“ als homogene Gemeinschaft somit als zentrales Ziel und oberste Moral über allem anderen zu stehen, auch über dem Grundgesetz. Auch die Wahrnehmung von Migration als ernsthafte Bedrohung für den Fortbestand Deutschlands weist auf eine völkisch-nationalistische Perspektive hin. Auf Facebook schrieb der AfD-Kreisverband Gießen (HE) am 29. Juli 2019 in diesem Zusammenhang:

„‚Wir werden zur Minderheit in unseren Städten‘, sagt ganz offen der niederländische Soziologe Maurice Crul. Er spricht für die Niederlande, doch die Tendenz lässt sich in ganz Westeuropa und insbesondere in Deutschland feststellen. Es handelt sich dabei um einen schmerzhaften Prozess, der die Lebenswelt(en) der Einheimischen zerstört. Sind das Wegsterben der Einheimischen, das bisherige Wahlverhalten der jungen Generation und das künftige Wahlverhalten junger Migranten unaufhaltsam? Hoffentlich nicht. Denn, so Crul weiter: KEINER kann sagen, ‚Wir haben es nicht gewusst‘. Was steckt dahinter? Ein Programm, das ‚Deutschland abschaffen‘ heißt? Es besteht die eklatante Gefahr, dass aus den europäischen Nationen ein internationales Vielvölkerkonglomerat mit stark wachsenden islamischen Elementen wird. Der bisherige Wohlstand und der ganze Rest pendeln sich dann logischerweise auf ein europäisches Durchschnittsniveau (eine Mischung aus Deutschland, Griechenland und Rumänien?) ein, d.h. die jetzigen Standards wenden noch radikaler abgesenkt.“[722]

Der Kreisverband Gießen propagiert auf dramatisierende Weise eine migrationsinduzierte Überfremdung Deutschlands und den drohenden Verlust der europäischen Völkervielfalt zuungunsten eines „Vielvölkerkonglomerat[s]‘. Zugewanderte Menschen werden hier zu Feindbildern erklärt, die Deutschland und die europäischen Nationalstaaten, deren Wohlstand, Stabilität und die kulturellen Lebenswellen der Einheimischen zerstören.

Die Junge Alternative Südbaden (BW) versteht Migration in ganz ähnlicher Weise als Bedrohung für den – biologistisch grundierten – Fortbestand der deutschen Identität. So kommentierte sie auf Facebook am 4. November 2019 einen Presseartikel mit dem Titel „Migrationsforscher erwartet Einwandereranteil von 40 Prozent“ mit folgendem Wortlaut:

„Wehrt euch jetzt oder lebt für immer mit der Schuld. Wer jetzt keinen Widerstand leistet, verrät sein Volk und seine Kinder. Es liegt an euch allen dabei zu helfen, dass Deutschland ein deutsches Land bleibt als unverhandelbare Heimat und Geburtsrecht eines jeden Deutschen.“[723]

In völkischer Diktion beschwört die Junge Alternative Südbaden den drohenden Verlust Deutschlands als „deutsches Land“ im Zuge eines wachsenden Einwandereranteils innerhalb der Bevölkerung herauf. Die deutsche Heimat ist nach Auffassung des Bezirksverbands jedoch „unverhandelbar“ und per „Geburtsrecht“ unteilbares Eigentum der ethnisch-deutschen Bevölkerung. Insbesondere der letztgenannte Aspekt erinnert stark an die Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten, welche von einer untrennbareren, natürlichen Verbindung des deutschen Volkskörpers mit dem ihm vermeintlich zustehenden geographischen „Raum“ als Grundlage eines „gesunden Staates“ ausgingen. Zur Verteidigung dieses Geburtsrechts ruft der Bezirksverband daher zu einem diffusen „Widerstand“ auf, ohne konkret zu benennen, gegen wen dieser sich richten und mit weichen Mitteln er vollzogen werden soll.

In eine ähnliche Richtung zielt der nachfolgende Tweet Marvin Webers, Beisitzer im AfD-Kreisverband Paderborn (NW), welchen zudem die Junge Alternative Detmold (NW) am 9. Dezember 2019 auf Twitter verbreitete:

„Wenn jeder auf der Welt ‚Deutscher‘ werden kann, dann gibt es da facto keine Deutschen mehr. Die bösesten Fantasien von Inter-Nationalsozialisten wären dann in die Realität umgesetzt worden. Wir brauchen wieder ein Abstammungsprinzip für den deutschen Pass, das bis 2000 galt! #AfD“.[724]

Zugunsten einer homogenen deutschen Abstammungsgesellschaft positioniere sich auch der AfD-Bezirksverband Hamburg-Mitte (HH) am 23. Januar 2020 auf seiner Facebook-Seite, indem er einen entsprechenden Beitrag von Björn Höcke teilte. Darin ließ sich dieser wie folgt über vermeintlich negative Auswirkungen einer zunehmenden Multikulturalisierung Deutschlands aus:

„Unsere Bundesrepublik ist ein Nationalstaat. Das Grundgesetz geht von einem Volk als Souverän dieses Staates aus. Diese Volkszugehörigkeit ist das Verbindende, es ist die Schicksalsgemeinschaft, in die man hineingeboren wurde oder an die man sich durch Bekenntnis und Assimilation freiwillig bindet. Diese Bindung wird heute bei der Verleihung der Staatsbürgerschaft praktisch nicht mehr eingefordert. Und genau das ist eine fatale Fehlentwicklung in unserer Zeit, denn diese Bindung ist das Fundament, auf dessen Grundlage Demokratie überhaupt erst funktionieren kann. […] Unsere Demokratie wird herausgefordert, sobald eine Gruppe eine Identität besitzt, die weiter reicht als dieses Fundament und die daraus einen Machtanspruch über die anderen Gruppen in der Gesellschaft ableitet. Die multikulturelle Gesellschaft birgt den Sprengstoff von erbitterten Loyalitätskonflikten in sich. Parallelgesellschaften, Clanstrukturen, Selbstjustiz und Bürgerkriege sind die Verfallserscheinung einer multikulturellen Demokratie. ‚Blut ist dicker als Wasser‘ heißt es, und die eigene Familie steht den meisten Menschen näher als der Staat – ich habe jedenfalls noch keinen getroffen, der sich glaubhaft und mit Herzblut als ‚Bundesrepublikaner‘ definierte…. Eine Demokratie ohne Bindungskraft ist zur Plünderung freigegeben. Es werden sich jene durchsetzen, die zahlenmäßig am stärksten sind und ihren Machtanspruch am aggressivsten vertreten.“[725]

Nach dem Verständnis Höckes sind ein friedliches Zusammenleben und ein stabiles demokratisches Staatsgefüge dauerhaft nur mit einem ethnisch homogenen Volk möglich. Die Aussagen, dass „Blut […] dicker als Wasser“ sei und jeder Mensch einer „Schicksalsgemeinschaft“ angehöre, in die er hineingeboren werde, zeugen von einem völkisch-biologistischen Verständnis, das Völker als homogene Abstammungsgesellschaften bestimmt, denen Menschen durch Geburt angehören und die ihnen als fundamentaler Bezugspunkt gleichsam lebenslänglich anhaften. Multikulturelle Gesellschaften lehnt Björn Höcke vehement ab und skizziert sie als Bedrohung für den Fortbestand der staatlichen Ordnung und Ursache von politischen und gesellschaftlichen Erosionsprozessen. So berge das Zusammenleben verschiedener Ethnien den „Sprengstoff von erbitterten Loyalitätskonflikten“ und fördere die Entstehung von „Parallelgesellschaften, Clanstrukturen, Selbstjustiz und Bürgerkriege[n]“. Zwar schließt Hacke die Möglichkeit zur Assimilation von zugewanderten Personen nicht gänzlich aus, doch stellt er diese als eher unwahrscheinlich der. Die Zugehörigkeit ethnisch Fremder sei allenfalls nach völliger Assimilation im Sinne einer vollständigen Abkehr von der ursprünglichen kulturellen Prägung denkbar. Der AfD-Bezirksverband Hamburg-Mitte macht sich diese Positionen durch das Teilen und Verbreiten des Beitrags zu eigen.

Der nordrhein-westfälische Kommunalwahlkandidat Adolf Frerk verfasste am 28. April 2019 auf der Website des Kreisverbands Kleve einen Beitrag mit dem Titel „Ein souveränes Deutschland in einem starken Europa“, in welchem er eine vermeintliche „Auflösung der Völker in einem Europa ohne Grenzen“ befürchtete:

„Gerade vor den Europawahlen ist es an der Zeit, über den von unseren ‚Eliten‘ anvisierten europäischen Großstaat und dessen Alternative, den souveränen Nationalstaat, nachzudenken. Wollen wir wirklich den Weg zum Brüsseler Zentralstaat einschlagen und nach Ansiedlung von Abermillionen von Afrikanern und Orientalen zur Schöpfung des neuen Hybridmenschen beitragen? Der Anfang ist mit der Unterzeichnung des UN-Migrationspaktes durch Frau Merkel bereits gemacht. […] Die Auflösung der Völker in einem Europa ohne Grenzen sei ein sehr geeignetes Mittel, Unruhe auszulösen und Konflikte zu erzeugen. Wie jedoch die Geschichte zeige, gebe es keine tiefen oder dauerhaften Reformen gegen den Willen des Volkes.“[726]

Frerk warnt explizit vor einer drohenden „Ansiedlung van Abermillionen von Afrikanern und Orientalen“, die zur „Schöpfung des neuen Hybridmenschen“ beitrage, sofern die europäische Integration in einem „Brüsseler Zentralstaat“ münde. Die implizit mitschwingende negative Wertung offenbart eine rassistisch motivierte Missbilligung hinsichtlich einer Vermischung unterschiedlicher Ethnien. Insbesondere der Begriff des „Hybridmenschen“ erscheint insofern problematisch, als dass dieser sich auf den Begriff des „Hybriden“ bzw. „Mischlings“ zurückführen lässt, welcher in der kontrollierten Tierzucht einen Nachkommen von Kreuzungen verschiedener Rassen bezeichnet.

Der AfD-Kreisverband Kleve bietet dem Autor eine Plattform für seine Äußerungen und listet sie als Beitrag auf der Website des Kreisverbandes auf.

Einen ähnlichen Subtext weist ein Kommentar des AfD-Stadtverbands Frankfurt a. d. Oder (BB) auf dessen Website vom 14. Juli 2019 auf, in welchem sich dieser über die Darstellung von Tatverdächtigen mit doppelter Staatsangehörigkeit in einer Kriminalstatistik echauffiert:

„Gleiches Spiel mit der Angabe der Täter als Deutsch-Iraner, Deutsch-Kenianer oder gar Deutsch-Kameruner bei anderen Verbrechen, wie der Ermordung eines jungen Mädchens in einer Obdachlosenunterkunft in Wiesbaden. […] Bei solchen Bezeichnungen mit ‚Deutsch‘ und Bindestrichanhang möchte man nur noch scherzhaft ausrufen: ‚Genau mein Humor, das muss ich gleich meiner Hund-Katze erzählen!‘ Natürlich sind derlei Neubezeichnungen der Täter nicht nur eine Erfindung der Presse. Die Politiker der Etablierten haben dieses Paradoxon ganz wissentlich und voll beabsichtigt mit der Einführung eines sogenannten ‚modernen Staatsbürgerschaftrechtes‘ im Jahre 2000 geschaffen. Somit lässt sich eine Reihe der Straftaten aus diesem Bereich statistisch elegant relativieren.“[727]

Um auf eine vermeintliche Absurdität des aktuellen Staatsbürgerschaftrechts hinzuweisen, bedient sich der Stadtverband Frankfurt a. d. Oder des Neologismus „Hund-Katze“ für Menschen mit doppelter Staatsangehörigkeit. Durch diese scheinbar paradoxe Bezeichnung suggeriert der Verband, dass Menschen unterschiedlicher Nationalitäten wie Hunde und Katzen verschiedenen Rassen angehören und deren Vermischung gewissermaßen gegen biologische Gesetzmäßigkeiten verstoße. Aus diesem Grund erscheint es nach Auffassung des Verbands nur logisch, dass ein Mensch aufgrund seiner feststehenden ethnischen Zugehörigkeit niemals zwei Nationalitäten aufweisen könne.

Am 24. Januar 2020 postete der AfD-Kreisverband Märkisch-Oderland (BB) auf Facebook folgenden Textbeitrag, weicher ebenfalls auf ein ethnisch-biologistisches Menschenbild hinweist:

„Die hessische CDU wirbt für ihre ‚bundesweit einzigartige Familienkarte“ mit einer ‚bunten‘ Familie: Papa dunkelhäutig, Mama, der eher blasse Typ und dem entsprechenden Nachwuchs. […] Die CDU sieht zu ihrem Werbefoto und antwortet dem renitenten Teil ihres Wahlvolkes ganz im Sinne der großen Parteivorsitzenden, die ja gerade in Davos ‚gewaltige Transformationen‘ ankündigte.“[728]

Wenngleich der Beitrag keine explizite Wertung enthält, so wird doch durch den ironischen Unterton und insbesondere dem in Anführungszeichen gesetzten Ausdruck „bunten“ deutlich, dass sich der AfD-Kreisverband Märkisch-Oderland an der Darstellung einer Familie mit Angehörigen verschiedener Hautfarben stört.

Anhand der aufgezeigten Verlautbarungen verschiedener AfD-Mitglieder und Organisationseinheiten auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände wird deutlich, dass ihrem Denken tatsächliche Anhaltspunkte für ein ethnisch-biologistisches bzw. ethnisch-kulturelles Verständnis des Volkes zugrunde liegen, wie es typischerweise in der Ideologie des völkischen Nationalismus bzw. in seiner neueren Gestalt des Ethnopluralismus konstruiert wird. Eine Vielzahl der Aussagen zeugt von einer völkischen Weltsicht, die menschliche Individuen – ob nach ethnisch-kulturellen Merkmalen oder gar rassisch-biologistischen Kriterien – in distinkte kollektive Einheiten unterteilt und auf dieser Grundlage eine strenge ethnische bzw. kulturelle Homogenität innerhalb der jeweiligen Nationalstaaten und Gesellschaften postuliert. Sehr häufig werden Migration und Integration in „fremde“ Gesellschaften, die eine Vermischung der „gewachsenen“ Völker bewirken, in den gesammelten Äußerungen der AfD-Mitglieder als widernatürlich und unerwünscht klassifiziert. Multikulturelle Gesellschaften gelten dann als dysfunktional und werden als Bedrohung für den Fortbestand der staatlichen Ordnung sowie als Ursache von politischen und gesellschaftlichen Erosionsprozessen betrachtet.

Weiterhin ist zu untersuchen, inwieweit Mitglieder und Organisationseinheiten der AfD auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände auf Basis eines ethnisch-biologistischen und/oder ethnisch-kulturellen Volksverständnisses eine spezifisch „deutsche Identität“ aus der Abgrenzung nach außen bzw. der Ausgrenzung von als „fremd“ definieren Gruppen konstruieren. Auch hierzu liegen Äußerungen vor, die entsprechende Hinweise auf Ab- und Ausgrenzungsprozesse liefern.

So decken einige Aussagen die Konstruktion eines spezifischen „Deutschseins“ auf, eines Selbstbilds, das sich insbesondere durch das Kriterium der ethnisch-deutschen Abstammung konstituiert. Diesem Verständnis nach ist über Generationen hinweg eine ethnisch-homogene Gemeinschaft der Deutschen entstanden, die sich durch eine ganz eigene Kultur, Geschichte und typische physiologische Merkmale auszeichne. Was unter dem „Eigenen“ zu versehen ist, ergibt sich in der Abgrenzung zum „Fremden“ bzw. in der Ausgrenzung des „Fremden“. Die konstruierten Distinktionsmerkmale sind dabei vor allem ethnischer und kultureller Ausprägung.

Hinweise auf ein konstruiertes „deutsches“ Selbstbild liefert exemplarisch ein Kommentar des AfD-Politikers Bengt Hofmann, den Alexander Tassis, ehemaliges Vorstandsmitglied der mittlerweile aufgelösten Patriotischen Plattform und Mitglied im Kreisverband Bremen (HB), am 13. März 2020 auf Facebook verbreitete und in dem Hofmann den Begriff „Heimat“ im Kontext ostpreußischer Vertriebener thematisierte:

„In tiefster Dankbarkeit sind wir es ihnen schuldig, umzusetzen und anzuwenden, was sie uns an Gottvertrauen, Werten und eigener Identität mit auf den Weg gaben. […] Für die Heimat, für die (eigene) Gesellschaft, die sie nie mehr hatten! Und ich sage: Diese ‚Kanzlerin‘ ist das Verderben in Person, sie IST die Krise – und sie trägt in ihrer dümmlichen Arroganz einen Scheiß dazu bei, sie zu meistern. Sie schafft Heimat ab, zerstört den Geist unserer Altvorderen und verfolgt eine stumpfsinnige, maximal bildungsferne Ideologie voller Menschenverachtung. Diese Frau kann gar nichts – außer alles Eigene zu zerstören. […] Und zwingt mir, zwingt uns, ungefragt und kackfrech eine ‚Buntheit‘ auf, mit der ich mich nicht in dieser Masse beschäftigen will, nicht werde und die ich schlichtweg in dieser Masse ablehne.“[729]

In dieser Aussage wird die Erhaltung der ethnisch-kulturellen deutschen Identität gefordert, die sich in Begriffen wie „Heimat“, gegebenen „Werten“ und „Gottvertrauen“ sowie dem „Geist unserer Altvorderen“ widerspiegelt. Das Eigene wird hier nicht explizit in Abgrenzung zu etwas Fremdem beschrieben, doch deutet der an Bundeskanzlerin Angela Merkel gerichtete Vorwurf, sie zerstöre durch ihre den Deutschen aufoktroyierte „Buntheit“ deren Heimat, auf eine starke Ablehnung einer pluralistischen Bevölkerungsstruktur hin.

Noch deutlicher wurde das spezifisch „Eigene“ in einem Facebook-Beitrag des Weilheimer AfD-Kreisvorsitzanden Rüdiger Imgart (BY) vom 29. Dezember 2019 thematisiert. Imgart lud einen offenbar selbst erstellten Screenshot einer mobilen Twitter-Seite hoch und kommentierte diesen mit zustimmenden Worten, im Screenshot selbst war ein Antwortbeitrag des rechtsextremistischen Rechtsrock-Musikers und Kampfsportlers Frank Kraemer auf eine Klarstellung des WDR-Mitarbeiters Danny Hollek zu lesen, welcher sich wegen eines vorherigen Posts im Zusammenhang mit dem „Umweltsau“-Skandal entschuldigte. Hollek war zuvor in die öffentliche Kritik geraten, da er getwittert hatte, die im WDR-Stück besungene Oma sei keine Umwelt-, sondern vielmehr eine „Nazi-Sau“. Frank Kraemer schrieb anlässlich Holleks Entschuldigung:

„Als antifaschistischer #minusmensch haben Sie ganz normal reagiert. Wozu die Ausflüchte? Rassenhaß gegen das eigene Volk ist typisch für oikophobisch [Anm.: Oikophobie meint die Ablehnung des Eigenen] gestörte Menschen. Wie wäre es mit Selbstmord gegen rechts? Wäre zum Jahresende eine wahrlich gute Tat.“[730]

Insbesondere mit dem Vorwurf, Danny Hollek hege „Rassenhaß gegen das eigene Volk“, knüpft Kraemer explizit an das völkische Denkmuster eines ethnisch-biologistisch begründeten deutschen Volksbegriffs an. Er bezeichnet ethnisch Deutsche, die das Eigene – also die deutsche Kultur und Ethnie – in oikophobischer Manier ablehnen, als grundsätzlich gestört und legt den vermeintlichen Volksverrätern die Selbsttötung als „wahrlich gute Tat“ nahe. Rüdiger Imgart bekundet offen seine Zustimmung für die völkischen Ausführungen des bekannten Rechtsextremisten Frank Kraemer und verbreitet dessen Tweet auf dem eigenen Profil.

Ähnlich positionierte sich der AfD-Kreisverband Reutlingen (BW) am 5. März 2019 auf Facebook:

„Wir bekennen uns zu Deutschland als Heimat der Deutschen.[Deutschlandflagge] ist kein Siedlungsgebiet für illegale Migranten.“[731]

Durch den Kommentar kommt die Forderung nach dem Erhalt einer ethnisch-homogenen deutschen Bevölkerung zum Ausdruck. Die Forderung ist überdies eng angelehnt an die rechtsextremistische Parole „Deutschland den Deutschen“.

Stefan Scheil, Vorsitzender des AfD-Kreisverbands Rhein-Pfalz (RP), teilte auf Facebook am 15. April 2020 einen Artikel des neurechten Publizisten Martin Lichtmesz, den dieser für die Zeitschrift Sezession verfasst hatte. Der Autor rekurriert in seinem Text unmittelbar auf den biologistischen Rassenbegriff, um die Unmöglichkeit eines konstruktiven Zusammenlebens in einer multiethnischen Gesellschaft zu behaupten, stellt dies – wie im neurechten Diskurs zur Verschleierung des eigentlich völkischen Argumentationskerns üblich – aus der Inkompatibilität zwischen verschiedenen ethnokulturellen Identitäten abzuleiten:

„‚Gen-Tests‘, mit deren Hilfe man seine ethnisch-rassische Herkunft analysieren lassen kann, erfreuen sich vor allem im angeblichen ‚Schmelztiegel‘ USA großer Beliebtheit; allein die Tatsache, daß dergleichen möglich ist, widerlegt schlagend die weitverbreitete ideologische Lüge, Rasse sei nur ‚ein soziales Konstrukt‘. […] In der Tat ist die phänotypische Identität von Weißen aufgrund ihrer eher rezessiven Gene weitaus ‚labiler‘ als jene praktisch aller anderen Rassen; hätte Heidi Klum ausschließlich mit Seal Kinder gezeugt, wäre die genetische Möglichkeit ‚Heidi Klum‘ in ihrer Stammbaumlinie komplett ausgelöscht worden (Boris Becker scheint dagegen wahre Wotansdonnergene zu besitzen, die komplett weiße Kinder mit afrikanischen Gesichtszügen hervorbringen können). […] New York ist so etwas wie der Prototyp des ‚Babylons‘ der kommenden Weltzivilisation, die sich manche Globalisten erträumen. Im menschenüberfüllten Manhattan bietet sich einem häufig ein Straßenbild, in dem unter Massen von Schwarzen, Braunen, Gelben kein einziger Weißer zu erblicken ist. […] So scheinen Cornelia und Nikia an seltsam komplementären Minderwertigkeitsgefühlen zu leiden: die eine, weil sie nicht vermischt genug ist, die andere (wie ich vermute), weil sie allzu sehr vermischt ist. So sehen die Pathologien multirassischer Gesellschaften aus, die irgendwann zu multirassistischen Gesellschaften werden.“[732][733]

Lichtmesz postuliert die Existenz biologisch zu differenzierender Menschenrassen mit naturgegebenen unterschiedlichen Eigenschaften und sich daraus ergebenden Charakterzügen. Die jeweilige Homogenität dieser divergierenden „Rassen“ sei zu erhalten, denn deren Vermischung habe auf individueller und gesellschaftlicher Ebene unweigerlich pathologische Folgen. Stefan Scheit verbreitet diese rassistischen Inhalte Lichtmesz durch das Teilen des Sezession-Beitrags weiter.

Während in den bisherigen Aussagen das Fremde in Abgrenzung zur eigenen deutschen Kultur eher unspezifisch durch Migrantinnen und Migranten im Allgemeinen konstituiert wurde, lassen sich ebenso spezifischere Beiträge aufzeigen, in denen Angehörige bestimmter Religionsgruppen oder Nationalitäten verallgemeinernd in aus- oder abgrenzender Weise als fremdartig beschrieben werden.

Carsten Härle, Mitglied im Kreisverband Offenbach-Land (HE), kommentierte am 3. Januar 2020 in einem Facebook-Eintrag einen Bildbeitrag, welcher im oberen Abschnitt den Görlitzer Park in Berlin um das Jahr 1900 und unten vier dunkelhäutige Personen vor einer mit Graffiti bemalten Wand zeigt. Das Bild trägt die Aufschrift:

„Der Görlitzer Park in Berlin: Um 1900 war er ein Erholungspark für deutsche Bürger. Heule ist er ein Drogenhandelsplatz für Afrikaner. Was haben sie bloß aus unserem Land gemacht?!“

Härle kommentierte das Bild mit folgenden Worten:

„Für keinen normalen Menschen ist diese Entwicklung eine ‚Bereicherung‘ – außer für die schwachsinnigen GRÜNEN und die anderen Altparteien und Anhänger des grünen Kommunismus und Volksaustausches.“[734]

Der Landesvorstand Hessen leitete im Jahr 2019 ein Parteiausschlussverfahren gegen Härle ein. Bislang liegt hierzu noch keine Entscheidung vor.

In ähnlicher Weise kommentierte die Junge Alternative Köln (NW) am 16. Mai 2019 auf Facebook einen Beitrag des Europäischen Parlaments, das mittels einer Abbildung zweier dunkelhäutiger Menschen für die Europawahl 2019 warb:

„Ist das #Europa oder nicht doch #Afrika!? Oder anders gefragt: Wird hier bereits die zukünftig afrikanische Mehrheitsgesellschaft Europas abgebildet?“[735]

Die Junge Alternative Köln spricht dunkelhäutigen Menschen damit die Zugehörigkeit zu Europa ab und kategorisiert Migrationsprozesse ebenfalls pauschal als negativ, was sich insbesondere in der phobischen Imagination einer „afrikanische[n] Mehrheitsgesellschaft“ zeigt.

Am 3. Juni 2020 äußerte sich zudem der AfD-Kreisverband Stuttgart (BW) folgendermaßen auf Twitter:

„#Gruene, #Linke wollen #Deutschland #afrikanisieren. Verschleudern #Staatsangehoerigkeit als freien Eintritt ins #Schlaraffenland! #AfD sagt NEIN! Durchkreuzen die #Merkels Plan #Illegale per #Gesetz zu #legalisieren!“[736]

In einem Facebook-Eintrag vom 6. März 2019 kommentierte der AfD-Kreisverband Landshut (BY) einen Artikel der BILD-Zeitung mit einem Bild eines dunkelhäutigen ISIS-Kämpfers:

„Wer schon immer wissen wollte wie ein ‚DEUTSCHER‘ ISIS-Kämpfer aussieht, hier ist einer.“[737]

Mittels der gezielten Verwendung von Anführungszeichen sowie Großbuchstaben verdeutlicht der Kreisverband auf ironische Weise sein ethnisches Verständnis von Staatsangehörigkeit, demzufolge ein dunkelhäutiger Mensch trotz deutscher Staatsbürgerschaft offenbar kein vollwertiger Deutscher sein kann.

Ein vergleichbares auf der ethnischen Abstammung basierendes Volksverständnis vertrat die AfD Viersen (NW) am 26. Oktober 2019 auf ihrer Facebook-Seite, wo sie die deutsche Volkszugehörigkeit eines in Deutschland geborenen Gewalttäters aufgrund seiner tunesischen Wurzeln anzweifelte:

„Deutscher köpft Ehefrau? Wenn ein Hamster im Goldfischglas geboren wurde, ist er immer noch kein Goldfisch.“[738]

Neben dunkelhäutigen Menschen aus Afrika werden insbesondere auch Migrantinnen und Migranten aus dem Nahen Osten und/oder Angehörige der islamischen Glaubensgemeinschaft per se – trotz Einbürgerung bzw. deutscher Staatsbürgerschaft – von der Zugehörigkeit zum deutschen Volk ausgeschlossen.

Für eine breite Empörungswelle innerhalb der AfD sorgte in diesem Zusammenhang im Juli 2019 vor allem ein Vergewaltigungsfall auf Mallorca, bei dem eine junge deutsche Urlauberin von vier Männern aus Hessen missbraucht worden sein soll. Der Vorfall wurde wiederholt zum Anlass genommen, um eine strikte Unterscheidung zwischen autochthonen Deutschen und vermeintlich nicht-integrierbaren „Pass-Deutschen“ insbesondere türkischer Abstammung zu propagieren.

Vor allem ein entsprechender Facebook-Eintrag der AfD-Bundestagsabgeordneten Alice Weidel erhielt von einer Vielzahl von Mitgliedern und Organisationseinheiten auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände Zuspruch und wurde dementsprechend häufig weiterverbreitet. So teilte unter anderem der Kreisverband Unterallgäu/Memmingen (BY) am 7. Juli 2018 den besagten Beitrag Weidels, in dem diese Fotos der Tatverdächtigen veröffentlichte und dazu schrieb:

„Gruppenvergewaltigung auf Mallorca: Das sind keine Deutschen!“

Hierzu weiter:

„Bei den mutmaßlichen Tätern soll es sich um vier Männer aus Hessen handeln, die in den Medien als ‚Deutsche‘ kolportiert werden. Richtigerweise handelt es sich bei den Vergewaltigern jedoch um Passdeutsche bzw. Deutsch-Türken. Warum der Blätterwald dieses Detail weitestgehend verschweigt, ist offensichtlich: Angesichts der zahlreichen sexuellen Übergriffe durch Migranten sucht man händeringend nach deutschen Tätern, im Bemühen, die Statistik nicht zu bunt werden zu lassen. Dabei ist es höchste Zeit, Ross und Reiter endlich beim Namen zu nennen!“[739]

In ihren Ausführungen spricht Alice Weidel den mutmaßlichen Tätern ab, echte Deutsche sein zu können, und betont, es handle sich lediglich um „Passdeutsche bzw. Deutsch-Türken“. Allein aufgrund ihres mutmaßlichen Migrationshintergrunds und trotz deutscher Staatsbürgerschaft wird den tatverdächtigen Männern abgesprochen, Deutsche sein zu können. Wer faktisch deutsch ist, wird ihrer Ansicht nach also nicht durch einen deutschen Pass definiert, sondern rein ethnisch-kulturell begründet. Weidel deutet zudem an, Menschen mit Migrationshintergrund neigten in deutlich höherem Maße zu sexuellen Straftaten als autochthone Deutsche. Damit schreibt sie zugewanderten Personen kriminelle Eigenschaften allein auf Basis ihrer Herkunft zu und setzt diese damit in ihrer Menschenwürde herab.

Den Beitrag Weidels teilten am 7. Juli 2019 auch die AfD-Kreisverbände Ravensburg (BW)[740] und Dithmarschen (SH)[741] auf ihren Facebook-Profilen.

Am selben Tag thematisierte auch der AfD-Kreisverband Stuttgart (BW) den Vergewaltigungsfall auf Facebook:

„Was wollen die Mainstreammedien den Bürgern hier verkaufen? Warum werden nicht Ross und Reiter genannt? Apropos; Kater die in einem Pferdestall zur Welt kommen, sind Kater und keine Pferde. Vor 2015 waren Gruppenvergewaltigungen in Deutschland unbekannt. Massenvergewaltigungen sind und waren nie Bestandteil deutscher Kultur.“[742]

In diesem Beitrag demonstriert der Kreisverband Stuttgart sein ethnisch-biologistisches Volksverständnis. Neben den ausgrenzenden Tendenzen enthält der Vergleich von in Deutschland geborenen Menschen mit Migrationshintergrund mit in Pferdeställen geborenen Katern eine rassistische Abwertung. Türkischen Migrantinnen und Migranten wird nicht nur jegliche Integrationsfähigkeit per se abgesprochen, sonder ihnen wird indirekt der Vorwurf gemacht, Gruppenvergewaltigungen seien ihrer kulturellen Herkunft geschuldet und bis dato „nie Bestandteil deutscher Kultur“ gewesen.

Der Kreissprecher der Stuttgarter AfD Andreas Mürter teilte den Beitrag seines Verbands am darauffolgenden Tag auf seinem eigenen Facebook-Profil.[743]

Dass eine Sozialisation – trotz deutscher Staatsangehörigkeit – stets innerhalb der Herkunftskultur verlaufe und der Hang zur Gewalttätigkeit mit der kulturellen Herkunft der vier Deutsch-Türken zusammenhänge, behaupten auch der Kreisverband Mühldorf am Inn (BY) und der Kreisverband Kassel-Stadt (HE). Ersterer äußerte sich in einem Facebook-Beitrag vom 7. Juli 2019 wie folgt zum Vergewaltigungsfall:

„4 Deutsche? Ist denn wirklich jeder der einen deutschen Pass hat auch der Sozialisierung nach ein Deutscher? Gerade der Fall einer Gruppen-Vergewaltigung in Mallorca durch die 4 ‚Deutschen mit Migrationshintergrund‘ wie so schön politisch korrekt heißt, zeigt hier ein völlig anderes Bild …“[744]

Der Kasseler Kreisverband führt die Vergewaltigungstat am Folgetag explizit auf „die im islamischen Kulturraum verbreitete Ansicht, Frauen seien Menschen zweiter Klasse“, zurück und spielt damit ebenfalls auf die Herkunftskultur der mutmaßlichen Täter an. Menschen aus diesem Kulturraum hätten „nur allzu häufig mit der deutschen Kultur und Lebensweise nichts zu tun“[745]

Vergleichbare Beiträge wurden zwischen dem 5. und 8. Juli 2019 durch die AfD-Kreisverbände Stormarn (SH)[746] und Ravensburg (BW)[747] sowie durch den Vorsitzenden des Kreisverbands Pinneberg (SH) Michael Poschart[748] verbreitet.

Das Weiteren lassen sich exemplarisch weitere Verlautbarungen aufzeigen‚ in denen zumindest der Begriff „Pass-Deutsche[r]“ oder „Passdeutsche[r]“ in Abgrenzung zur ethnisch deutschen Bevölkerung von AfD-Verbänden und -Mitgliedern verwendet werden.[749][750][751][752]

Diese typische Dichotomie wird zumeist jedoch auch ohne explizites Aufgreifen des Begriffs „Pass-Deutsche“ – insbesondere anhand von ausgewählten Fallbeispielen – thematisiert. Neben dem bereits skizzierten Vorfall auf Mallorca werden immer wieder Straftaten von Migrantinnen und Migranten oder vermeintlich kulturfremden Einzelpersonen des öffentlichen Lebens in den Blick genommen.

Zum Beispiel teilte der AfD-Kreisverband Herford (NW) am 8. Mai 2019 auf Facebook einen Eintrag von Michael Tauck, Mitglied der AfD-Bezirksfraktion in Hamburg-Mitte (HH), welcher vor dem Hintergrund eines Artikels der BILD-Zeitung über einen Syrer mit drei Ehefrauen und vierzehn Kindern dessen Bemühungen um die deutsche Staatsbürgerschaft kritisierte:

„Bravo 3 Frauen und 13 Kinder und der will Deutscher werden und wenn es nach der SPD geht, denn kann er den deutschen Pass bekommen. Auch wenn er nur wegen dem Pass noch lange kein Deutscher ist, muss dieser Irrsinn gestoppt werden. Hier ist Deutschland und hier gelten unsere Regeln. Es ist an der Zeit, daß das Deutsche Volk endlich wieder aufersteht. Lasst uns gemeinsam das Land zurückholen und lasst uns uns unsere Kultur und unseren Glauben vereidigen und erhalten.“[753]

Die Thematisierung und gegebenenfalls auch scharfe Kritik an Verhaltensweisen Einzelner, im vorliegenden Fall der Vielehe, ist nicht verfassungsschutzrelevant. Mit der Äußerung, dass man „wegen dem Pass noch lange kein Deutscher“ sei, deutet Tauck jedoch ein ethnisch-homogenes Staatsvolkverständnis an. Der Ausspruch, man müsse sich „gemeinsam das Land zurückholen“, und die Aufforderung, das Deutsche Volk müsse wieder auferstehen, unterstreichen dieses Verständnis. Zudem fordert Tauck die ethnisch-kulturell gedachten Deutschen auf, sich gegen Migration zur Wehr zu setzen.

In vergleichbarer Weise äußerten sich darüber hinaus die AfD-Kreisverbände Kleve (NW)[754] und Neunkirchen (SL)[755] auf Facebook bzw. Twitter.

Der AfD-Kreisverband Aichach-Friedberg (BY) veröffentlichte am 9. September 2019 auf Facebook einen Kommentar zu einem BILD-Artikel, welcher über einen Deutschen mit Migrationshintergrund berichtete, der sich wegen eines Raubüberfalls vor Gericht verantworten musste. Der Beitrag knüpft wie die vorherigen an ein ethnisch-homogenes Staatsvolkprinzip an. So wird dem Angeklagten durch den Kreisverband Kleve allein aufgrund seines arabischen Namens und seines äußeren Erscheinungsbildes abgesprochen, vollwertiger Deutscher sein zu können.[756]

Auch der AfD-Kreisverband Kaiserslautern (RP) bezeichnete die deutsch-iranische Journalistin Isabel Schayani, die in der Tagesschau die Aufnahme von 47 Flüchtlingskindern in Deutschland kommentierte, am 19. April 2020 auf Facebook aufgrund ihrer Herkunft als „Ausländerin“. So äußerte der Verband in diffamierender Weise:

„Wer sich den Tag versauen will der höre sich die Ausländerin vom WDR-Flüchlingssender an, die uns sagt, wo es langgeht.[757]

Die Beiträge zeigen exemplarisch, wie die AfD-Funktionärinnen und Funktionäre bzw. Organisationseinheiten auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände Migration nach Deutschland und damit einhergehende gesellschaftliche Pluralisierungsprozesse im Allgemeinen interpretieren und als existenzielle Bedrohung für die deutsche Identität darstellen. Im Sinne eines ethnisch-homogenen Staatsvolkverständnisses werden Menschen mit Migrationshintergrund aufgrund ihrer ethnischen Herkunft – trotz Einbürgerung bzw. deutscher Staatsbürgerschaft – vom deutschen Volk ausgeschlossen.

Eines der wesentlichen als identitätsgefährdend wahrgenommenen, kulturellen Feindbilder bildet der Islam, welcher wiederholt als mit der deutschen bzw. westlichen Werteordnung unvereinbar stilisiert und daher grundsätzlich kritisch bis ablehnend betrachtet wird. Deutschland und Europa stünden in einem antagonistischen Verhältnis zur islamischen Welt. Eine Vermengung beider Kulturen führe mittelfristig zu einem Kulturkampf und schlussendlich zur Zerstörung der eigenen Kultur.

So teilte z. B. der AfD-Kreisverband Herford (NW) am 4. April 2019 auf Facebook einen Artikel der Internetssite Anonymousnews.ru mit dem Titel „Pöbel-Ralle räumt Posten für Muslima: Türkin wird neue SPD-Vorsitzende in Schleswig-Holstein“, in welchem der SPD-Politikerin Serpil Midyatli aufgrund ihres türkischen Migrationshintergrunds das „Deutschsein“ abgesprochen und zudem der Vorwurf gemacht wird, sie treibe insgeheim die Islamisierung Deutschlands voran. So hieß es im Artikel:

„Nach 12 Jahren an der Parteispitze in Schleswig-Holstein tritt SPD-Widerling Ralf Stegner ab und gibt das Zepter an Serpil Midyatli weiter. Die Türkin folgt Stegner als neue Vorsitzende und stellt damit eindrucksvoll unter Beweis, dass die Sozialdemokraten auch in den eigenen Reihen gern mit gutem Beispiel vorangehen, wenn es um die Islamisierung unserer Heimat geht. Für die Sozis in Schleswig-Holstein ist es wohl ein herber Verlust. Der Wähler-Liebling Ralf Stegner gibt nach 12 Jahren das Amt des Landesvorsitzenden ab. Der schmierige SPD-Politiker, der innerhalb seiner Partei zum linksextremen Flügel gezählt wird, übergibt die Verantwortung nun vertrauensvoll im Sinne der Islamisierung Deutschlands in die Hände der Türkin Serpil Midyatli.“[758]

Die in Kiel geborene Landesvorsitzende der SPD Schleswig-Holstein, Serpil Midyatli, besitzt sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsbürgerschaft. Sie wird in diesem Artikel trotz der deutschen Staatsangehörigkeit mehrfach als „Türkin“ bezeichnet, was ihr in despektierlicher Weise absprechen soll, Deutsche sein zu können. Zudem wird ihr aufgrund ihrer islamischen Glaubenszugehörigkeit vorgeworfen, sich in ihrer politischen Arbeit nicht für die Belange des gesamten Volkes einzusetzen, sondern insgeheim die Islamisierung Deutschlands voranzutreiben. Ihre Tätigkeit als Landesvorsitzende sei Beweis dafür, dass die SPD „auch in den eigenen Reihen mit gutem Beispiel vorangehe[n], wenn es um die Islamisierung unserer Heimat geht.“ Der Kreisverband Herford kommentierte den Artikel mit dem ironisch konnotierten Wortlaut „Aber eine Islamisierung findet nicht statt“[759] und macht somit deutlich, dass er dem Inhalt sowie der Theorie einer fortschreitenden Islamisierung Deutschlands beipflichtet.

Will Wagner, ehemaliger Bundestagskandidat der AfD und Sprecher des Kreisverbands Lahn-Dill (HE), veröffentlichte am 18. März 2019 auf seiner Facebook-Seite folgenden Eintrag:

„Auch Özil hat nur eine Heimat! Es gibt für einen Menschen immer nur eine Heimat und für M. Özil kann dies nur die Türkei sein. Wer zu seiner Hochzeit seinen muslimischen Präsidenten R.T. Erdogan einlädt, dessen Herz hängt an der Türkei und nicht an Deutschland. Wie soll man in Deutschland Leute assimilieren, die der muslimischen Kultur zuzuordnen sind? Özil hätte für die Türkei spielen müssen und nicht für die deutsche Nationalmannschaft, die ja absichtlich nur nach Mannschaft genannt wird. Unser Bundestrainer J. Löw sollte aufhören ständig gute Spieler mit Migrationshintergrund zu suchen, damit die Quote erfüllt wird. Er sollte schlicht und einfach nach Leistung aufstellen und auch eine Nationalmannschaft ohne Spieler mit Migrationshintergrund in Betracht ziehen. Wir müssen endlich Wahrheiten zur Kenntnis nehmen! Für über 50% der Muslime in Deutschland ist der Koran wichtiger als das Grundgesetz. Für viele Menschen fremder Kulturen zählt nur die Religionsfreiheit (Art. 4 GG) als wichtig. Und dies heißt für Muslime: Ich lebe nach den Suren des Korans. Die im Grundgesetz enthaltenen Menschenrechte, der Gleichberechtigungsartikel, die Gewaltenteilung sind für die meisten Migranten Unbekannte und nicht gültige Gesetze. Nur der Koran ist die Grundlage ihres Lebens. Auch Kopftuchverbote für Mädchen unter 14 (WNZ, 18.3.2019, S. 3) wird die Gegensätze nicht überwinden. Die Spaltung unserer Gesellschaft als Folge der Multi-Kulti-Gesellschaft wird weitergehen. Kriege‚ Bürgerkriege und Terrorismus werden weltweit weiter zunehmen. Dies ist die Wahrheit! Die Lösung beseht nicht in der sichtlich gescheiterten Durchmischung. Es muss christliche und muslimische Staaten geben, die sich durch Grenzen schützen. So wie vor ca. 2000 Jahren die Römer und die Germanen, die durch den Limes geschützt in ihren eigenen Territorien lebten. Handel war auch damals möglich, Integration nicht.“[760]

Wagner fordert – ausgehend vom Beispiel einer Nationalmannschaft ohne Spieler mit Migrationshintergrund – die Schaffung einer ethnopluralistischen Weltordnung. Anhand eines historischen Beispiels veranschaulicht er die vermeintliche Inkompatibilität zwischen gegensätzlichen Kulturen und betont, eine „Durchmischung“ muslimischer und christlicher Kultur sei Ursache gesellschaftlicher Missstände. Zunehmende Spaltungsprozesse, Bürgerkriege und weltweit wachsender Terrorismus seien die unmittelbare „Folge der Multi-Kulti-Gesellschaft“.

Am 23. April 2019 veröffentlichte Willi Wagner auf seiner Facebook-Seite außerdem folgenden Beitrag, der die Notwendigkeit einer ethnisch-kulturell homogenen Gesellschaft zur Verhinderung von Terrorismus und Kurkurkämpfen behauptet:

„Was sind die realen Gefahren für den Frieden auf der Erde? Die Zahl der Toten in Sri Lanka ist auf 310 gestiegen, Verletzte gibt es über 500. Unzählige muslimische Terroristen haben sich in christlichen Kirchen mit unschuldigen Personen in die Luft gesprengt. Erinnerungen an den 11. September 2001 werden wach. Die damaligen muslimischen Anschläge verursachten den Tod von fast 3000 Menschen und gelten als Massenmond durch Muslime. Und nun mache ich eine von unseren Politikern und unseren Medien nicht gewünschte Analyse: Sri Lanka ist wie die USA ein Multi-Kulti-Land, eine heterogene Bevölkerung. In Sri Lanka haben wir 70% Buddhisten; 12,6% Hindus; 9,7% Muslime und 7,4% Christen. 10% Muslime in einem Land sind eine überaus gefährliche Situation!!! Sie haben nun im Auftrag des Islams Christen ermordet. Was ist ein Gegenbeispiel zu heterogenen Gesellschaften? Polen! Polen ist ein homogener Staat. Hier leben 95,7% Polen. Über 90% gehören zu katholischen Religionsgemeinschaften. Muslime haben wir hier weniger als 0,03%. Ein friedliches Land und ohne terroristische Gefahren. Ähnliches gilt für das homogene Ungarn. Der Anteil der Muslime beträgt hier nur 0,03%. Fazit: Wer in einem heterogenen Multi-Kulti-Land wohnt, muss mit allem rechnen. Hier lebt man wirklich gefährlich. Und was machen wir in Deutschland? Wir setzen auf einen heterogenen Multi-Kulti-Staat! Diese Entwicklung muss gestoppt und umgekehrt werden.“[761]

Willi Wagner fordert, die Entwicklung Deutschlands zu einem „Multi-Kulti-Staat“ müsse „gestoppt und umgekehrt werden“. Massenabschiebung bzw. Ausweisungen von Musliminnen und Muslimen zur Schaffung eines ethnisch-kulturell homogenen deutschen Staates wären somit direkte Folge seines Postulats.

Während die bisherigen Äußerungen mehrheitlich von einer gemeinsamen kulturellen Verbindung zwischen Christentum und Judentum ausgingen und den Islam als störendes Element identifizierten, richten sich Forderungen nach einer deutschen homogenen Kultur auch ausgrenzend gegen Juden. Am 28. Februar 2020 wurde bekannt, dass sich in Würzburg (BY) mit dem AfD-Kreisvorsitzenden Herold Peters-Hartmann und dessen Stellvertreter Silvio Kante (mittlerweile Vorsitzender des Kreisverbands Würzburg (BY)) zwei AfD-Stadtratskandidaten für die Kommunalwahl am 15. März 2020 herablassend über jüdische und muslimische Menschen geäußert hatten:

„Wir haben hier ein Problem. Wir haben hier in Deutschland ein ganz großes Problem. Wir haben hier die Blöcke. Einmal wir, die Christen, dann haben wir nochmal einen Block der sehr viel Einfluss hat. Wirtschaftlich[undeutlich] nachkulturell. Äähm. Das sind die Menschen des Blocks der Juden, des jüdischen Glaubens. Und dann haben wir die Muslime.“

Auf Nachfrage des YouTubers wiederholte der AfD-Kreisvorsitzende seine Haltung gegenüber Juden:

„Nein, die haben sehr viel mehr Macht, sehr viel Einfluss.“

Der YouTuber warf ein, ob es nicht gut für eine Demokratie sei, dass es kein homogenes Volk und viele verschiedene Ansichten gebe, woraufhin Peters-Hermann unverzüglich konterte:

„Homogenes Volk, das wär… das wär ein Traum. Das wär ein Traum.“[762][763][764]

Der Würzburger AfD-Kreisvorsitzende äußert sich in dem Video eindeutig völkisch, indem er ein ethnisch-kulturell homogenes Volk als erstrebenswert darstellt. Peters-Hartmann bezeichnet die drei Religionen – ganz im Sinne der ethnopluralistischen Erzählung – als miteinander unvereinbare, voneinander abgrenzbare „Blöcke“, deren Koexistenz er in Deutschland als problematisch erachtet. Die Feststellung, vor allem der jüdische Block habe wirtschaftlich sehr viel Einfluss, zeugt überdies von der antisemitischen und verschwörungstheoretischen Haltung Peters-Hartmanns.

Am 3. März 2020 wurde bekannt, dass der AfD-Bezirksverband Unterfranken gegen Herold Peters-Hartmann und Silvio Kante parteiintern vorging und deren Amtsenthebung sowie eine zweijährige Sperre für alle Parteiämter beim Parteischiedsgericht beantragte. Einer der stellvertretenden AfD-Landesvorsitzenden erklärte weithin die Distanzierung des bayerischen AfD-Landesverbandes von beiden Würzburger AfD-Funktionären und entschuldigte sich für deren Aussagen. Silo Kante wurde jedoch nicht nur weiterhin als stellvertretender Vorsitzender des Kreisverbands Würzburg eingesetzt, er wurde am 18. Juli 2020 sogar zum ersten Vorsitzenden gewählt. Angaben zur Person des ehemaligen Vorsitzenden Peters-Hartmanns liegen nicht vor.[765][766][767]

Exemplarisch wurden bis hierher Verlautbarungen verschiedener AfD-Organisationseinheiten und -Mitglieder auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände untersucht, um festzustellen, inwieweit diese auf Basis eines ethnisch-biologistischen und/oder ethnisch-kulturellen Volksverständnisses eine spezifisch „deutsche Identität aus der Abgrenzung nach außen bzw. der Ausgrenzung von als „fremd“ definierten Gruppen konstruieren. Es konnte belegt werden, dass der Großteil der in diesem Kontext aufgezeigten Social-Media-Beiträge tatsächliche Anhaltspunkte für ein ethnisch-kulturelles Volksverständnis enthält. Ein Teil der Äußerungen zeugt explizit von der Konstruktion eines spezifischen „Deutschseins“, eines Selbstbilds, das sich insbesondere durch das Kriterium der ethnisch-deutschen Abstammung konstituiert und durch wiederkehrende Schlagworte wie „Heimat“, „Werte“, „Traditionen“ und „Kultur“ stilisiert wird. Was unter dem „Eigenen“ – dem „Deutschsein“ – zu verstehen ist, ergibt sich in einer Vielzahl der Beiträge, aber vor allem in der Abgrenzung zum „Fremden“ bzw. insbesondere in der Ausgrenzung des „Fremden“. Die konstruierten Distinktionsmerkmale sind dabei vornehmlich ethnischer und kultureller Ausprägung. In der Konsequenz erscheint vor diesem Hintergrund Zuwanderung von als „fremd“ definierten Volksgruppen nach Deutschland unerwünscht, da sie den vielfach postulierten ethnisch-homogenen deutschen Volkskörper „verwässern“. Einer Integration kulturfremder Migrantinnen und Migranten begegnen die meisten Verlautbarungen daher mit Ablehnung, wohingegen eine völlige Assimilation und Aufgabe der Ursprungskultur vereinzelt noch gebilligt wird.

Folgt aus der Wahrnehmung von Migration als existenzbedrohendem Phänomen ein identitäres Politik- und Staatsverständnis, welches eine pauschale Ausgrenzung, Diskriminierung und Ungleichbehandlung von Menschen mit Migrationshintergrund auf Grund ethnischer Kriterien rechtfertigt, berührt dies den Menschenwürdekern der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.

In den Verlautbarungen der AfD auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände werden wiederholt Angehörige bestimmter Nationalitäten oder ganze Religionsgruppen in menschenwürdewidriger Weise vom Volksbegriff ausgeschlossen, da sie hinsichtlich ihres Äußeren nicht dem „deutschen“ Phänotyp entsprechen oder als ihrer Natur nach mit den „westlichen Werten“ inkompatibel oder identitätsgefährdend wahrgenommen werden. So werden in einer großen Anzahl der angeführten Beiträge deutsche Staatsbürger mit Migrationshintergrund abwertend als „Pass-Deutsche“ bezeichnet. Dies suggeriert, dass diese sich in ihrer Wertigkeit von der autochthonen Bevölkerung unterscheiden oder gar unrechtmäßig in Deutschland aufhalten. Dies betrifft in den untersuchten Verlautbarungen neben dunkelhäutigen Menschen aus Afrika zumeist Migrantinnen und Migranten aus dem Nahen Osten und/oder Angehörige der islamischen Glaubensgemeinschaft. Der Islam bildet dabei eines der wesentlichen als identitätsgefährdend wahrgenommenen kulturellen Feindbilder und wird grundsätzlich kritisch bis ablehnend betrachtet. Die immer wieder heraufbeschworene Verschwörungstheorie von der drohenden Islamisierung Deutschlands rekurriert auf die völkisch-nationalistische Vorstellung, dass eine Vermengung der unterschiedlichen und als inkompatibel wahrgenommenen Kulturen des Islam und der westlichen Wertegemeinschaft schlussendlich die Destruktion des deutschen Volkes herbeiführe.

Wenngleich ein Großteil der bislang aufgeführten Äußerungen bereits eine wertende Komponente hinsichtlich der als fremd definieren Volksgruppen enthält und diese vom Volksbegriff ausschließt, so handelt es sich hierbei oftmals noch nicht um eine strenge Hierarchisierung der Vergleichspuppen, wie sie für völkisch-nationalistische Gesellschaftsbilder ebenfalls typisch ist. Zu prüfen ist daher, ob von Seiten der Mitglieder und Organisationseinheiten der AfD auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände Aussagen vorliegen, die auf eine direkte Hierarchisierung zum Nachteil spezifischer Volksgruppen und/oder Religionsgemeinschaften bei gleichzeitiger Erhöhung der eigenen Kultur bzw. des eigenen Volkes schließen lassen.

Von einem spezifischen kulturellen Relativismus zeugt ein Facebook-Eintrag des AfD-Kreisverbands Bodenseekreis (BW) vom 11. Juni 2019 anlässlich eines Artikels der Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT über steigende Asylanträge in Europa:

„Das hört nicht auf, solange die Bunten die Macht haben, dieses Land zu ruinieren. Es ruiniert erst den Sozialstaat und die Mietpreise und dann endgültig den inneren Frieden und ist Teil der ‚großen Transformation‘ dieses Landes von unserer Heimat in ein Multikultiterritorium mit eingewanderten vormodernen Kulturen, Frauenbildern und Ehrauffassungen, in dem die Eingeborenen die Zeche zahlen sollen.“[768]

Der AfD-Kreisverband Bodenseekreis befürchtet einen migrationsinduzierten Verfall der eigenen Heimat, welche sich allmählich zu einem „Multikultiterritorium“ entwickle. Durch die fortlaufende Zuwanderung von Menschen mit angeblich „vormodernen Kulturen, Frauenbildern und Ehrauffassungen“ müssten die „Eingeborenen“ in Europa letztlich „die Zeche zahlen“. In phobischer Weise werden allgemeine Migrationsprozesse somit als existenzielle Gefahr für die autochthone Bevölkerung und den Fortbestand von Europas Zivilisation und Wohlstand imaginiert.

In ähnlicher Weise argumentierte auch Reiner Koch, ehemaliger Vorsitzender des AfD-Kreisverbands Ahrweiler (RP), in einem Facebook-Beitrag, der von den Kreisverbänden Ahrweiler und Kaiserslautern (beide RP) am 4. Oktober 2019 geteilt wurde. Darin kommentierte er einen Artikel der Berliner Zeitung über Abschiebemaßnahmen wie folgt:

„Bevölkerungsaustausch? Die Anreicherung der deutschen Bevölkerung mit hunderttausenden afrikanisch-arabischen Männern von höherer Aggressivität, niederer Qualifikation und wahrscheinlich auch insgesamt geringerer Durchschnittsintelligenz ist gewünscht, anders ist diese Politik nicht zu verstehen.“[769]

Koch behauptet in verschwörungstheoretischer Manier, die Bevölkerung solle durch „hunderttausende afrikanisch-arabische Männer von höherer Aggressivität, niederer Qualifikation und wahrscheinlich auch insgesamt geringerer Durchschnittsintelligenz“ angereichert werden und stellt dies in den Kontext eines vermeintlichen „Bevölkerungsaustauschs“.

Auf ähnliche Weise argumentiert ein Facebook-Eintrag des AfD-Stadtverbands Frankfurt a. d. Oder (BB) anlässlich eines Videos, in welchem der AfD-Bundestagsabgeordnete Steffen Kotré über die dauerhafte Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen im Rahmen des EU-Resettlement-Programms referiert:

„Also doch erfolgt der ‚VOLKSAUSTAUSCH‘! Wieso werden wir als Bürger nicht gefragt, ob wir diese ganzen Afrikaner hier haben wollen? Warum wurde das im Bundestag nicht offiziell beschlossen? Also doch erfolgen über die unkontrollierte Masseneinwanderung hinaus zusätzlich die Aufnahme von tausenden Afrikanern jährlich als Ansiedlungsprogramm in Deutschland! Natürlich bekommen die alle Sozialleistungen wie die, die hier arbeiten und dieses System am laufen halten. Ein gesteuertes Ansiedlungsprogramm, dass durch die Europäische Union forciert und angeordnet wunde. Warum werden die Gelder nicht dafür eingesetzt, dass Deutsche mehr Kinder bekommen? Wollen die Bürger wirklich, dass Deutschland ‚umgevolkt‘ wird? Was läuft denn hier für eine ‚SCHEISSE‘ ab? (WM)“[770]

Eine weitere Kosten-Nutzen-Rechnung, welche letztlich in eine pauschale Abwertung zulasten von Flüchtlingen in Deutschland mündet, stell Holger Winterstein (TH) in einem Facebook-Eintrag vom 14. April 2020 auf, in weichem er die Aufnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge kommentierte:

„Ganz davon abgesehen was man von diesen lieben Kindern und ihrer Integrationswürdigkeit hält: in Thüringen waren die Zahlen, lt. parlamentarischer Anfrage 2018 so: ‚Die Versorgung, Unterbringung und Betreuung eines einzelnen UMA kostet monatlich durchschnittlich 3.399 Euro.‘ So viel kann eine deutsche Arbeiterfamilie, nicht für jedes ihrer richtigen Kinder monatlich ausgeben. Das ist insofern eine Schande, dass wir natürlich zu gar nichts verpflichtet sind, außer dem Wohl unseres Volkes. Man fördert durch dieses vorauseilende Wohlwollen, eine Art Brutparasitismus.“

Mit dem Begriff des „Brutparasitismus“ nimmt Winterstein einen stark verunglimpfenden Vergleich zu Tieren vor, welche ihr Gehege nicht selbst bebrüten, sondern dieses von Ersatzeltern bzw. Wirten ausbrüten lassen. Der Hinweis, dass man lediglich dem deutschen Volke verpflichtet sei, deutet überdies ein völkisches Argumentationsmuster an. In einem dazugehörigen Kommentar schrieb Winterstein:

„[H]auptsächlich hat man wahrscheinlich auf Dauer was dagegen, dass wir die Mehrheit bilden. Geht zwar alles langsamer als von Theodore N. Kaufman vorgeschlagen, aber immerhin. Lernen kann man daraus aber. Ich will natürlich keine nagativeugenischen Betrachtungen anstellen. Aber so ein wenig mehr wir, müsste schon ins Bewusstsein der Menschen.“[771]

Winterstein greift somit auf ein als „Kaufman-Plan“ bekanntes Traktat nationalsozialistischer Propaganda zurück, um den Vorwurf der gezielten Schädigung des deutschen Volkes zu begründen. Der Amerikaner Theodore N. Kaufman hatte für eine Sterilisierung aller Deutschen nach Kriegsende plädiert, um die Welt vor einer vermeintlich angeborenen Kriegsneigung der Deutschen zu bewahren. Er wolle zwar, so Winterstein, keine „keine nagativeugenischen Betrachtungen anstellen“, also nicht explizit über die Verbreitung von als mangelhaft bewerteten Erbanlagen in einer Population sinnieren, doch brauche es im Bewusstsein der Deutschen „so ein wenig mehr wir“, um die prognostizierte Schädigung der Deutschen abzuwenden. Damit bedient er sich indirekt des nationalsozialistischen Sprachduktus der Eugenik bzw. Rassenhygiene. Der Rückgriff auf solche biologisch-rassistisch begründeten Distinktionsmerkmale sowie auf Sprachelemente aus dem NS-Jargon weist auf eine rechtsextremistische und völkische Wellsicht Wintersteins hin.

Migrantinnen und Migranten – insbesondere solchen mit muslimischer Prägung – wird überdies in vielen Aussagen ein grundsätzlicher kollektiver Hang zu negativen und gewalttätigen Verhaltensweisen zugeschrieben. Dabei verbinden sich fremdenfeindliche Argumentationsmuster mit völkischen Ideologieelementen. Teilweise wird in den Äußerungen im übertragenen Sinne ein Kriegsszenario heraufbeschworen, demzufolge ein existenzieller Kampf um das deutsche Hoheitsgebiet – zwischen fremdkulturellen „Invasoren“ und der autochthonen Bevölkerung ausgefochten werde. Ausdruck dieses Kulturkampfes seien die unzähligen Gräueltaten der „Besatzer“, welche sich vermeintlich in den Zahlen der Kriminalstatistiken widerspiegelten und von Körperverletzungsdelikten über Sexualstraftaten bis hin zu Mord und Totschlag reichten.

So verlinkte der AfD-Kreisverband Vorpommern-Rügen (MV) am 15. August 2019 auf seiner Facebook-Seite einen Artikel des neurechten COMPACT-Magazins vom 28. Juli 2018 mit der Schlagzeile „‚Verzeichnis der Schande‘: Unsere toten und vergewaltigten Frauen – beschwiegen und ignoriert“. Die ersten Zeilen des Artikels zitierte der Kreisverband in seinem Eintrag:

„Seit Herbst 2015 hat sich etwas verselbständigt, das unfassbar ist: Das Ermorden und Vergewaltigen (überwiegend) deutscher Frauen – das Gewöhnen an diese Gräuel, die Akzeptanz von Ausländergewalt, wie von der Kanzlerin gefordert.“[772]

In dem Artikel des COMPACT-Magazins selbst wurde darüber hinaus ausgeführt:

„In dem ‚Verzeichnis der Schande‘ wird eine Gewalt dokumentiert, die in ihrer Fülle kaum zu begreifen ist. Eine Gewalt gegen das deutsche Volk, gegen die deutsche Frau, die von einer Regierung des Volksverrats im Rautenbunker geduldet, ermöglicht und verursacht wurde und wird. Hier wird deutlich: Es findet ein Krieg gegen die Deutschen statt, der seine Angriffsfläche in politischer Selbstaufgabe und seine Nahrung im anerzogenen Schuldkult, im Selbsthass der Deutschen findet. Dieser Krieg findet statt von innen: durch die Politiker – und von außen: durch kulturfremde Gruppenvergewaltiger, Messerstecher, Totschläger und Mörder. Deutsche werden gejagt, vergewaltigt, geschlagen, gemessert, vertrieben, ermordet – im eigenen Land.“[773]

Die Gegenüberstellung von „kulturfremden“ Straftätern und dem in der Opferrolle befindlichen „deutschen Volk“, vornehmlich der deutschen Frau, lässt ein völkisches Weltbild erkennen, das auf einer ethnisch-kulturellen Grundlage in dichotomer Weise zwischen Tätern und Opfern unterscheidet, die sich in einem Kriegszustand gegenüberstünden. So würden Deutsche durch insbesondere männliche Migranten und Flüchtlinge regelrecht „gejagt, vergewaltigt, geschlagen, gemessert, vertrieben[und] ermordet“.

In einem von Adolf Frerk verfassten und auf der Website des Kreisverbands Kleve (NW) am 4. August 2019 veröffentlichten Artikel spricht der Autor im Zusammenhang mit von Flüchtlingen begangenen Tötungsdelikten ebenfalls von einem stattfindenden „Kleinkrieg“. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Formulierung „schleichender Genozid“ und prognostiziert damit auf lange Sicht eine gezielte Vernichtung des deutschen Volkes:

„Wie lange soll denn der Kleinkrieg gegen die einheimische Bevölkerung noch andauern? Ein bekannter Autor spricht sogar von einem ’schleichenden Genozid‘, der in Deutschland stattfindet. Daher brauchen wir endlich eine harte Ausländerpolitik ohne Scheuklappen und eine unerbittliche Justiz. Leider werden die Möglichkeiten des deutschen Strafgesetzbuches für Täter wie die von Voerde und Frankfurt häufig nicht ausgeschöpft. Die paar Jährchen Knast bei Vollversorgung und gepflegter Unterhaltung schrecken doch keine Geschöpfe halbbarbarischer Kulturkreise ab! Freiheit, Gleichheit und Humanität sind für die gleichbedeutend mit Schwäche und Dummheit. Und darum muss erstens für die Festung Europa, zweitens für wirklich abschreckende Strafen und drittens für die gesellschaftliche Ächtung der Migrationslobby plädiert werden.“[774]

Indem Frerk eine restriktivere Asyl- und Migrationspolitik in diesem Beitrag zur absoluten Schicksalsfrage für Deutschland stilisiert und Ausländer und Flüchtlinge pauschalisierend als „Geschöpfe halbbarbarischer Kulturkreise“ verunglimpft, die – bedingt durch ihre angeblich naturgegebene hohe Gewaltaffinität – einen veritablen Kleinkrieg gegen die einheimische Bevölkerung führten, äußert er sich in menschenwürdewidriger Weise. Der missbräuchliche Verweis auf den Begriff „Genozid“ verharmlost überdies das Ausmaß historischer Völkermorde.

Einen ähnlich anmutenden Beitrag Frerks veröffentlicht der AfD-Kreisverband Kleve am 16. Mai 2020 auf seiner Website:

„Inzwischen ist die Soldateska von 1945 von neuen Besatzern abgelöst worden, den sogenannten Bereicherern. Auch diese leben auf Kosten Deutschlands (über 50 Milliarden Euro jährlich), begehen nahezu straflos schwerste Verbrechen (Köln Neujahr 2015/2016), missachten unsere Kurkur (Aydan Ozoguz und Konsorten), verbreiten eine neue Ideologie, die ebenso gefährlich ist wie der Faschismus. Mit Hilfe von Kollaborateuren und Masochisten (‚Nie wieder Deutschland!, Deutschland verrecke!, Tod dem deutschen Volk!‘) sind sie dabei zu verwirklichen, was die Sieger von 1945 nicht geschafft hatten, nämlich die Abschaffung des deutschen Volkes.“[775]

Adolf Frerk erklärt die Aufnahme von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten zur Schicksalsfrage für das deutsche Volk und bedient sich dabei bewusst einer kriegsmetaphorischen Rhetorik, um seiner Verlautbarung Nachdruck zu verleihen. Flüchtlinge und Zugewanderte bezeichnet er als „neue Besatzer“, welche die „Soldateska von 1945“ abgelöst hätten. Ähnlich wie damals gewalttätig und rücksichtslos vorgehende Soldaten begingen die vermeintlichen „Besatzer“ nun „schwerste Verbrechen“ und verbreiteten zudem eine Ideologie, die ebenso gefährlich sei wie der Faschismus, womit Frerk wohl auf den Islam anspielen dürfte. Hier werden Flüchtlinge und Zugewanderte insbesondere aus dem islamischen Kulturraum pauschal in diffamierender Weise als gewalttätige „Besatzer“ herabgewürdigt und als Bedrohung für den Fortbestand des deutschen Volkes stilisiert.

Eines gleichlautenden Sprachduktus bedient sich ein am 27. Oktober 2019 veröffentlichter Facebook-Eintrag von Karl-Ludwig Kunstein, Sprecher des AfD-Kreisverbands Odenwald (HE). Dieser teilt auf seiner Seite den Blogartikel „Merkel plant nun größte Migrations-Invasion aller Zeiten“ des islamfeindlichen Autors und PEGIDA-Anhängers Karl-Michael Merkle alias Michael Mannheimer, welcher anstelle des Begriffs „Besatzer“ von „Invasoren“ und statt „Genozid“ von „Völkermord“ spricht:

„Sie [Anm.: Angela Merkel] wird in die Weltgeschichte eingehen als größte Lügnerin, die die Welt jemals gesehen hat. Und als eine Zerstörerin nicht nur ihres eigenen Landes, sondern eines ganzen Kontinents: Des schillerndsten Kontinents, den die Welt je gesehen hat. […] Das alles wird bald Geschichte sein: Europa soll, wie es die NWO [Anm.: Neue Weltondnung] vorsieht, mit mindestens 200 Millionen Invasoren aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten geflutet werden. In einem Artikel spricht die ‚Schweizer Morgenpost‘ sogar von 300 Millionen Invasoren, die von der EU-Völkermord-Regierung in Brüssel (Juncker, Timmermans) geplant ist. […] Die Kirchen und Kathedralen werden bald zum Großteil in Moscheen umgewandelt sein, wie dies in Frankreich, England und Deutschland längst der Fall ist. Ein Blick in die Städte der EU beweist selbst den dümmsten Linksgrün-Wählern, dass die weißen Europäer am Aussterben sind. Es handelt sich, politisch und juristisch betrachtet (s. Völkerstrafgesetzbuch), um einen klassischen Völkermord, der in seiner Größe und Art und Weise seines Durchziehens einmalig ist in der Geschichte. Dieser Völkermord wird nicht, wie bislang üblich, über den ansonst üblichen Massenmord an einem Volk (im Falle Europas: an den europäischen Völkern), sondern mittels des ‚genialsten aller bisherigen Kriege‘: der Migrationswaffe durchgeführt. […] Die EU transportiert, finanziert und beherbergt eine NWO-Invasionsarmee (fast alle ‚Flüchtlinge‘ sind Männer im Kampfesalter von 15-40 Jahren), deren Auftrag es ist, alle Deutschen und weißen Europäer auszumerzen. Die Europäer werden sukzessive durch andere Völker ersetzt. Schätzungen gehen davon aus, dass in 100 Jahren nur noch eine Minorität von unter zehn Prozent weißer Europäer leben werden. Europa wird zu einem afrikanisch-islamischen Dritte-Welt-Land umgewandelt worden sein. […] Zigtausende seitens von Merkel nach Deutschland und Europa importierten Moslems ermordete Deutsche und Europäer und hunderttausende ebenfalls von diesen Invasoren zu Invaliden geschlagene Bioeuropäer haben sie so wenig berührt wie die größte Vergewaltigungswelle, die Deutschland und Europa in Friedenszeiten jemals erlebt haben.“[776][777]

Der Autor des Artikels warnt vor einem angeblich von Angela Merkel und der Europäischen Union geplanten Austausch der europäischen Völker durch den massenhaften Zuzug von Flüchtlingen. Dieser vermeintliche Massen- und Völkermord richte sich insbesondere gegen die weißen Europäerinnen und Europäer, die von den „Invasoren“ vernichtet werden. Wie genau dieser Austausch stattfinde, lässt er offen. Mannheimer spricht den nach Europa kommenden Flüchtlingen ihre Schutzwürdigkeit ab und behauptet, es handle sich bei ihnen mehrheitlich um junge und kampffähige Männer. Er inszeniert sie als bedrohliche Soldaten und Angehörige einer zerstörerischen „Migrationswaffe“. So hole man sich unter dem Deckmantel der Humanität bewusst seine eigenen Mörder ins Land. Mit einer äußerst martialischen, dramatischen und beleidigenden Rhetorik schildert er ein kriegerisches Szenario, das zu einem Verfall Europas und seiner Hochkultur führe. Bewusst wolle man die „weiße Rasse“ ausrotten und die Entstehung von Mischvölkern forcieren. Damit offenbart er ein rassistisches, antisemitisches und von Verschwörungstheorien geprägtes Menschenbild, demzufolge offenkundig nur ein „richtiger“ Europäer sein kann, der weiß und christlich ist.

In einem Beitrag auf der Website des AfD-Kreisverbands Bielefeld (NW) vom 13. November 2019 wird in ganz ähnlicher Weise von einer „feindlichen Übernahme“ Deutschlands gesprochen, die im Rahmen einer „demografischen Bombe“ – also den durch vermeintlich hohe Reproduktionszahlen rasant anwachsenden muslimischen Bevölkerungsteil – vollzogen werde. Dazu schrieb der Kreisverband:

„Nun gesteht man sich die Islamisierung nicht nur ein, sondern verkündet diese noch als Staatsziel der Bundesregierung, die es zu fördern gilt. Vom Mainstream wird die Sichtweise verbreitet, der Islam sei demokratiekompatibel und gehöre neuerdings zu Deutschland. […] Dazu gehören Themen wie die überdurchschnittliche Ausländerkriminalität, Extremismus, Integrationsverweigerung, Milliardenkosten für die Sozialkassen, kulturfremde und bildungsferne Einwanderung sowie eine epidemische Flüchtlingskriminalität. […] Angesichts der demografischen Bombe, die die rasant ansteigende muslimische Bevölkerungsgruppe im Land darstellt, ist ein konsequentes Gegensteuern dringend erforderlich. An dieser Stelle möchte sich der Autor den Schlussbemerkungen von Thilo Sarrazin im Buch Feindliche Übernahme vollumfänglich anschließen. Dort heißt es: ‚Bei unveränderter demografischer Dynamik und unveränderter Einwanderung ist der Islam in Deutschland und Europa langfristig auf dem Weg zur Mehrheitsreligion. Muslime werden in zwei bis drei Generationen die Bevölkerungsmehrheit stellen, wenn es keinen Kurswechsel in der Einwanderungs- und Integrationspolitik gibt. … Deshalb muss man die Einwanderung von Muslimen grundsätzlich unterbinden und falsche Anreize im Sozialsystem beseitigen.'“[778]

Es folgt die Abbildung einer Grafik mit dem Slogan „gegen Islamisierung unseres Landes“ und „Für ein Land, in dem Deutsche gut und gerne leben“.

Neben einer grundsätzlichen Islamfeindlichkeit legt der Beitrag einen kulturellen Relativismus offen, wie er für den völkischen Nationalismus typisch ist. Die in Deutschland lebenden Menschen muslimischen Glaubens werden pauschal kriminalisiert und mit kulturellem und politischem Dominanz- und Expansionsstreben in Verbindung gebracht. Im Vergleich zur aufgewerteten eigenen Gruppe der ethnisch Deutschen werden Musliminnen und Muslime per se als rückständig und mit den Grundlagen der hiesigen Werteordnung inkompatibel diffamiert. Die Verwendung des Begriffs „kulturfremd“ rekurriert auf der Vorstellung eines homogenen, geschlossenen Kulturbegriffs, von dem die etwaige Kultur des muslimischen Bevölkerungsanteils angeblich deutlich abweiche. In Steigerung dessen wird das vermeintliche Phänomen der Flüchtlingskriminalität durch den Begriff „epidemisch[e]“ mit einer sich ausbreitenden Seuche verglichen.

Der AfD-Kreisverband Greiz-Altenburg (TH) teilte in einem Facebook-Eintrag vom 19. Dezember 2019 einen Artikel von Akif Pirincci mit dem Titel „Wer ‚Hier‘ ruft, ist Deutscher!“, erschienen bei PI-NEWS am 18. Dezember 2019. Der Kreisverband zitierte Pirinccis Ausführungen zu einer Aussage der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan:

„‚Wir können sagen: Wer Deutschland bewohnt, ist Deutscher.‘ [Anm.: Aussage von Naika Foroutan in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau] Auch Feldhamster? Obwohl, da ist was dran. Feldhamster haben nämlich diesem geschundenen Land bei Weitem nicht so viel Leid und Schaden zugefügt wie die bekopftuchte, verschleierte, mehr als hälftig auf staatliche Leistungen angewiesene, bisweilen vergewaltigende und messernde, eher ihre Steinzeit-Kultur pflegende, einfach da-seiende und mit uns gar-nichts-aber-auch-gar-nix-zu-tun-habende Klientel von Naika. Insofern ist der deutsche Feldhamster mehr ein Deutscher als ein hier geborener Türke mit deutscher Staatsbürgerschaft, der aber trotzdem in seinem imaginierten türkischen Reich weilt.“[779]

Die Aussage zeugt von einem völkisch-nationalistisch Volksverständnis, da einerseits ein qualitativer Unterschied zwischen ethnisch Deutschen und deutschen Staatsbürgerinnen und -bürgern mit Migrationshintergrund gemacht wird und andererseits eine pauschale Ausgrenzung und beleidigende Herabwürdigung von Musliminnen und Muslimen allein auf Basis ihres kulturellen Hintergrunds erfolgt. Durch das auszugsweise Zitieren der Aussage von Akif Pirincci drückt der Kreisverband eine Zustimmung durch die Leseempfehlung für dessen Thesen aus.

Am 3. Juli 2019 veröffentlichte Willi Wagner, Sprecher des Kreisverbands Lahn-Dill (HE), auf seiner Facebook-Seite einen Beitrag, in dem er den Aufenthalt von Musliminnen und Muslimen in Deutschland als „größte Gefahr für unseren Staat und unsere Gesellschaft“ und Ursache eines drohenden Verlusts von Deutschlands „Wohlstand und […] Zukunft“ bezeichnet. Er schlägt gleichsam die Rückkehr zu „einer nationalen und homogenen Gesellschaft“ vor und impliziert somit die menschenwürdewidrige Forderung nach einer Massenausweisung von in Deutschland lebenden Angehörigen der islamischen Glaubensgemeinschaft.[780]

Der hier dargelegte kulturelle Relativismus, der auf eine Erhöhung der europäischen bzw. deutschen Kultur bei gleichzeitiger Herabwürdigung und Diffamierung von als fremdkulturell definierten Vergleichsgruppen abzielt, findet sich in ähnlicher Form auch bei weiteren AfD-Mitgliedern und -Organisationseinheiten auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände. So greifen weitere Äußerungen mindestens einen oder mehrere der bereits aufgezeigten Aspekte des kulturellen Relativismus in jeweils unterschiedlichem Kontext auf.[781][782][783][784][785][786]

Diese reichen von einer pauschalen Ausgrenzung insbesondere von Migrantinnen und Migranten aus dem islamischen Kulturkreis über eine Zugschreibung negativer, vermeintlich kulturell bedingter Charaktereigenschaften sowie generell eine Attestierung eines negativen Fremdeinflusses auf die eigene Kultur bis hin zur Konstruktion eines regelrechten Bedrohungsszenarios im Sinne einer Degeneration oder Destruktion des deutschen Volkes sowie der Forderung nach ethnisch-kultureller Homogenität.

Bei einer abschließenden Betrachtung der vorliegenden Aussagen und Positionen mit Blick auf etwaige Hierarchisierungs- und Bewertungsprozesse wird deutlich, dass einerseits die eigene Kultur in einer Vielzahl der Beiträge grundsätzlich aufgewertet wird, während andrerseits die als „fremd“‚ konstituierten Kulturen wiederholt herabgesetzt und diffamiert werden. So wird eine europäische, deutsche oder weiße Hochkultur als in einem antagonistischen Verhältnis zu den als barbarisch und unzivilisiert stigmatisierten Fremdkulturen stehend imaginiert. Des Weiteren wird die Auffassung vertreten, dass durch den wachsenden Zuzug von Personen vermeintlich niederer Kulturen – vor allem aus Afrika und dem Nahen Osten – die Errungenschaften der modernen Zivilisation bedroht und die eigens aufgewertete Kultur unmittelbar gefährdet würden. Migrantinnen und Migranten und auch deutschen Staatsbürgern mit Migrationshintergrund wird ein grundsätzlich kollektiver Hang zu negativen und gewalttätigen Verhaltensweisen zugeschrieben und diese für ökonomische, soziale und/oder kulturelle Schädigungen Deutschlands verantwortlich gemacht. Bei der Agitation gegen diese Bevölkerungsgruppen verbinden sich fremdenfeindliche Argumentationsmuster mit völkischen Ideologieelementen, wobei neben der Verwendung von ethnopluralistischen und/oder rassistischen Narrativen teilweise sogar ein Rückgriff auf ausgewiesenes NS-Vokabular erfolgt. Zentral ist ebenso die wiederkehrende politische Förderung einer ethnisch homogenen Gesellschaftsstruktur, in der spiegelbildlich die Forderung nach Ausweisung von als fremdkulturell konstituierten Volksgruppen zum Ausdruck kommt.

Von Seiten der Mitglieder und Organisationseinheiten der AfD auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände liegt folglich eine gewichtige Anzahl aussagekräftiger Verlautbarungen vor, die auf Prozesse der Hierarchisierung zum Nachteil spezifischer Volksgruppen und/oder Religionsgemeinschaften bei gleichzeitiger Erhöhung der eigenen Kultur im Sinne eines kulturellen Relativismus schließen lassen, wie er für den völkischen Nationalismus typisch ist.

In der Gesamtschau deuten zahlreiche der dargestellten Äußerungen auf ein Weltbild, das in seiner Umsetzung eine rechtliche Schlechterstellung und Ungleichbehandlung derjenigen Gruppen in Deutschland bedeuten würde, die nicht als Bestandteil des deutschen Volkes betrachtet werden.

Aufbauend auf der Vorstellung einer Ungleichwertigkeit der verschiedenen Kulturen und Ethnien beschwört die Ideologie des völkischen Nationalismus unentwegt spezifische Bedrohungsszenarien herauf, weiche nicht nur die Begegnung mit fremden Kulturen, sondern ebenso abweichende Denk- und Lebensmodelle als Gefährdung für die eigene kulturelle Identität stilisieren. Die typischen Feindbilder umfassen neben der Migration im Allgemeinen vor allem auch die vermeintliche Islamisierung, den Multikulturalismus, „Ethnomasochismus“ sowie Globalisierungsprozesse und „One-World“-Ideologien. Vor altem die Vorstellung, dass eine massenhafte Zuwanderung, Islamisierung und ein regelrechter „Multikultiwahn“ zu einem Verdrängungsprozess zulasten der einheimischen Deutschen und letztlich zur Zerstörung der deutschen Kultur führten, ist in rechtsextremistischen Kreisen weit verbreitet.[787]

Ein gängiges Muster in der Beschreibung dieses Bedrohungsszenarios ist – wie bereits mehrfach skizziert – die These vom aktiv betriebenen Großen Austausch. So finden sich in diesen Diskursen verschiedene Schlagworte wieder – etwa „Überfremdung“, „Umvolkung““, „Bevölkerungsaustausch“ – oder schwächere Umschreibungen, die letztlich allesamt auf das Narrativ des Großen Austauschs rekurrieren.[788]

Schon einige der bislang dargelegten Verlautbarungen verweisen implizit auf das in Kapitel F.I.1.1 konzeptualisierte Narrativ einer von den westlichen Polit- und Wirtschaftseliten angeblich planvoll vorangetriebenen strukturellen Substitution der autochthonen Bevölkerungen Europas durch Zuwanderinnen und Zuwanderer. Dem BfV liegt eine Vielzahl weiterer Äußerungen auf Kreis- bzw. Stadtebene vor, die Hinweise auf eine solche Weltsicht durch die Identifizierung entsprechenden Vokabulars liefern. An dieser Stelle sei angemerkt, dass aufgrund der enorm hohen Anzahl von gesammelten Verlautbarungen lediglich ein geringer Teil nachfolgend in gesamter Textlänge exemplarisch aufgeführt wird. Eine große Zahl weiterer Beiträge wird jeweils zum Abschnittsende zumindest in kurzer Form angeführt.

Einige dieser Beiträge greifen explizit den Begriff des Großen Austauschs auf. In einem von Adolf Frerk verfassten und auf der Website des AfD-Kreisverbands Kleve (NW) veröffentlichten Artikel wird die Theorie vom Großen Austausch explizit aufgegriffen, in einem „Brief an Merkel“ wendet sich Frerk direkt an die deutsche Bundeskanzlerin, die er für den vermeintlichen Untergang des deutschen Volkes mittels gesteuerter Zuwanderung verantwortlich macht:

„Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, trotz meiner 82 Jahre bin ich weder senil noch dement, vielmehr klug genug, um zu erkennen, wie Sie, Frau Dr. Merkel, mit kühlem Kopf am Untergang des deutschen Volkes arbeiten. Sie und ihre Partei haben den ‚großen Austausch‘ weit vorangebracht. […] Aus eigenem Erleben weiß ich, wie unsere Eltern und Großeltern abgeschuftet haben, um zu überleben und das Land nach den Schrecken des Krieges wiederaufzubauen. Migranten aus dem Orient und aus Afrika waren dabei nicht tätig, auch keine Türken. Nicht zuletzt deswegen gehört Deutschland nicht jedem hereingeschneiten Wohlstandssucher, sondern allein den autochthonen Deutschen. Nach dem Vorbild der USA und Kanadas sollten wir rigoros bestimmen, wer ein nützlicher Einwanderer ist. Alle übrigen, insbesondere die Straftäter, ‚dürfen‘ unverzüglich zum Aufbau ihrer Heimat ausreisen.“[789]

Des Weiteren übernahm der AfD-Kreisverband Vorpommern-Rügen (MV) auf seiner Facebook-Seile am 12. April 2019 einen Beitrag des Accounts „Konservative Revolution“, der mit der Formulierung „Der große Austausch“ überschrieben war. Am Beispiel der US-amerikanischen Stadt Hazleton wird darin geschildert, wie die einst mit 95 Prozent die Mehrheit stellenden „weißen“ Einwohnerinnen und Einwohner im Jahr 2018 mit einem Anteil von 44 Prozent in die Minderheit gerieten, da die Zahl von Bewohnerinnen und Bewohnern mit lateinamerikanischer Herkunft deutlich gestiegen sei. Dies habe zu negativen Veränderungen im Stadtleben geführt, die sich allein auf den „schleichende[n] Prozess“ des Großen Austauschs zurückführen ließen, der auch in anderen Ländern der Welt fortschreite:

„Hazletonier erinnern sich noch an eine Stadt, die eng zusammenhielt, ruhig und bieder und die von einer gewissen Ehrlichkeit der Bewohner untereinander geprägt war. Kein Vergleich zu den Neuankömmlingen, die oft laut Unruhe stifteten. Immer mehr schlich sich eine Gesetzlosigkeit ein, die früher völlig kulturell inakzeptabel gewesen war. […] Die Stadt hat mit dem Austausch ihrer einstigen Bevölkerung eine Transformation hinter sich, die immer weiter geht. Langjährige Bewohner fühlen sich nun fremd im eigenen Land. […] Der große Austausch in den USA, in Australien, Großbritannien, Frankreich, Schweden, Spanien, Österreich ist wie in Deutschland ein schleichender Prozess.“[790]

Neben den bislang exemplarisch aufgeführten Beiträgen der AfD auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände konnten zudem weitere Äußerungen identifiziert werden, welche explizit den Begriff des Großen Austauschs aufgreifen.[791][792][793][794][795][796][797]

Das Motiv vom Großen Austausch wird in vielen weiteren untersuchten Beiträgen durch den Begriff „Bevölkerungsaustausch“ umschrieben, welcher letztlich auf dasselbe Phänomen verweist.

Unter anderem veröffentlichte der AfD-Kreisverband Osterholz-Verden (NI) auf seiner Website eine Empfehlung für das Buch „Der Bevölkerungsaustausch in Europa – Wie eine globale Elite die Massenmigration nutzt, um die einheimische Bevölkerung zu ersetzen“ von Hermann H. Mitterer. Weiterhin wurde an gleicher Stelle der Klappentext des Buches veröffentlicht:

„Das eigentlich Schockierende: Die millionenfache Einwanderung wurde initiiert, um die ethnische und kulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung in Europa zu verändern. Die bisher hier Lebenden sollen mit Migranten vermischt und von ihnen verdrängt werden. Mitterer belegt dies, indem er die Pläne des Bevölkerungsaustauschs mit den aktuell zu beobachtenden Entwicklungen vergleicht und mit Zahlen konkretisiert. Der Autor benennt die Verantwortlichen für diese Umvolkung. Dabei wird Erschreckendes deutlich: Verschiedenste Kräfte arbeiten am Austausch der Europäer.“[798]

Unter Verwendung der beiden Schlagworte „Bevölkerungsaustausch“ und „Umvolkung“ wird in dem vorliegenden Textauszug Mitterers das Narrativ des Großen Austauschs in seinen wesentlichen Bestandteilen zusammengefasst. So initiierten angeblich „verschiedenste Kräfte“ die „millionenfache Einwanderung […], um die ethnische und kulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung in Europa zu verändern“. Angeblich lasse sich dieser außerdem anhand konkreter soziodemografischer „Zahlen“ nachweisen.

Am 26. März 2019 gab Hansjörg Schrade, Sprecher des Kreisverbands Reutlingen (BW), einen Textauszug der Website www.michael-klonovsky.de zum „Bevölkerungsaustausch“ auf Facebook wieder und machte sich damit folgenden Inhalt zu eigen:

„Ganze Städte und Stadtteile haben den Bevölkerungsaustausch schon zur Hälfte bewältigt: Blackburn, London-Tower Hamlets, Malmö, Marseille, Duisburg, Berlin-Neukölln etc. pp., es ist einfach ein Fakt. Und diejenigen, die den Austausch (‚Wandel‘, ‚Buntheit‘, ‚Offenheit‘) gutheißen oder preisen, dürfen die Folgen auch ganz unbefangen schildern und in einem globalen Migrationspakt, der nur ein Wanderungsziel und nur eine Wanderungsrichtung kennt, allmählich als politisch gewollt festschreiben.“[799]

Der AfD-Kreisverband Fulda (HE) teilte am 8. Mai 2019 einen Facebook-Beitrag des Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann, welcher sich kritisch zu dem Umstand äußerte, dass der Vorname ‚Mohammed‘ in Berlin zum häufigsten Vornamen geworden sei. Dazu schrieb Hohmann:

„+++ ‚Gegen den Bevölkerungsaustausch‘ +++ Der häufigste Vorname bei Neugeborenen in Berlin ist ‚Mohammed‘. Sawsan Chebli) (Berliner Staatssekretärin für Bürgerschaflichtes Engagement und Internationales) von der SPD jubelte auf Twitter: ‚Wir werden schon dafür sorgen, dass dieser Name nie verschwindet!‘ Wen meint Chebli mit ‚wir‘? Die SPD? Die Groko [Anm.: Große Koalition]? Ihre Aussage ‚Wir werden schon dafür sorgen, dass der Name Mohammed nie verschwindet‘ kann man durchaus als Drohung empfinden. Jetzt Berlin. Dann weitere Großstädte. Und am Ende ganz Deutschland? Wann werden endlich die letzten Multikulti-Sozialromantiker merken, dass unser Land, wie wir es kennen, der Vergangenheit angehört? In Deutschland drohen Politiker mit noch mehr Mohammeds und ignorieren Tatsachen. In

Österreich spricht man sie aus und kündigt an, was nötig ist: Österreichs Vizekanzler Strache sprach vor wenigen Tagen von einem ‚Kampf gegen den Bevölkerungsaustausch‘. Das Alpenland ist weiter.“[800]

Hohmann skizziert eine drohende Überfremdung Deutschlands und Europas, die angeblich durch Politiker und Politikerinnen wie Sawsan Chebli in Deutschland planvoll vorangetrieben werde und sich nur durch einen harten „Kampf gegen den Bevölkerungsaustausch“ aufhalten lasse.

Der Begriff „Bevölkerungsaustausch“ findet außerdem in zahlreichen weiteren Beiträgen auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände Verwendung.[801][802][803][804][805][806][807][808][809][810][811][812][813][814]

Hierbei handelt es sich um eigene Verlautbarungen oder Inhalte, die auf den entsprechenden Social-Media-Kanälen der AfD-Mitglieder und -Organisationseinheiten geteilt wurden.

Seitens weiterer AfD-Organisationseinheiten der hier untersuchten Ebene sind Verlautbarungen oder geteilte Beiträge festzustellen, welche die These vom aktiv betriebenen Großen Austausch verkürzt als „Austausch“ oder auch mittels der dazugehörigen Verbform „austauschen“ umschreiben.

Diesbezüglich teilte der AfD-Kreisverband Lahn-Dill (HE) am 4. September 2019 auf seiner Facebook-Seile einen Artikel des FOCUS-Magazins über das Resettlement-Programm des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen und kommentierte ihn folgendermaßen:

„Wann wachen die Menschen in Deutschland und Europa endlich auf? Was mit ‚Asyl‘ für ‚Flüchtlinge‘ begann, mündet dank Migrationspakt und ähnlichen Absprachen in einem reinen UMSIEDLUNGS-Projekt – was ganz Europa nachhaltig und unumkehrbar verändern wird: ‚Bei Umsiedlern handelt es sich um eine größere Bevölkerungsgruppe, die durch staatlich gelenkte Maßnahmen in einer gemeinsamen Umsiedlungsaktion ihren bisherigen Lebensraum verlässt.‘ Anstatt eine attraktive Familienpolitik und ein kinderfreundliches Klima für die eigene Bevölkerung zu schaffen, werden ‚die hier schon länger Lebenden‘ schlichtweg ersetzt, um nicht zu sagen: ausgetauscht. 10.200 Siedler sind zwar noch nicht viele, aber man muss bedenken, dass dies erst der Anfang ist und diese Menschen auch nur einen Teil des sich nach Europa bewegenden Stroms darstellen.“[815]

Einen Facebook-Eintrag der AfD-Bundespartei veröffentlichten die AfD-Kreisverbände Pinneberg (SH) und Erding (BY) am 19. bzw. 20. Oktober 2019 auf ihren Verbandsseiten. Der Beitrag thematisierte den Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration, kurz UN-Migrationspakt, welcher am 19. Dezember 2018 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde:

„++ UN-Migrationspakt: Hessen erhält die ersten Umsiedelungswilligen aus Afrika ++ Das Resettlement-Programm, das aus dem UN-Migrationspakt hervorging, nimmt Fahrt auf. In dieser Woche hob der erste Charterflug ab, um 154 Äthiopier ins hessische Kassel zu fliegen. Der Flieger landete dafür in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, anschließend ging es über den Wolken zurück. Ein zweiter Transport ist schon geplant. Dieser soll Mitte November 220 weitere ‚Flüchtlinge‘ transportieren, deren Ansiedlung ebenfalls in Deutschland geplant ist. Die afrikanischen Länder jubeln. Videos, zehntausendfach geklickt, machen die Runde und sorgen für nur noch mehr Zuwanderungswillige direkt in unsere Sozialsysteme! Hier geht es mitnichten um arme ‚Flüchtlinge‘, wie so oft behauptet. Vielmehr sollen die auf dem afrikanischen Kontinent nicht mehr beherrschbaren Populationszuwächse nach Europa, vorwiegend Deutschland, umgesiedelt werden. Der UN-Migrationspakt wurde ohne jede Beteiligung des Bundestages, geschweige denn unter Rückversicherung bei der Bevölkerung, unterzeichnet. Er eröffnet der Neuansiedlung und damit dem Austausch der schon länger hier Lebenden langfristig Tür und Tor. Der große Plan dahinter kann nur zynischer Natur sein, denn unsere Sozialsysteme ächzen schon heute unter der Last.“[816][817]

Der Facebook-Eintrag referiert unzweifelhaft auf das Narrativ des Großen Austauschs. So solle die planvolle Substitution der europäischen Völker durch Zuwanderinnen und Zuwanderer unter anderem mit Hilfe des UN-Migrationspakts umgesetzt werden.

Am 17. September 2019 teilte der AfD-Bezirksverband Unterfranken (BY) ebenfalls einen Beitrag des AfD-Bundesverbands, in dem dieser sich vehement gegen Forderungen des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrats stellt, ein kommunales Wahlrecht für in Deutschland lebende Ausländer einzuführen. Die AfD Unterfranken kommentierte den Beitrag der Bundespartei wie folgt:

„Den Blockparteien gehen die Wähler aus, also will man sich Nachschub beschaffen. Wer an der Stelle noch übersieht, dass derartige Pläne auf einen Austausch des Staatsvolkes hinauslaufen, muss blind sein.“[818]

Der Kreisverband Unterfranken wirft in dieser Äußerung einen weiteren Aspekt auf, der regelmäßig im Zusammenhang mit den mutmaßlichen Zielen des Großen Austauschs benannt wird. So forcierten die etablieren Parteien den „Austausch des Staatsvolkes“ durch Migrantinnen und Migranten angeblich aufgrund ihrer Angst vor einem politischen Machtverlust innerhalb der angestammten Wählerschaft und zum Zwecke der Generierung neuer Wählerinnen und Wähler im Kreise der Zugewanderten.

Eine ähnliche Argumentation enthielt z. B. ein am 4. September 2019 vom AfD-Kreisverband Passau/Freyung-Grafenau (BY) unkommentiert geteiltes YouTube-Video mit dem Titel „Jörg Haider 1992: Bevölkerung wird ausgetauscht“. Das Video enthält einen kurzen Redebeitrag des ehemaligen Vorsitzenden der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), Jörg Haider. Haider stand während seiner politischen Karriere wiederholt wegen seiner islamfeindlichen und antisemitischen Äußerungen sowie der Verharmlosung des historischen Nationalsozialismus in der Kritik.[819]

Weitere Beiträge, die verkürzt von einem „Austausch“ zur Festigung des Mythos vom Großen Austausch sprechen, lieferten exemplarisch die AfD-Kreisverbände Germersheim (RP), Mühldorf am Inn (BY) und Weilheim (BY).[820][821][822]

In nicht wenigen Fällen findet auch auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände eine noch deutlich radikalere Rhetorik Anwendung, wann eine Auslöschung beziehungsweise Vernichtung des deutschen Volkes oder ein Genozid an den Deutschen behauptet wird oder der der nationalsozialistischen Volkstumspolitik entlehnte Begriff der „Umvolkung“ Verwendung findet.

Unter Bezugnahme auf Daten des Statistischen Bundesamtes schrieb der AfD-Kreisverband Main-Taunus (HE) am 10. Juni 2019 in einem Facebook-Beitrag:

„Hurra, Deutschland schafft sich ab – die neuen Geburtszahlen sind da – den Rest erledigen die Grünen. Sarrazin hatte Recht: Deutschland schafft sich ab – und zwar in immer schnellerem Maße. […] Die Situation ist dramatisch. Bei den unter Fünfjährigen haben in Deutschland bereits fast 40 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Diese neuen Zahlen verstärken die Entwicklung noch einmal. Und nicht umsonst ist seit 2018 der Name Mohammed häufigster Vorname für Neugeborene in der Bundeshauptstadt. Die Situation ist also sehr viel dramatischer als in den 90er-Jahren mit über 100.000 geborenen Kindern von Ausländern. Jeder, der behauptet, es findet keine Umvolkung statt, sagt einfach nicht die Wahrheit. Hinzu kommt die massenhafte Zuwanderung (Familienzusammenführung, Resettlement (Umsiedlung), UN-Verträge usw.), denn es geht immer weiter und hört nicht auf.“[823]

In einem Facebook-Beitrag des AfD-Kreisverbands Vorpommern-Rügen (MV) vom 8. August 2019 wurde eine Passage aus einem Artikel von der rechtsextremistischen Seite PI-NEWS vom 7. August 2019 zitiert, die von einem ethnisch homogenen Volksverständnis zeugt und den Begriff „Umvolkung“ explizit aufgreift:

„Im Gegensatz zu den östlichen hat in den westlichen deutschen Bundesländern eine Partei Konjunktur, die alle Fehlentwicklungen repräsentiert und massiv vorantreibt, die für Deutschland und das deutsche Volk existenzgefährdend sind: Umvolkung und Überfremdung, irrsinnige ‚Energiewende‘, Intoleranz und Dialogverbot, Moralimperialismus und neue außenpolitische Großmannssucht, Verachtung des positiven kulturellen, sittlichen und geschichtlichen nationalen Erbes, Gefährdung der wirtschaftlich-materiellen Grundlagen samt Demontage des Sozialstaats.“[824]

Einen weiteren Artikel von PI-NEWS mit dem Titel „Wann besetzen denn mal Patrioten den Potsdamer Platz?“, in dem eine vermeintliche „Umvolkungspolitik“ beklagt wird, die zu einem „explosiven Vielvölkergemisch“ geführt habe, teilte der AfD-Kreisverband Wolfenbüttel (NI) am 16. Oktober 2019. Darin hieß es unter anderem:

„Türken, Kurden – jeder erlaubt sich derzeit seine Eskapaden, nur wir sitzen tatenlos auf dem Sofa. Warum kommen eigentlich von uns keine ’spontanen Aktionen‘? Warum zeigen denn wir nicht mal ‚zivilen Ungehorsam‘? […] Natürlich: Die Demokratiefeinde von Extinction Rebellion lässt man aus politischen Gründen gewähren, Kurden und Türken genießen sowieso Narrenfreiheit in unserer bunten Republik. Spontane Demos von Kritikern der Umvolkungspolitik hingegen würde die Polizei sofort brutal von der Straße prügeln. […] Und aktuell arbeitet Seehofer als Oberschleuser der Nation schon an der nächsten Invasion, noch mehr Typen aus Nigeria, noch mehr Syrer, noch mehr Afghanen, obwohl wir die Kontrolle über das explosive Vielvölkergemisch in Deutschland schon heute verloren haben […].“[825]

Der Kreisverband Wolfenbüttel kommentierte den Artikel zustimmend und betonte, die im Titel des Artikels gestellte Frage sei „berechtigt“.[826]

Zahlreiche weitere Anträge auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände greifen den Terminus „Umvolkung“ selbst oder in Form eines geteilten Beitrags auf.[827][828][829][830][831][832][833][834][835][836][837][838][839][840]

Neben den bisher genannten Formulierungen, die unzweifelhaft auf das Verschwörungsnarrativ des Großen Austauschs rekurrieren, lassen sich weitere identifizieren, die ebenfalls negativ konnotiert sind und zum Teil mit drastischer Wortwahl den vermeintlich drohenden Austausch der autochthonen Bevölkerung umschreiben. Sehr häufig findet in einigen der erhobenen Verlautbarungen z. B. der Ausdruck „Volksaustausch“ Verwendung.[841][842][843][844][845][846][847]

Andere Beiträge stilisieren den angeblich in Deutschland stattfindenden Prozess der planmäßigen Auslöschung des deutschen Volkes und/oder der europäischen Völker durch gezielte Massen-Einwanderung als Prozess des „Aussterbens“[848][849] oder als regelrechten „(Volks-)Tod“[850] bzw. „Todesstoß“[851]. Auch der wiederkehrende Vorwurf des angeblich von Polit- und Wirtschaftseliten gesteuerten „Genozids“[852][853][854][855] oder „Völkermords“[856][857][858] bezieht sich letztlich auf die völkisch-nationalistische Verschwörungstheorie des gezielten Bevölkerungsaustauschs. Exemplarisch sei hierzu in ausführlicher Form ein Beleg angeführt, der die Umschreibung der Erzählung vom Großen Austausch unter Verwendung des Ausdrucks „Völkermord“ treffend belegt. So teilte der AfD-Kreisverband Mittelthüringen (TH) am 6. August 2019 in einem Facebook-Eintrag einen Beitrag der neurechten Zeitschrift Blaue Narzisse, der zu einem SPIEGEL-Artikel anlässlich der vermeintlichen Folgen der Einwanderung in Deutschland Stellung nahm. Die AfD Mittelthüringen griff in ihrem Eintrag Teile des Artikels auf:

„Die Herrschaftseliten reden endlich Tacheles. Sie arbeiten am ‚historisch einzigartigen Experiment‘ diverse westeuropäische Volker durch gezielte Masseneinwanderung aus der Dritten Welt zu verdrängen und damit natürlich im Endeffekt zu vernichten. Das erfüllt selbstverständlich die Definition von Völkermord. Aber klar, sie werden weiterhin ‚Verschwörungstheorie‘ schreien und ‚Nazi‘ kreischen, während parallel genau das nicht nur offen angekündigt, ohne weitere Begründung als ‚alternativlose Entwicklung‘ dargestellt und natürlich von linke Ideologen sowieso als Heilsprojekt bejubelt wird.“

Im Artikel heißt es des Weiteren:

„Das Aussprechen der Wahrheit, dass dieser Prozess einem perfiden Plan folgt, und darauf hinauslaufen soll, dass die Deutschen und andere Völker zur Minderheit im eigenen Land werden, hatte stets aggressive Reaktionen zur Folge. […] Auch gegenwärtig wird trotz aller Offenkundigkeit die staatlich organisierte Ersetzungsmigration (replacement migration), wie der Vorgang von der EU genannt wird, nach wie vor abgestritten. […] Nur wieso muss diese geplante multikulturelle Verwurstung der Deutschen eigentlich durchgeführt werden?“[859][860]

Ebenfalls häufen sich in den Beiträgen auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände Wendungen, die eine Eliminierung des deutschen Volkes im Sinne des bekannten Narratives unterstellen, wie z. B. „Abschaffung“[861][862][863][864], Auflösung“[865], „Beseitigung“[866], „Vernichtung“[867][868] oder „Zerstörung“[869][870] bzw. die den nominalen Begriffen entsprechend anhängenden Verbformen („abschaffen“, „beseitigen“ etc.).

Der AfD-Kreisverband Weserbergland (NI) teilte am 4. Mai 2020 einen Facebook-Beitrag der AfD im Europäischen Parlament mit dem Titel: „Afrikanisierung Europas zerstört Wohlstand!“ Darunter wurde von einer „Zerstörung der abendländischen Kultur und des Erbes unserer Geschichte“ gesprochen, die unter anderem durch die planvolle Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik der Bundesregierung erfolge:

„Mehr oder minder versteckte Zusammenarbeit mit skrupellosen Schlepperbanden, Migranten-Direktflüge aus Afrika nach Westeuropa oder die Umsiedlung von Flüchtlingskindern unter dem Vorwand von Mitmenschlichkeit, Toleranz und Barmherzigkeit finden täglich statt. […] Maßgebliche Kräfte, wie beispielsweise die Bundesregierung […] und andere überwiegend linke Kräfte, verstärken diese Tendenz. […] Nur die AfD setzt sich für die Menschen in Deutschland ein und hält dagegen. Konkret geht es bei diesem Vorgängen um die Zerstörung der abendländischen Kultur und des Erbes unserer Geschichte.“[871]

Ein weiteres Narrativ, welches wiederholt zur Festigung des Mythos vom Großen Austausch herangezogen wird, handelt von vermeintlich stattfindenden globalen Eroberungstendenzen durch fremde Kulturen, die letztlich den „Untergang“[872] der eigenen Zivilisation herbeiführten. In diesem Zusammenhang finden sich in den untersuchten Verlautbarungen exemplarisch Begriffe wie „Eroberung“[873], „Kolonialisierung“[874][875] „Landnahme“[876] „Neubesiedelung“[877], „Umsiedlung“[878] oder „Xenokratie“.

Unter anderem veröffentlichte Adolf Frerk diesbezüglich einen Beitrag auf der Website des Kreisverbands Kleve (NW), in dem er eine feindliche Übernahme durch fremde islamische Mächte in Deutschland im Sinne einer „Xenokratie“ prognostiziert:

„Und danach, wenn die letzten echten Deutschen im Zoo zwischen felis leo (Löwe) und ursusmaritimus (Eisbär) zu besichtigen sind, kommt die Xenokratie (Herrschaft der Fremden), wahrscheinlicher aber ein osmanisches Kalifat, also die Theokratie.“[879]

Zudem finden seitens der AfD auf der Kreis-, Bezirks- und Stadtebene abgewandelte Begrifflichkeiten und Formulierungen Verwendung, die einen Großen Austausch kolportieren. Einige sprachen von einer stattfindenden „Ersetzung“[880][881][882][883] „Transformation“[884][885] oder „Überfremdung“[886][887] der autochthonen Bevölkerung. Andere wiederum folgen der Erzählung sogar gänzlich ohne den Rückgriff auf derartige, vergleichsweise leicht zu identifizierende Formeln.[888][889][890][891][892][893][894][895][896][897][898][899][900][901][902]

Ein treffendes Beispiel für eine Verlautbarung, die ohne die bislang skizzierten Termini auskommt und dennoch an das Narrativ des Großen Austauschs anknüpft, ist ein Beitrag des Berliner Abgeordneten Carsten Ubbelohde, den der AfD-Bezirksverband Steglitz-Zehlendorf (BE) am 25. April 2019 auf seiner Facebook-Seite verbreitete. Ubbelohde kommentiert darin einen Artikel der Westdeutsche Allgemeine Zeitung zur Forderung des Mitglieds des Europäischen Parlaments für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Franziska Maria „Ska“ Keller, dass die sogenannten Visegrad-Staaten mehr Geflüchtete aufnehmen sollten:

„Frau Keller sieht nämlich gar kein Problem darin, dass man zum Beispiel in Lettland ganze syrische Dörfer ansiedeln kann. Ob die Staaten das wollen, ist ihr und ihrer typisch grünen totalitären Grundeinstellung reichlich egal. Generell setzt Frau Keller alles daran, Deutschland ‚im Namen der Humanität‘ mit Migranten zu Fluten, Mittelmeerschlepper zu Helden zu erklären und Flüchtlingsströme nach Europa anzuheizen. Und diese Grünen mit jener Einstellung sitzen im EU-Parlament und lenken das Geschehen in Europa mit. Zeit, dass dieser Irrsinn aufhört. Am 26. Mai AfD wählen!“[903]

Dazu veröffentlichte Carsten Ubbelohde eine entsprechende Grafik mit einem Satellitenbild Europas, auf dem Lettland rot eingefärbt und durchgestrichen wurde. Daneben ist die Bezeichnung „Neu-Syrien!“ zu lesen.

In der Gesamtschau konstituiert die Vielzahl der für dieses Kapitel erhobenen Verlautbarungen auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände ein Bedrohungsszenario, demzufolge die Begegnung mit Fremden, als minderwertig herabgewürdigten Kulturen in der Zerstörung der eigenen kulturellen Identität münden. So führten eine vermeintlich von den Polit- und Wirtschaftseliten gesteuerte Massenzuwanderung fremder Kulturen, ein damit einhergehender Islamisierungsprozess sowie ein von der Politik proklamierter Multikulturalismus zu einer Verdrängung zulasten der ureuropäischen Völker oder einheimischen Deutschen. Ein großer Teil der untersuchten Äußerungen stützt somit die These vom aktiv betriebenen Großen Austausch. So findet eine große Bandbreite verschiedener Schlagworte Verwendung, die letztlich auf dieses Narrativ zurückzuführen und allesamt negativ konnotiert sind. Einige Beiträge greifen den Mythos explizit auf und unterstellen einen Bevölkerungsaustausch, (Großen) Austausch oder gar eine gezielte Umvolkung. In ähnlich drastischer Weise umschreiben die Termini „Volksaustausch“, „Volkstod“ oder „Völkermord“ den vermeintlich drohenden Austausch der autochthonen Bevölkerung. Des Weiteren finden sich ebenso häufig Formulierungen zur Festigung des Narrativs, die von vermeintlich stattfindenden globalen Siedlungsbewegungen und Eroberungstendenzen durch fremde Kulturen handeln, weiche letztlich den „Untergang“ der eigenen Zivilisation etwa durch gezielte „Landnahme“, „Neubesiedelung“ oder „Kolonialisierung“ herbeiführten. Etwas schwächer muten Begrifflichkeiten und Formulierungen an, welche die kolportierten Vorgänge als „Zerstörung“, „Abschaffung“, „Überfremdung“ oder „Transformation“ der autochthonen Bevölkerung stilisieren oder sogar gänzlich ohne den Rückgriff auf derartige, vergleichsweise leicht zu identifizierende Formeln auskommen.

Die beschriebenen Aussagen sind potenziell geeignet, ein Vorgehen gegen die skizzierte Bedrohung des Großen Austauschs als (überlebens-)notwendig zu begreifen. Der Erhalt des autochthonen Staatsvolkes und der Widerstand gegen die Migrationspolitik werden damit zum obersten politischen Ziel erklärt.

Wenngleich ein Teil der skizzierten Äußerungen bereits konkrete politische Gegenstrategien zur Vorhinderung des vermeintlich drohenden Bevölkerungsaustauschs enthalten, ist zu prüfen, inwieweit konkrete Maßnahmen propagiert werden, die selbst handlungsorientierte Anhaltspunkte für ein völkisch-nationalistisches Konzept darstellen.

Etwaige Forderungen nach einer deutschen oder europäischen Abschottungspolitik, zur Verhinderung eines weiteren Zuzugs von Migrantinnen und Migranten im Allgemeinen und/oder der geäußerte Wunsch nach einer konsequenten Abschiebung von sich legal in Deutschland aufhaltenden Ausländern stellen grundsätzlich noch keinen Verstoß gegen die Menschenwürdegarantie dar. Werden allerdings Maßnahmen gefordert, die die Migrationspolitik nach ethnisch-kulturellen, religiösen oder rassischen Kriterien ausrichten würde, wäre dies mit dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG unvereinbar. In diesem Sinne stellt auch die Forderung nach einer Einwanderungspolitik, die allein auf die Wahrung der ethnisch-kulturellen Homogenität abzielt, einen Anhaltspunkt für ein gegen die Menschenwürde gerichtetes völkisches Weltbild dar.

Gerhard Vierfuß, stellvertretender Fraktionsvorsitzender im Stadtrat Oldenburg, veröffentlichte mehrere Beiträge auf Twitter, in denen er eine Rehomogenisierung Europas fordert. So veröffentlichte er unter anderem am 29. Juni 2019 den Satz:

„Keep Europe for the Europeans.“[904]

Sinngemäß teilte er des Weiteren am 26. Mai 2020 folgenden Tweet des Accounts „Freiburger Stimme“:

„Wieso dürfen Afrikaner ‚Africa for Africans‘ (=Schwarze) schreiben, ohne Rassismusvorwürfe, und wir nicht: ‚Europa für Europäer‘ (=Weiße)?“[905]

Diesen kommentierte Vierfuß mit dem Satz „Europa den Europäern!“, was stark an die rechtsextremistisch konnotierte und in NPD-Kreisen übliche Losung „Deutschland den Deutschen“ erinnert. Die Aussagen von Vierfuß zielen auf eine (Re-)Homogenisierung Europas und damit implizit ebenfalls auf eine Exklusion derjenigen Bevölkerungsgruppen ab, die er nicht der autochthonen Bevölkerung Europas zurechnet.

Am 21. Oktober 2019 forderte Holger Winterstein ein „Resettlement, wie wir es wollen“, und propagierte, nach der Wahl der AfD in Thüringen werde das Bundesland „zum Einwanderungsland für Deutsche und zum Abwanderungsland für Leute die unsere Kultur abstößt und die auch nicht so recht in unser gewachsenes Bevölkerungsantlitz passen wollen“.[906]

Dies ist als Ankündigung zu werten, dass mit dem Wahlsteg der AfD in Thüringen Menschen, die nicht der autochthonen Bevölkerung angehören, zu einer Abwanderung bewegt bzw. genötigt würden. Winterstein lässt dabei jedoch offen, mit welchen Methoden diese Entwicklung herbeigeführt werden soll.

Im bereits aufgeführten „Brief an Merkel“ des AfD-Kreisverbands Kleve (NW) hielt dieser in völkischer Diktion fest, dass Deutschland „allein den autochthonen Deutschen“ gehöre und daher „alle übrigen, insbesondere die Straftäter, […] unverzüglich zum Aufbau ihrer Heimat ausreisen“ dürften.[907]

Der Kreisverband richtet sich damit „insbesondere“, jedoch nicht ausschließlich an nicht-autochthone Straftäter. Seine Aussage umfasst somit auch strafrechtlich unbelastete Bürgerinnen und Bürger mit Migrationshintergrund.

Der AfD-Kreisverband Bielefeld (NW) forderte, angesichts der „demografischen Bombe, die die rasant ansteigende muslimische Bevölkerungsgruppe“ in Deutschland darstelle, müsse man „eine Einwanderung von Muslimen grundsätzlich unterbinden“.[908]

Überdies gibt es eine Vielzahl von Verlautbarungen, die eine rechtliche Schlechterstellung und/oder (soziale) Diskriminierung bzw. Ausgrenzung van Bevölkerungsteilen in Deutschland implizieren.

In einem Facebook-Eintrag vom 14. April 2019 befürwortete Holger Winterstein ein „Wahlrecht per Geburtsrecht in Ahnenreihe“:

„Wahlrecht per Geburtsrecht in Ahnenreihe, wäre schon richtig. Aber erst ab, und bis geistiger Reife.“[909]

Winterstein befürwortet damit eine erhebliche rechtliche Schlechterstellung deutscher Staatsangehöriger mit Migrationshintergrund, die sodann nicht länger wahlberechtigt wären. Des Weiteren äußerte Holger Winterstein – wie oben bereits dargestellt – am 16. März 2020 auf Facebook:

„Das deutsche Volk hatte sich einen Staat gegeben, eine Nation, Grundgesetz und Recht. Es ist daher Herr darüber. Der Herr hat es geben und wenn es nicht mehr taugt, kann er es auch wieder nehmen oder verändern. Der Selbstzweck bleibt der Erhalt des deutschen Volkes. Es gibt keine Moral darüber.“[910]

Damit fordert Winterstein, den „Erhalt des deutschen Volkes“ als oberste „Moral“ über alles zu stellen. Die Garantie der Menschenwürde als zentraler Verfassungsgrundsatz wäre – dieser Logik folgend – als nachrangig zu bewerten. Zudem würde die Umsetzung der Prämisse ein ethnisch-homogenen Staatsvolkprinzip implizieren.

Der AfD-Kreisverband Main-Tauber (BW) teilte am 6. Januar 2020 einen Facebook-Beitrag der baden-württembergischen Landtagsabgeordneten Christina Baum, in welchem sich diese kritisch zur Geburt eines dunkelhäutigen „Neujahrsbabys“ äußerte und in diesem Zusammenhang eine Korrektur des Staatsangehörigkeitsrechts forderte:

„Und hier ein bildlicher Beweis dafür, wie wichtig die Korrektur des Staatsangehörigkeitsrechtes ist.“[911]

In Hinblick auf die im geteilten Artikel dargestellten Personen ist davon auszugehen, dass Baum Zugewanderten und deren hier geborenen Kindern die Möglichkeit des Erwerbs der deutschen Staatsbürgerschaft grundsätzlich verwehren will. Zwar ist eine allgemeine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zunächst eine legitime Forderung, allerdings kommt hier die pauschale Ablehnung der Staatsbürgerschall dunkelhäutiger Menschen zum Ausdruck.

Willi Wagner rief in einem Facebook-Beitrag vom 17. November 2018 indirekt zum Boykott von Firmen auf, deren Produkte mit Werbedarstellerinnen und Werbedarsteller mit Migrationshintergrund beworben werden. Er schrieb:

„Wenn Lufthansa für ihre Flüge wirbt, dann sitzen erkennbare Migranten friedlich lächelnd in den entsprechenden Fliegern. Bei Autowerbungen, Bierwerbungen und vielen anderen Produktwerbungen wird automatisch auch für Multi-Kulti geworben. Kaum noch eine Sendung im Fernsehen ohne Teilnahme von Migranten. Wir sollen über alle möglichen Wege auf die neue Gesellschaft eingestimmt werden. Sie können dies aber sehr leicht durchschauen und Gegenmaßnahmen ergreifen. Noch haben die Kunden die freie Wahl, ist die Planwirtschaft nicht vollständig umgesetzt. Sie können auch die Produkte kaufen, die auf Multi-Kulti-Werbung verzichten.“[912]

Ein weiterer Bestandteil völkisch-nationalistischer Argumentationen, der sich in Teilen auch mit der Erzählung des Großen Austauschs deckt, aber in einem deutlich größeren Rahmen auf eine allgemeinere Kapitalismus- und Globalisierungskritik abzielt, ist die Verschwörungstheorie von der sogenannten Neuen Wellordnung (Engl.: „New World Order“).

Die Neue Weltordnung wird in der völkischen Ideologie als ein weiteres Bedrohungsszenario stilisiert und unterstellt einer globalen (vor allem Jüdischen) Führungselite, Teil einer weltweiten Verschwörung zu sein. Deren Ziel sei es, eine neue autoritäre, supranationale Weltordnung (Engl.: „One-World“) zu etablieren, in der unter anderem die europäischen Nationalstaaten insbesondere durch gesteuerte Migrationsbewegungen aufgelöst werden sollten. Unterstützt werde dieses Vorhaben von internationalen Journalisten, Aktivisten, Wissenschaftlern, Nichtregierungsorganisationen und Institutionen wie der Europäischen Union oder den Vereinten Nationen. Diese vor allem in den USA sehr verbreitete Verschwörungstheorie basiert ebenfalls auf einer Denkweise in geschlossenen ethnokulturellen Kategorien, kursiert insbesondere in rechtsextremistischen sowie christlich-fundamentalistischen Kreisen und verbindet sich häufig mit antisemitischen Narrativen. Im europäischen Diskurs wird die angebliche Verschwörung häufig auf den sogenannten Kalergi-Plan von 1922 zurückgeführt, der auf den japanisch-österreichischen Philosophen Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi zurückgehen und eine Abschaffung der europäischen Völkervielfalt zugunsten eines paneuropäischen Staatenbunds („Vereinigte Staaten von Europa“, „Paneuropa“) intendieren soll. Wiederkehrende Feindbilder sind unter anderem der in den USA lebende jüdische Finanzinvestor George Soros der die Bankiersfamilie Rothschild, die als Drahtzieher einer globalen Verschwörung betrachtet werden.

Es gibt Verlautbarungen von AfD-Mitgliedern auf der Ebene der Kreis-, Bezirks- und Stadtverbände, die auf eine solche Weltsicht hinweisen.

Am 12. Februar 2019 teilte der AfD-Kreisverband Augsburg-Stadt (BY) auf seiner Facebook-Seite einen Beitrag des AfD-Bundestagsabgeordneten Thomas Seitz zu einem DIE WELT-Artikel mit dem Titel „George Soros: ‚Die Menschen in Europa müssen aufwachen, bevor es zu spät ist'“. Darin kommentierte Seitz:

„Die Menschen in Europa müssen aufwachen, bevor es zu spät ist. Da hat Soros durchaus Recht. Wenn die Menschen nicht bald aufwachen, ist es wirklich zu spät – für die Menschen und den Kontinent. Zumindest für den westlichen Teil Europas. Die Gefahr geht aber nicht von Orban & Co. aus, sondern von Soros und der EU.“[913]

Mit seiner Aussage knüpft Seitz implizit an die Verschwörungstheorie der Neuen Weltordnung an, nach der unter anderem Soros und die Europäische Union angeblich die Auflösung der europäischen Nationalstaaten planten.

Auch der AfD-Kreisverband Unterfranken Nord (BY) kommentierte – wie teils bereits dargestellt – den genannten DIE WELT-Artikel am 12. Februar 2019 auf Facebook und fürchtete eine vermeintlich drohende Auflösung der europäischen „Völker, Kulturen und Identitäten“ zugunsten einer „autokratischen Elitenherrschaft über ein Völkergemisch in überstaatlichen Gebilden wie der EU“ im Sinne des Verschwörungsmythos der Neuen Weltordnung:

„Die gute Nachricht des Tages: George Soros macht sich Sorgen um Europa. Der geldtriefende Greis hat erst ganze Volkswirtschaften spekulativ destabilisiert und sich dann mit den so erwirtschafteten Finanzmitteln und seinen NGOs demokratisch in keiner Weise legitimierten Einfluß auf die westliche Politik verschafft. Wenn sich Soros Sorgen macht, ist das für uns eine gute Nachricht. Bezeichnend sein Vergleich mit dem Ende der Sowjetunion: Ich hielt den Zusammenbruch der UdSSR und des Warschauer Paktes bisher immer für eine historischen Fortschritt, der vielen Völkern und zahllosen Menschen die Freiheit gebracht hat. Soros sieht das freilich anders und befürchtet für die EU ein ähnliches und aus seiner Sicht schlimmes Ende. Ebenso bezeichnend die Hoffnung, die er für Deutschland sieht: Die GRÜNEN. Nie wurde das Bündnis zwischen Raubtierkapitalismus und grünem Globalismus deutlicher als hier und nie wurde auch deutlicher als jetzt, was diese Leute wollen: Nämlich das Ende der europäischen Völker, Kulturen, Identitäten und demokratischen Nationalstaaten zugunsten einer autokratischen Elitenherrschaft über ein Völkergemisch in überstaatlichen Gebilden wie der EU. Ich glaube: Die Menschen in Europa werden aufwachen. Aber anders als Soros das wünscht.“[914]

Der AfD-Bezirksverband Hamburg-Bergedorf (HH) veröffentlichte am 21. Februar 2020 in einem Facebook-Eintrag „Gastbeitrag eines Iraners“ sogar explizit eine Textpassage, in der von einem „historischen Kampf gegen NWO [Anm.: Neue Weltordnung]'“ die Rede ist:

„Als jemand, der nun seit über 30 Jahren in der Bundesrepublik lebt, und als jemand, der als freier Mensch und mit dem freien Willen, gern nach der Wahrheit sucht, habe ich mich ernsthafter denn je mit der AfD, aber auch den anderen Parteien befasst. […] Die AfD ist eine demokratisch gewählte Partei, die sich an die Deutsche Verfassung hält, und alle Grundrechte respektiert, achtet, und auch dazu ermutigt. In meinem Freundeskreis werbe ich sehr gerne für die AfD, denn diese Partei zeigt uns: Auch die Deutschen haben ein patriotisches Herz. Und ja! Keine Macht der Fake Media. Schluss mit EU Censorship, und wir lassen uns nie mehr für dumm verkaufen. […] Wir lieben euch. Wir stehen euch Schulter an Schulter zur Seite, in diesem historischen Kampf gegen NWO.“[915]

Ein Beitrag Adolf Frerks auf der Internetseite des AfD-Kreisverbands Kleve (NW) umschreibt die Verschwörung der Neuen Weltordnung dagegen eher vage als „Abschaffung der genuinen (europäischen) Völker“ und bezeichnet die vermeintlichen Urheber in den Reihen der internationalen Eliten als „Protagonisten des Neoliberalismus und der mit ihm verquickten Multikultur“:

„Die Protagonisten des Neoliberalismus und der mit ihm verquickten Multikultur streben im Zeichen der Globalisierung die Abschaffung der genuinen (europäischen) Völker an, was nicht ohne für sie ärgerliche Reibungen zu bewerkstelligen ist. Darum bekämpfen sie jeden Widerstand der Betroffenen, einerseits durch Totschweigen und Leugnen der Schattenseiten des Bevölkerungsaustausches, andererseits durch heftige Kampagnen gegen alle, die ihrem Vorhaben gefährlich werden könnten. […] Nicht nur die Nachkommen der Kinder Abrahams müssen in Deutschland eine Heimat haben, sondern auch die Nachfahren des Arminius. Solches auszusprechen ist natürlich Hassrede eines unverbesserlichen Nazis, für den nach Bekundung eines SPD-Prominenten die KZs reaktiviert werden sollten. Orwell lässt grüßen.“[916]

In einem weiteren Beitrag auf der Website des Kreisverbands Kleve behauptete Adolf Frerk ebenfalls eine „Auflösung der Völker in einem Europa ohne Grenzen“ zugunsten eines „europäischen Großstaat[s]“:

„Gerade vor den Europawahlen ist es an der Zeit, über den von unseren ‚Eliten‘ anvisierten europäischen Großstaat und dessen Alternative, den souveränen Nationalstaat, nachzudenken. Wollen wir wirklich den Weg zum Brüsseler Zentralstaat einschlagen und nach Ansiedlung von Abermillionen von Afrikanern und Orientalen zur Schöpfung des neuen Hybridmenschen beitragen? Der Anfang ist mit der Unterzeichnung des UN-Migrationspaktes durch Frau Merkel bereits gemacht. […] Die Auflösung der Völker in einem Europa ohne Grenzen sei ein sehr geeignetes Mittel, Unruhe auszulösen und Konflikte zu erzeugen. Wie jedoch die Geschichte zeige, gebe es keine tiefen oder dauerhaften Reformen gegen den Willen des Volkes.“[917]

In dem weiter oben bereits angeführten Beitrag von Karl-Ludwig Kunstein, in dem dieser am 27. Oktober 2019 auf Facebook den Blogartikel „Merkei plant nun größte Migrations-Invasion aller Zeiten“ von Michael Mannheimer verbreitete, hieß es zudem, dass die Europäische Union „eine NWO-Invasionsarmee“ transportiere, finanziere und beherberge, „deren Auftrag es ist, alle Deutschen und weißen Europäer auszumerzen“.[918][919]

In weiteren Verlautbarungen wird darüber hinaus der bereits angeführte „Kalergi-Plan“ als vermeintliches Mittel zur Umsetzung der Neuen Weltordnung thematisiert. Zum Beispiel teilte Axel Zamzow, Vorsitzender im Kreisverband Bad Tölz (BY), am 2. April 2020 auf seiner Facebook-Seite einen Blogartikel mit dem Titel „Bischof offenbart: Hinter den Kulissen wurde die Ausrottung der Europäer beschlossen“ und kommentierte diesen unterschwellig zustimmend mit „Ich lass das mal so stehen.“[920] In dem Artikel selbst hielt der interviewte Bischof fest:

„Das Phänomen der sogenannten ‚Einwanderung‘ ist ein Plan, der von internationalen Mächten für lange Zeit inszeniert und vorbereitet wurde, um die christliche und nationale Identität der Völker Europas radikal zu verändern. Diese Mächte nutzen das enorme moralische Potenzial der Kirche und ihre Strukturen, um ihr antichristliches und antieuropäisches Ziel wirksamer zu erreichen. Zu diesem Zweck wird der wahre Begriff des Humanismus und sogar das christliche Gebot der Nächstenliebe missbraucht.“

Der Interviewpartner des Bischofs kommentierte dessen Ausführungen wie folgt:

„Verstehst du? Er spricht vom Kalergi-Plan. Es ist kein Zufall, dass Bergoglio, ebenso wie Merkel, vor einiger Zeit mit dem gleichnamigen Preis ausgezeichnet wurde. Die Kirche ist zu einem bewussten oder unbewussten Instrument des großen Plans der ethnischen Substitution geworden.“[921]

Mit dem Teilen des Artikels und seiner Kommentierung macht sich Zamzow den Verschwörungsmythos der Neuen Wellordnung zu eigen, die unter anderem angeblich auf Basis des „Kalergi-Plans“ realisiert werden solle. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wird in diesem Zusammenhang vom Urheber des Blogeintrags beschuldigt, das deutsche Volk ersetzen zu wollen, wofür ihre Auszeichnung mit dem Kalergi-Preis angeblich als Beweis diene.

Ähnlich argumentierte der Kreisverband Kleve auf seiner Website am 20. Juni 2019 in einem erneut von Adolf Frerk verfassten Beitrag anlässlich der wachsenden Kriminalität im Berliner Görlitzer Park. Letztere nahm der Verband zum Anlass, um in völkischer Manier eine auf dem „Kalergi-Plan“ fußende Verschwörung zur gezielten Abschaffung der europäischen Völker zu prophezeien, an der unter anderem auch deutsche Medien und die Bundesregierung beteiligt seien. Diesbezüglich hieß es:

„Seit den Büchern von Thilo Sarrazin und Akif Pirincci über die Abwicklung Deutschlands wissen wir, dass die Herrschenden dabei sind, sich ein anderes, ihnen genehmes Volk zu schaffen. Vergleichbare Aussagen gibt es auch von französischen und englischen Autoren. So heißt es zum Beispiel in einem Werk von 2017: ‚Europa ist dabei, Selbstmord zu begehen. Zumindest haben seine Führer beschlossen, Selbstmord zu begehen. Ob die europäischen Völker damit einverstanden sind, ist natürlich eine andere Sache.‘ (Douglas Murray, The Strange Death of Europe) Schlimm dabei ist, dass zumal in Deutschland die Politklasse sehr genau weiß, was sie tut, und darum jene mit allen Mitteln bekämpft, die den Volkstod nicht wollen. Erst recht sind die Politiker jener Länder, die sich nicht kolonialisieren lassen, vielmehr ihre Identität bewahren wollen, dem Trommelfeuer der medialen und sozialen Politartillerie ausgesetzt. […] Das Treiben der Merkel-CDU erscheint nicht nur im Ausland vielen unverständlich. Wie kann eine Partei ständig gegen das grundgesetzliche Gebot zur Erhaltung des deutschen Volkes (s. Präambel des Grundgesetzes) verstoßen? Vielleicht sollte der Leser wissen, dass Frau Merkel 2010 den Preis der Coudenhove-Kalergi-Stiftung erhielt. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, Sohn eines österreichisch-ungarischen Diplomaten und einer Japanerin, trat für ein Paneuropa und die Abschaffung der europäischen Völker zugunsten einer afroeuroasiatischen Mischbevölkerung ein. (Die originale Bezeichnung der neuen Mischrasse ist für politisch korrekte Gemüter unerträglich und wird daher hier umschrieben.) Dieser große Austausch schreitet rasch voran.“[922]

Am 5. Mai 2019 teilte der AfD-Kreisverband Landkreis Leipzig (SN) auf seiner Facebook-Seite ein Video von „QLOBAL – CHANGE“ und „Jay2k“ / „Q-NEWS“ mit dem Titel „Was du noch vor den EU Wahlen 2019 wissen solltest“. Hierzu wurde die Aufforderung gepostet: „Anschauen und eine eigene Meinung bilden!“. In dem Video werden die mit der Verschwörungstheorie der Neuen Weltordnung typischerweise verknüpften Feindbilder – Coudenhove-Kalergi, Familie Rothschild und George Soros – angesprochen. Zu Beginn des Videos wird herausgestellt, dass Manfred Weber, der bei der in Deutschland für den 28. Mai 2019 terminierten Europawahl als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) für das Amt das EU-Kommissionspräsidenten antrat, zugleich stellvertretender Vorsitzender der Paneuropa-Union Bayern sei. Aus dieser Funktion wird – wie in den vorangegangenen Beiträgen – ein Bezug zu Richard Coudenhove-Kalergi, dem Begründer der paneuropäischen Idee, abgeleitet. Zu diesem wird in dem Video u. a. ausgeführt:

„In seinem Buch ‚Praktischer Idealismus‘ von 1926 schrieb er unter anderem, Zitat: ‚Der Mensch der fernen Zukunft wird Mischling sein. Die heutigen Rassen und Kasten werden der zunehmenden Überwindung van Raum, Zeit und Vorurteil zum Opfer fallen.‘ Bereits vor fast 100 Jahren hat sich eine globale Finanzelite Gedanken gemacht, wie man Europa und seine Bevölkerung kontrollieren könne. 1950 wurde Kalergi als erster überhaupt mit dem Karlspreis von Aachen ausgezeichnet. […] Zeitsprung: Seine Nichte Barbara Coudenhove-Kalergi schrieb am 07.01.2015‚ Zitat: ‚Europa bekommt ein neues Gesicht, ob es den Alteingesessenen passt oder nicht. Wir leben in einer Ära der Völkerwanderung. Sie hat eben erst begonnen.‘ Nur wenige Monate später hat Merkel die Grenzen öffnen lassen.“

In dieser Darstellung finden sich die wesentlichen Elemente der in der rechtsextremistischen Szene verbreiteten Verschwörungstheorie des „Kalergi-Plans“, die im Kern besagt, dass die weißen Europäerinnen und Europäer durch eine von einer Elite gelenkte Einwanderung mit anderen „Rassen“ durchmischt werden sollen. In dem Videobeitrag wird die Aufnahme von Migrantinnen und Migranten in Deutschland im Jahr 2015 in diesen Kontext gesetzt. In einer Art Exkurs werden sodann die Mitglieder der Familie Rothschild als „wahre Kontrolleure der Welt“ fokussiert.

Im weiteren Verlauf des Videos wird ausgehend von einer Kritik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban am George Soros und unter Berufung auf die „Soros Leaks“ dessen (angebliche) finanzielle Förderung von Migrantinnen und Migranten und sein Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft thematisiert. So hieß es:

„Eines geht aus den gehackten E-Mails (Anm,: aus den ‚Soros Leaks‘) besonders deutlich hervor: Soros zahlreiche und undurchsichtige Netzwerke, wie etwa die Open Society Foundation, finanzieren radikale linke Gruppierungen auf der ganzen Welt. Die illegale Migration nach Europa in die USA und nach Israel ist eines der Steckenpferde von Soros. Aus den E-Mails geht hervor, dass die nationalen Identitäten der westlichen Demokraten unterminiert werden sollen.“

Auch hier wird wieder die Verschwörungstheorie einer gezielt gesteuerten Migration aufgegriffen, die insbesondere die „nationalen Identitäten“ schrittweise zerstören sollen.

Weiter heißt es zu George Soros:

„Wie kann eine einzelne Person so viel Macht ausüben? Die Antwort: mit viel, sehr viel Geld. Laut Q hat er ein Vermögen von bis zu einer Billion Dollar angehäuft. Er ist einer der Puppenspieler. Sein erstes Vermögen hat Soros bei der Konfiszierung von jüdischem Eigentum in Ungarn gemacht. Er war ein Nazi-Kollaborateur, ohne Reue, wie er im Interview zugibt.“

Der „Puppenspieler“ George Soros solle dabei angeblich Einfluss auf fast jeden dritten Abgeordneten im EU-Parlament und „etliche deutsche Politiker aus allen Parteien“ nehmen.[923]

Im Ergebnis ist festzuhalten, dass unter Bezugnahme auf die mit der Verschwörungstheorie der Neuen Weltordnung typischerweise verknüpften Feindbilder eine Beeinflussung von europäischen und insbesondere deutschen Politikerinnen und Politikern konstruiert wird, die angeblich in einem kollusiven Zusammenwirken Migrationsbewegungen so steuern, dass die europäischen Völker durchmischt und deren Identitäten zugunsten eines paneuropäischen Kollektivs vernichtet würden. Diese völkische Sichtweise muss sich auch der AfD-Kreisverband Landkreis Leipzig zurechnen lassen, da er das Video mit einer Aufforderung zum Ansehen auf seinem Facebook-Profil geteilt hat, um im Vorfeld der Europawahl am 26. Mai 2019 die Wahlentscheidung von Facebook-Nutzern zu beeinflussen.

Weitere wiederkehrende Feindbilder, die im Zusammenhang mit der Verschwörungstheorie der Neuen Weltordnung insbesondere im deutschen Diskurs konstruiert werden, umfassen zumeist Bundeskanzlerin Angela Merkei und/oder Vertreterinnen und Vertreter anderer Parteien. Unter anderem ein Antwortbeitrag, den Gerhard Vierfuß am 1. Juni 2020 unter einem Tweet von Johannes Konstantin Poensgen, Autor für die neurechten Magazine Session und Blaue Narzisse, verfasste, bezieht sich unmittelbar auf Angela Merkel sowie Ursula von der Leyen. Poensgen sprach in seinem ursprünglichen Eintrag Berichte über den Freispruch eines Polizisten an, der einen Mann in einem Hotelzimmer erschossen hatte. Vierfuß nahm dessen Aussagen zum Anlass, um gegen Angela „#Merkel und die and. [Anm.: anderen]) Protagonisten des #Globalismus“ – namentlich genannt werden George Soros und Ursula von der Leyen – zu agitieren, die angeblich eine künftige „multiethnische Gesellschaft“ für Deutschland planten. So schrieb er:

„Schrecklich. Das ist die Zukunft, die #Soros, #vdLeyen, #Merkel und die and. Protagonisten des # Neuen Weltordnung Globalismus mit der #Antifa als Straßentruppe für uns vorgesehen haben. Eine multiethnische Gesellschaft ist nur durch Gewalt beherrschbar. Szenen wie diese werden zum Alltag gehören.“[924]

Bei abschließender Betrachtung der Beiträge wird deutlich, dass in der Summe vereinzelt Verlautbarungen auf der Kreis-, Bezirks- und Stadtebene vorliegen, die an die völkische Verschwörungstheorie anknüpfen.

In der Gesamtschau der festgestellten Verlautbarungen auf Kreis-, Bezirks- und Stadtebene ist festzustellen, dass dem Großteil der entsprechenden Aussagen ein Verständnis von Kultur als ethnisch determinierter Gemeinschaft zugrunde liegt, welche durch Zuwanderung vermeintlich in ihrem Bestand bedroht ist. Eine Vielzahl der Äußerungen weist daher auf einen ethnisch-biologistischen bzw. ethnisch-kulturell begründeten Volksbegriff hin, wie er typischerweise in der Ideologie des völkischen Nationalismus oder in seiner neueren Gestalt einer ethnopluralistischen Erzählung konstruiert wird.

Häufig wird in den Aussagen zudem eine europäische, deutsche oder weiße Hochkultur in einem antagonistischen Verhältnis zu den als barbarisch und unzivilisiert stigmatisierten Fremdkulturen stehend imaginiert. Diesem Verständnis folgend postuliert ein großer Teil der Beiträge die Bewahrung oder Wiederherstellung eines ethnisch homogenen (deutschen) Volkes.

Aufbauend auf der Vorstellung von einer Ungleichwertigkeit der verschiedenen Kulturen und Ethnien werden in den angeführten Beispielen wiederholt spezifische Bedrohungsszenarien und Feindbilder heraufbeschworen, die eine Gefährdung für die eigene kulturelle Identität signalisieren. So finden in diesem Zusammenhang Begrifflichkeiten und Argumentationsweisen Verwendung, die sich an die in rechtsextremistischen Diskursen weit verbreite Verschwörungstheorie vom Großen Austausch anlehnen. Da das Überleben des Volkes als Organismus zum zentralen Ziel des politischen Handelns dieser Theorie gemacht wird, werden vereinzelt auch konkrete Handlungsschritte skizziert, die mit einer rechtlichen und/oder sozialen Schlechterstellung, Diskriminierung oder gar einer Massenausweisung von als unerwünscht kategorisierten Bevölkerungsgruppen einhergehen.

In einer vergleichsweise geringeren Anzahl von Verlautbarungen wird darüber hinaus auf die Verschwörung der Neuen Weltordnung abgestellt.

2. Fremden- und minderheitenfeindliche Aussagen und Positionen

Fremdenfeindliche Äußerungen können tatsächliche Anhaltspunkte dafür liefern, dass die Gewährleistung der Menschenwürde im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG für bestimmte Personengruppen außer Geltung gesetzt werden soll.

Dies liegt insbesondere bei rassistisch motivierter Diskriminierung und einer grundsätzlichen Behandlung einzelner Personen und Personengruppen wie Menschen zweiter Klasse vor.[925] Dabei kann eine kontinuierliche Agitation gegen bestimmte Personen oder Personengruppen, mit der diese pauschal diffamiert und verächtlich gemacht und dabei irrationale Ängste und Ablehnung gegenüber diesen Personen(gruppen) geschürt werden, Ausdruck eines Bestrebens sein, die Geltung der im Grundgesetz verankerten Menschenrechte für diese Teile der Bevölkerung außer Kraft zu setzen.[926] Durch eine anhaltende Pauschalisierung wird der Achtungsanspruch des Einzelnen aufgehoben und Personen und Personengruppen damit das Recht auf eine menschenwürdige gesellschaftliche Teilhabe abgesprochen.[927] Die Äußerungen müssen sich dabei jenseits einer konstruktiv-sachlichen Auseinandersetzung bewegen und in ihrer Zielsetzung kontinuierlich herabsetzend und entwürdigend sein.[928]

Auch Kritik an der Einwanderungs- und Asylpolitik ist nicht per se verfassungsschutzrelevant. So stellt die Forderung nach einer weitgehenden Beschränkung von Zuwanderung keinen Anhaltspunkt für fremdenfeindliche Bestrebungen der. Anders ist es allerdings zu beurteilen, wenn Äußerungen unmittelbar an die Asylbewerber und Asylbewerberinnen sowie Migranten und Migrantinnen adressiert sind und diese pauschal verächtlich machen.[929]

2.1 Programmatische Schriften

Eine wesentliche Quelle zur Beurteilung des ideologischen Hintergrunds der AfD und einer etwaigen Verfassungsschutzrelevanz stellen die programmatischen Schriften der Partei auf Bundes- und Landesebene der. Im Folgenden ist zu prüfen, ob darin enthaltende Aussagen tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in Form von verfassungsschutzrechtlich relevanter Fremdenfeindlichkeit darstellen.

Flüchtlingen und Zugewanderten wird in programmatischen Schriften der AfD eine überproportional ausgeprägte Neigung zu Gewaltkriminalität und Sexualverbrechen vorgeworfen. Es gilt zu prüfen, inwieweit diesbezügliche Verlautbarungen Verfassungsschutzrelevanz entfalten.

Der AfD-Landesverband Thüringen spricht in seinem Programm zur Landtagswahl 2019 von einer „überdurchschnittlich hohen Kriminalitätsrate“, welche die innere Sicherheit nachhaltig beeinträchtige:

„Millionen Menschen sind in den zurückliegenden Jahren illegal in unser Land gekommen. Die überdurchschnittlich hohe Kriminalitätsrate der Zugewanderten ist in besonderem Maße für die Erosion unserer Sicherheit verantwortlich. Den gesetzlich vorgesehenen, aber nicht durchgesetzten Grenzschutz bezahlen wir Bürger im Inneren auch mit Eingriffen in unsere Freiheitsrechte und mit einer erheblichen Einschränkung unserer Lebensqualität. Wir treten für einen Rechtsstaat ein, in dem sich jederzeit alle, insbesondere Frauen, ohne Angst in der Öffentlichkeit bewegen können. […] Die Kriminalitätsstatistiken legen nahe, dass der öffentliche Raum deutlich unsicherer geworden ist, was insbesondere auf einen Anstieg der Gewaltkriminalität und der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung zurückzuführen ist, bei denen Zugewanderte weit überdurchschnittlich tatverdächtig sind.“

Die Partei sprach zudem von einem selbst von Polizisten als aussichtslos erlebten „Kampf gegen die ausufernde importierte Kriminalität“.[930]

Die AfD zeichnet damit ein Bedrohungsszenario, in dem deutsche Bürger und insbesondere Bürgerinnen als potenzielle Opfer von Zugewanderten erheblich in ihrer Sicherheit, Freiheit und Lebensqualität eingeschränkt seien. Mit der Aussage, dass selbst Polizistinnen und Polizisten der „ausufernde[n] importierte[n] Kriminalität“ nahezu machtlos gegenüberstünden, schürt die Partei ein Gefühl der Hilflosigkeit und suggeriert, dass es kein friedliches Miteinander geben könne. Unabhängig von einer zulässigen Kritik zum Thema Kriminalität im Zusammenhang mit Zuwanderung liegt hier die undifferenzierte Aussage über eine überdurchschnittlich hohe Gewaltkriminalität und Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung „der Zugewanderten“ insgesamt fernab jeglicher Sachlichkeit. Die Aussage dient letztlich auch hier wieder nur dazu, irrationale Ängste gegenüber einer ganzen Personengruppe zu schüren und diese im Kern als kriminell zu diffamieren.

In mehreren programmatischen Äußerungen werden zudem die Fluchtmotive von Asylsuchenden und Flüchtlingen angezweifelt und diesen Personengruppen unabhängig von den Herkunftsländern und Fluchtgründen primär finanzielle und mithin unlautere Interessen unterstellt. Die polemisch vorgebrachte Kritik an einer vermeintlichen Ausnutzung und hierdurch möglicherweise zu befürchtenden Überforderung des Sozialsystems entfaltet dabei noch keine Verfassungsschutzrelevanz. Die Grenze kann jedoch überschritten sein, sofern die Vorwürfe in einer derart pauschalisierenden Weise vorgebracht werden, dass hierdurch die Asylsuchenden in ihrer Gesamtheit verunglimpft und mithin erheblich abgewertet werden.

Der entwicklungspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, stellvertretender Vorsitzender des AfD-Landesverband Baden-Württemberg und Sprecher im Kreisverband Böblingen, Markus Frohnmaier (MdB), forderte in seinem Text „Wohlstand für den Staatsbürger – Die AfD als volkskapitalistische Partei rechts der Mitte“ aus dem Jahr 2017, den Bezug von Sozialleistungen an die deutsche Staatsbürgerschaft zu koppeln:

„Der Bezug von Sozialleistungen sollte an die Staatsangehörigkeit gekoppelt werden. Personen, die nicht die deutsche Staatsbürgerschaft und auch nie in die deutschen Sozialkassen eingezahlt haben, sollen keinen Anspruch auf Transferleistungen haben. Der Sozialstaat wurde vom Grundgesetz nicht für eine amorphe Masse, die zufällig in den Grenzen der BRD lebt, geschaffen, sondern für den Souverän: Das deutsche Volk. Ausländer sollten Sozialleistungen erst in Anspruch nehmen dürfen, nachdem sie zehn Jahre Sozialversicherungsbeiträge abgeführt haben. Im Sinne der Menschenwürde sind Ausländer, die weniger als zehn Jahre eingezahlt haben, aber hilfsbedürftig sind, aber mit Sachleistungen zu versorgen. Ziel muss es aber sein, solche Ausländer in ihre Heimat so schnell wie möglich abzuschieben.“[931]

Die Forderung, eine Auszahlung von Sozialleistungen an die Staatsangehörigkeit sowie die Beitragsjahre zu knüpfen, ist isoliert betrachtet nicht verfassungsfeindlich. Die Staatsangehörigkeit stellt kein generell unzulässiges Differenzierungsmerkmal dar. Obwohl Frohnmaier Zugewanderten im Fall der Hilfsbedürftigkeit im „Sinne der Menschenwürde“ die Versorgung mit Sachleistungen zubilligt, weist er ihnen durch die Forderung, sie „so schnell wie möglich abzuschieben“, einen minderwertigen Status zu. Der Wert des Einzelnen und somit sein Bleiberecht‚ ungeachtet des Aufenthaltsstatus, wird auf diese Weise ausschließlich an seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gekoppelt. Frohnmaier negiert zudem kategorisch sonstige individuelle Bleibegründe.

In einem „Impulspapier“ zum Thema „Leistung und Eigenverantwortung. Grundideen für eine Volksrente nach Schweizer Vorbild“ aus dem Jahr 2019 formulierte Frohnmaier mit Blick auf das Rentensystem:

„Primat des Staatsbürgers: Deutsche müssen in ihrem eigenen Sozialsystem in Abgrenzung zu Ausländern, die noch keine angemessenen Beiträge geleistet haben, privilegiert werden. Die Ungleichbehandlung van Deutschen an Ausländern ist geboten, weil das deutsche Rentensystem primär vom deutschen Staat für die eigenen Staatsbürger bereitgestellt wird. […] Für deutsche Staatsbürger. Für jedes Beitragsjahr, indem Grundrentenbeiträge gezahlt wurden, soll der Mindestbetrag der Grundrente um einen Prozentpunkt angehoben werden. […] Für Ausländer: Die Grundrente wird erst ausgezahlt, wenn zuvor mindestens zehn Jahre Grundrentenbeiträge gezahlt wurden. Zehn Jahre Arbeitstätigkeit ermöglichen dem Ausländer damit den Zugang zur Grundrente. Eine Erhöhung des Mindestbetrages der Grundrente für weitere Beitragsjahre findet nicht statt. […] Da es sich um ein umlagefinanziertes System handelt, muss die Höhe der Beiträge nicht nur an die Höhe des Einkommens, sondern auch an die Zahl der Kinder gekoppelt werden. Perspektivisch soll mit jedem Kind der Grundrentenbeitrag dabei halbiert werden. […] Auch hier gilt eine Ausnahme für Ausländer, die unabhängig von der Kinderzahl stets die vollen Grundrentenbeiträge zu entrichten haben.“[932]

In der Forderung, nicht-deutsche Staatsbürger im Rentensystem bei gleich gelagerter Beitragsleistung vom Leistungsprinzip zu einkoppeln, ist eine sachgrundlose, mithin diskriminierende Ungleichbehandlung zu sehen. Dies gilt auch für die Berücksichtigung der Zahl der Kinder, die nur bei deutschen Staatsbürgern zur Geltung kommen soll, während „Ausländer“ „unabhängig von der Kinderzahl stets die vollen Grundrentenbeiträge zu entrichten haben“.

In den programmatischen Schriften der AfD finden sich außerdem Aussagen zum Thema Integration und den aus Sicht der Partei diesbezüglich bestehenden Grenzen. Es ist grundsätzlich zulässig, die tatsächlich oder vermeintlich fehlende Anpassung bestimmter Bevölkerungsgruppen an die Lebensgewohnheiten der Mehrheitsbevölkerung zu problematisieren und eine stärkere Anpassung zu fordern. Die Grenze zu menschenwürdeverletzenden Äußerungen wird jedoch dort überschritten, wo eine Bevölkerungsgruppe pauschal als von ihrer Natur her nicht integrationswillig oder -fähig dargestellt wird.

Die AfD Thüringen schrieb in ihrem Programm zur Landtagswahl 2019:

„Eine Integration der seit 2015 nach Thüringen eingereisten mehreren zehntausend Armutsmigranten scheitert nicht nur an der häufig mangelnden Bereitschaft und Fähigkeit dieser Menschen zur Integration. Auch ein Großteil der Thüringer möchte nicht derart viele Menschen aus kulturfremden Regionen dauerhaft integrieren, schon gar nicht auf Kosten des Steuerzahlers und unter Hinnahme von Verhaltensweisen und kulturell-religiösen Praktiken, die sich mit unseren europäischen Werten nicht vereinbaren lassen.“[933]

Durch den Verweis auf das Jahr 2015 wird deutlich, dass die AfD mit dem Begriff „Armutsmigranten“ offenbar sämtliche Migrantinnen und Migranten einschließlich der Asylsuchenden und Flüchtlinge meint. Sie spricht den Migrantinnen und Migranten mithin pauschal ihre Schutzwürdigkeit und legitime Fluchtursachen ab. Darüber hinaus unterstellt sie der Mehrzahl eine „mangelnde[n] Bereitschaft und Fähigkeit“ zur Integration. Auch durch den Verweis auf die Herkunft der Asylsuchenden aus „kulturfremden Regionen“ und vermeintliche „Verhaltensweisen und kulturell-religiösen Praktiken, die sich mit unseren europäischen Werten nicht vereinbaren lassen“, attestiert die AfD den – mutmaßlich vorrangig muslimisch geprägten – Geflüchteten eine prinzipielle Inkompatibilität. Auf diese Weise wertet sie diese Bevölkerungsgruppe allein aufgrund ihrer Herkunft ab.

In vergleichbarer Weise agitierte auch die sächsische AfD in ihrem „Regierungsprogramm“ zur Landtagswahl 2019 unter dem Titel „Trau dich Sachsen“. Darin schrieb die Partei:

„Für uns als der Welt zugewandte Sachsen, de gleichwohl das Eigene bewahren und schätzen, ist die Gewährung von Asyl selbstverständlich – nicht jedoch der von der Bundesregierung zugelassene Missbrauch des Asylrechts für eine Massenzuwanderung meist unqualifizierter Menschen aus inkompatiblen Kulturkreisen.“[934]

Die Partei räumt damit zwar die grundsätzliche Gewährung von Asyl als „selbstverständlich“ ein, setzt im selben Zusammenhang jedoch die derzeitige Asylpolitik pauschal mit einer „Massenzuwanderung meist unqualifizierter Menschen aus inkompatiblen Kulturkreisen“ gleich. Die Rede von „inkompatiblen Kulturkreisen“ spricht den einzelnen Migranten pauschal die Fähigkeit ab, sich in die hiesigen gesellschaftlichen Umstände einfügen zu können.

Die AfD Sachsen spricht dem Großteil der Flüchtlinge in ihrem Wahlprogramm zudem eine Schutzwürdigkeit und deren Eignung und Bereitschaft zur Eingliederung in die deutsche Gesellschaft ab:

„Die von der Bundesregierung seit 2015 forcierte Massenzuwanderung hat auch Sachsen vor extreme Herausforderungen gestellt. Wir wurden gezwungen, erhebliche Ressourcen für die Bewältigung von künstlich und ohne Not erzeugten Problemen bei der Aufnahme und Versorgung von Menschen aufzuwenden, die überwiegend weder asylberechtigt noch geeignet oder wenigstens gewillt waren, für unsere Wirtschaft mittelfristig substantielle Beiträge zu leisten und sich in unsere Gesellschaft mit der ihr eigenen, deutschen Kultur einzufügen. Die wenigsten der überwiegend jungen, alleinstehenden Männer waren wirklich von unmittelbarer Gefahr bedroht, eine erhebliche Anzahl unter ihnen kam in durchaus gefährlichen Absichten.“[935]

Auch diese Ausführungen unterstreichen, dass die sächsische AfD die Mehrzahl der Asylbewerberinnen und insbesondere Asylbewerber als Belastung und Bedrohung für Deutschland wahrnimmt. Sie werden aufgrund ihrer Herkunft als inkompatibel, minderwertig und gefährlich darstellt und mithin erheblich abgewertet. Im Rahmen einer willkürlich vorgenommenen Hierarchisierung anhand ethnisch-kultureller Qualitätskriterien wird der Menschengruppe daher ohne Ansehen individueller Eigenschaften und Motive die Möglichkeit einer Integration in Deutschland abgesprochen.

In ihrem Programm zur Landtagswahl in Brandenburg nahm die Partei als Positivbeispiel der Integration Bezug auf die Hugenotten. Sie rekurrierte damit auf einen Vergleich, den Björn Höcke in der Vergangenheit mehrfach in Redebeiträgen gezogen und in diesem Zusammenhang die ethnokulturelle Nähe als unabdingbare Voraussetzung für gelungene Integration herausgestellt hatte.[936]

Die AfD führte in ihrem Landtagswahlprogramm für Brandenburg aus:

„Anders als heutige ‚Flüchtlinge‘ waren die Hugenotten sehr gut ausgebildet und wurden daher […] zu Taktgebern des wirtschaftlichen Fortschritts. Zudem lernten sie schnell Deutsch und passten sich aufgrund ihrer westeuropäischen Herkunft sehr schnell an das damalige brandenburgisch-preußische Gesellschaftssystem an. Völlig anders sieht es hingegen beim fortdauernden Zustrom von Menschen aus Nahost und Afrika aus. Im Gegensatz zu den Hugenotten stammen diese aus wirtschaftlich schwachen Staaten, deren Gesellschaftsmodell zudem in vielen Bereichen im Mittelalter verblieben ist. Die Todesstrafe, die Unterdrückung von Frauen und Mädchen oder die fehlende Toleranz gegenüber anderen Weltanschauungen, wie sie in islamischen Ländern an der Tagesordnung sind, haben in unserem aufgeklärten Land Brandenburg nichts zu suchen.“[937]

Die AfD Brandenburg schlussfolgerte in ihrer Aussage, dass heutige Geflüchtete insgesamt in Brandenburg nichts zu suchen hätten, was eine pauschale Ausgrenzung dieser Personengruppe darstellt.

Die multikulturelle Gesellschaft wird durch die AfD Thüringen in deren Landtagswahlprogramm als das Gegenbild einer stabilen Gesellschaftsordnung dargestellt:

„Eine intakte Rechtsordnung fußt auf unhinterfragten Selbstverständlichkeiten, die es in der von allen Altparteien angestrebten multikulturellen Gesellschaft nicht geben kann. Deshalb weist die AfD Thüringen entschieden das Ansinnen zurück, unsere über Generationen gewachsene Vertrauensgesellschaft in eine multikulturelle Gesellschaft aufzulösen.“[938]

Die AfD Thüringen rekurriert mit dem Begriff der „Vertrauensgesellschaft“ auf Ausführungen, die ihr Spitzenkandidat und Landessprecher Björn Höcke unter anderem im Rahmen einer Wahlkampfrede am 8. August 2019 in Döbeln (SN)[939] tätigte. Demnach sei nur im Rahmen eines ethnokulturell-homogenen und über Jahrhunderte entstandenen Kollektivs („Vertrauensgesellschaft“) gegenseitiges Vertrauen als Grundlage für wirtschaftliche Prosperität, Sicherheit und unbeschwertes Wohlbefinden möglich. Als absoluten Kontrast dazu mit den entsprechend gegenteiligen Negativattributen sei die multikulturelle Gesellschaft anzusehen. Das von Höcke propagierte Volksverständnis sieht in deutlichem Widerspruch zum offenen und pluralistischen Staatsvolkbegriff des Grundgesetzes und impliziert die menschenwürdewidrige Überhöhung eines – konstruierten – ethnokulturellen Kollektivs und die Exklusion Fremder.

Die AfD Thüringen formulierte in ihrem Landtagswahlprogramm zudem die Forderung nach umfassenden Abschiebungen. Sie erklärte in ihrem Programm zur Landtagswahl:

„Thüringen braucht keine bildungsfernen Migranten. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, illegale Zuwanderung wie bisher mit Milliarden Euro zu fördern. Wir werden daher unmittelbar nach Übernahme der Regierungsverantwortung eine massive Abschiebungsinitiative starten.“[940]

Auch in dieser Aussage kommt zunächst eine pauschale Diffamierung aller Migranten als „bildungsfern“ zum Ausdruck. Zudem wird die derzeitige Zuwanderung seitens der AfD pauschal als illegal dargestellt. Indem das Vorliegen legitimer individueller Migrationsgründe, wie z.B. im Fall der Schutzwürdigkeit von Flüchtlingen, kategorisch ausgeschlossen wird, erfolgt eine Abwertung dieser Bevölkerungsgruppe.

In den aufgeführten programmatischen Schriften der Partei zeichnet sich eine deutliche Zielrichtung ab: ein Szenario an die Wand zu malen, wonach Zugewanderte pauschal und in Gänze als Bedrohungspotenzial aufgrund ihrer kulturellen Herkunft dargestellt werden. Dies zielt darauf ab, Unsicherheiten und Vorurteile zu schüren, wodurch der Boden für Ablehnung und letztlich auch unfriedliches Verhalten gegenüber diesen Bevölkerungsgruppen bereitet und ihnen eine gleichwertige gesellschaftliche Teilhabe durch die konsequente Agitation abgesprochen wird.

2.2 Bundesebene

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Detlev Spangenberg konstatierte im August 2019 einen „massiven Kriminalitätsimport“ und erklärte:

„Zu uns kommen nicht die durchschnittlichen Ausländer, sondern in vielen Fällen […] der Bodensatz, kriminelle Elemente, Glücksritter und sprachlich eben die Strauchdiebe, die unsere kriminelle Landschaft bereichern.“[941]

Mit der Bezeichnung „Bodensatz“ werden die nicht „durchschnittlichen Ausländer“ diffamiert und verächtlich gemacht.

Auch Alexander Gauland, Bundestagsabgeordneter und zu diesem Zeltpunkt noch Bundessprecher der AfD, sprach im Rahmen einer Wahlkampfveranstaltung in Brandenburg a. d. Havel im August 2019 von einem „Kriminalitätsimport“:

„In keinem europäischen Land gelingt die Integration des Jugendüberschusses aus Afrika und dem Orient, obwohl er die Europäer Milliarden kostet. […] Wer diese Politik als das bezeichnet, was sie ist: Ausplünderung der Steuerzahler, Kriminalitätsimport, Untreue der Regierenden, die auf das Wohl des Volkes vereidigt sind, ist ein… Naja, sie wissen schon, was sie dann sind im öffentlichen Diskurs.“[942]

Mit dieser Formulierung wird suggeriert, dass die Integration von Jugendlichen aus Afrika und dem Orient in Europa praktisch unmöglich ist. Es wird nicht auf die Schwierigkeiten und auch die Problematik fehlschlagender Integration des genannten Personenkreises hingewiesen, sondern durch die Darstellung, eine solche Integration gelinge nirgendwo in Europa, Angst und Ablehnung geschaffen. Deutlich konkreter wurde die stellvertretende AfD-Bundessprecherin und Vorsitzende der Bundestagsfraktion Alice Weidel in einer Rede am 25. August 2019 auf einer Wahlkampfkundgebung in Peitz (BB), in der sie aus ihrer Sicht für Zugewanderte typische Straftaten schilderte:

„Die Zahl brutaler Verbrechen steigt, und immer häufiger sind es Migranten, Asylbewerber, Geduldete, die so genannten Schutzsuchenden eben, die die Taten verüben, auch wenn stets etwas anderes behauptet wird.“[943]

Es sei der Sicherheit abträglich, Menschen aus einer „völlig bildungsfernen‚ gewalttätigen Unterschicht“, aus „Gesellschaften, in denen man erst zuschlägt oder zusticht, bevor man redet“, und „Menschen aus Kulturen, in denen Gewalt, physische wie sexuelle, gerade gegen Frauen als normal angesehen wird“, nach Deutschland zu holen.

Dazu ergänzte sie:

„Es ist der Kulturkreis, Männer mit minimalen Bildungsvoraussetzungen, maximalen Erwartungen, die jetzt hier sind.“[944]

Alice Weidel führt in ihrem Redebeitrag somit diverse pauschalisierende Vorurteile über Geflüchtete an, welche dazu geeignet sind, diese Menschen auszuwerten.

In vergleichbarer Weise schrieb der Bundestagsabgeordnete Uwe Schulz am 1. August 2019 auf Facebook:

„Es sind Migranten, die unser Land in NoGo-Zonen verwandeln. Sie sind es, die die Regeln von Gewalt und Grausamkeiten aus ihren eigenen Kulturen mit in unsere Heimat bringen.“[945]

Mary Khan-Hohloch, stellvertretende Bundesvorsitzende der Junge Alternative, teilte am 9. Dezember 2019 auf Facebook einen Artikel des Magazins FOCUS mit dem Titel „23-Jähriger sticht am Münchner Hauptbahnhof von hinten auf Polizisten ein“ und kommentierte diesen wie folgt:

„Der Wahnsinn nimmt kein Ende. #Messerstichkultur.“[946]

Indem Khan-Hohloch den Hashtag „Messerstichkultur“ verwendet‚ unterstellt sie der Kultur des Täters und damit auch ihren Angehörigen zur Gänze eine Affinität zu Gewalttaten mit Stichwaffen.

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Berengar Elsner von Gronow teilte auf Twitter im Jahr 2019 einen Beitrag von Jörg Schneider (MdB und Sprecher im Kreisverband Gelsenkirchen) in dem Messerstraftaten ebenfalls als „importiertes Problem der verfehlten Zuwanderungspolitik“ dargestellt wurden.[947]

Die Darstellung suggeriert, dass mit Messern begangene Straftaten ausschließlich durch Personen mit Migrationshintergrund verübt würden. Diese tatsachenwidrige Darstellung ist dazu geeignet, fremdenfeindliche Vorurteile zu schüren.

Am 29. Juli 2019 veröffentlichte der Bundestagsabgeordnete Gottfried Curio auf seinem YouTube-Kanal ein Statement zu dem durch einen Mann aus Eritrea verübten Tötungsdelikt zum Nachteil eines achtjährigen Jungen am Frankfurter Hauptbahnhof. Darin stellt er letztlich Migranten pauschal als mordlustige Verbrecher dar:

„Es ist nicht länger hinnehmbar, dass einfach überall Leute mit Mordlust herumlaufen. […] Der öffentliche Raum wird zum Angstraum, eine Grundunsicherheit macht sich breit. Bahnhofsbesuch ist also künftig nur noch möglich mit dem Blick nach hinten über die Schulter.“

Zugewanderten attestiert der Bundestagsabgeordnete Gottfried Curio in seiner Erklärung ferner eine „Grundaggressivität“ und stellt sie als „Hochrisikogruppe“ und mithin als permanente Bedrohung dar:

„Die Aggression beginnt schon niederschwellig, wenn mit bewusstem nicht Platz machen, breitbeiniger Körpersprache eine Grundaggressivität symbolisiert wird. […] Ich frage mich an diesem Tage, wie viele deutsche Staatsbürger sollen eigentlich noch auf dem Altar dieser grenzenlosen Willkommenskultur geopfert werden? […] Wenn also vorsätzlich eine Hochrisikogruppe hier importiert wird und dann es sich zeigt, dass diese Risiken für die Bürger sich auch einstellen, damit meinen wir, spätestens, ist es geboten, diese Politik auf den Prüfstand zu stellen und für Abhilfe zu sorgen. […] Deutschland ist nach wie vor offen wie ein Scheunentor, das die Bürde dessen, die Last dieser Entscheidungen, tragen die Bürger, und zwar bis hin zur Gefahr und Verlust ihres Lebens.“[948]

Curio nimmt das Tötungsdelikt zum Anlass, pauschal eine allgegenwärtige Bedrohungssituation für Deutsche durch Flüchtlinge zu zeichnen.

Der Bundestagsabgeordnete Karsten Hilse erklärte in einer Rede am 8. Oktober 2019:

„Dass fast täglich Frauen vergewaltigt, Menschen erstochen werden oder wie zum Beispiel, wann war’s, vorgestern, ein Terroranschlag. […] Wir werden uns niemals damit abfinden, dass Menschen aus anderen Kulturkreisen unsere Mütter, Frauen und Töchter zu Freiwild erklären. Wir werden niemals akzeptieren, dass wir uns verbarrikadieren müssen, um auf, um auf Straßen, Plätzen zu feiern, so wie es seit Jahrhunderten Tradition ist.“[949]

Am 1. Juli 2019 veröffentliche Martin Sichert (MdB) einen Beitrag auf seiner Facebook-Seite (geteilt von Stefan Löw (MdL, BY und stellv. Vorsitzender im Bezirksverband Oberpfalz)), in dem Konflikte und Ausschreitungen in deutschen Schwimmbädern thematisiert wurden. Darin hieß es:

„Wer Multikulti leben will, der muss eben auch damit rechnen, dass er sich im Konfliktfall hunderten hochaggressiven und gewaltbereiten jungen Männern gegenüber sieht – und dann ist ganz schnell Schluss mit dem Märchen ‚Wir haben uns alle lieb‘. […] Entweder Multikulti ODER unbeschwerter Badespaß.“[950]

Sichert suggeriert mit seiner Aussage, dass Aggressivität und Gewalttätigkeit in der Natur von Personen mit Migrationshintergrund liegen und ein unbeschwertes Miteinander somit schlicht unmöglich sei.

Der Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann äußerte im April 2019 mit Blick auf Gewalttaten, die durch Flüchtlinge verübt wurden:

„Es wird deutlich: Die Deutschen müssen vor den vermeintlich Schutzsuchenden Schutz suchen. Verfolgt sind nunmehr die Deutschen – verfolgt von den Auswirkungen der Altparteienpolitik. Durch sie wurde die Gewalt importiert.“[951]

Vergleichbar äußerte sich auch der Bundestagsabgeordnete Gottfried Curio im Rahmen des Wahlkampfauftakts in Thüringen:

„Aber wo, wo leben wir? In einem Land, wo jetzt immer wieder Menschen Schutz suchen müssen vor angeblich Schutzsuchenden.“[952]

Die Aufnahme Geflüchteter wird in den Verlautbarungen der AfD auf Bundesebene wiederkehrend als potenziell lebensgefährlich und mithin politisch unverantwortlich dargestellt. Konkrete Straftaten werden zum Anknüpfungspunkt genommen, pauschal das Bild einer zur Gänze kriminellen und gefährlichen Personengruppe zu zeichnen. Die hier angeführten Aussagen über durch Geflüchtete verüble Straf- und Gewalttaten lassen sich dabei nicht mehr als bloße scharfe Kritik an der tatsächlich oder vermeintlich verstärkt von dieser Menschengruppe ausgehenden Kriminalität verstehen. Flüchtlinge werden gänzlich aufgrund Ihrer ethischen Herkunft als gefährliche Hochrisikogruppe, als von Natur aus besonders kriminell und aggressiv oder als Vergewaltiger dargestellt, worin eine menschenwürdewidrige kontinuierliche pauschale Verächtlichmachung der Migranten zu sehen ist.

Der Bundestagsabgeordnete Dirk Spaniel twitterte am 6. Januar 2019:

„Der nächste Fall: Geschenkter Mensch aus #Messer-Kultur, zufällig 17 Jahre alt, sticht jungen Deutschen nieder.“[953]

Da Wortwahl „Geschenkter Mensch“ ironisiert die im Zusammenhang mit der Migration von der AfD vielfach kritisierte zivilgesellschaftliche Willkommenskultur und dem diesbezüglichen Diskurs von der Bereicherung und dem Geschenk der Einwanderung. Die pauschale Kontextualisierung des Täters mit einer Messerkultur verdeutlicht zum einen diese Ironie und verunglimpft zum anderen in herabwürdigender Weise die ebenfalls diesem Kulturkreis angehörige Menschengruppe.

Der Bundestagsabgeordnete Lothar Maler äußerte sich in einem auf Facebook veröffentlichten Beitrag vom 23. Mai 2019 dahingehend:

„Die fremdkulturellen Messer-Männer gehen um in Deutschland, Tag für Tag. […] Eine Bilanz des Grauens, nicht erfunden von ‚Rechtspopulisten‘, sondern alltägliche Realität im fünften Jahr der Merkel’schen Massen-Invasion aus dem Orient. Gewalt, Mord und Totschlag haben unser Land im Griff.“[954]

Ähnlich äußere sich auch Peter Felser (MdB und Vorsitzender im Kreisverband Oberallgäu/Lindau/Kempten) (geteilt über den Kreisverband Hochfranken).[955]

Martin Hohmann, ebenfalls Bundestagsabgeordneter der AfD, schreib am 12. Mai 2019 in vergleichbarer Weise auf Facebook:

„Nicht die Messer sind die Gefahr, sondern die Messermänner. Nicht das Tragen von Messern ist zu verbieten, sondern der Import von Menschen, die es für Morde und Mordversuche benutzen.“[956]

Am 12. Januar 2019 kommentierte Thomas Seitz (MdB) auf Twitter einen Bericht über den durch einen Asylbewerber begangenen Angriff auf eine schwangere Frau folgendermaßen:

„Wird 2019 etwa wieder ein Jahr der ‚Messermänner‘ alias ‚Merkelgäste‘?“[957]

Vergleichbar äußerte sich auch der AM-Bundestagsabgeordnete Heiko Hessenkemper:

„Alimentierte Messermänner auch zum Weihnachtsfest keine Pause…“[958][959]

Hessenkemper bezog sich auf einen Vorfall in Aue (SN), bei dem es in einem Pfarrhaus zu einer Messerstecherei zwischen syrischen und iranischen Männern kam.

Auch der Begriff „Messermigration“ findet fortgesetzt Verwendung durch Vertreter der AfD-Bundesebene.

Die vielfache Verwendung von diffamierenden Begriffen wie „Messerzuwanderung“, „Messermigration“ und Messerstichkultur“ ist in Wortwahl, Diktion und Inhalt erkennbar darauf gerichtet, Asylbewerbern und Migranten ihre Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) abzusprechen.[960]

Am 19. Februar 2019 äußerte die AfD-Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Bundessprecherin Beatrix von Storch auf Facebook:

„Messermigration stoppen. […] Klingen- und Messerattacken sind zur Normalität in Deutschland geworden.“[961]

Einen weiteren Tweet der Abgeordneten von Storch mit der Forderung des sofortigen „Stopp[s] der Massen- und Messereinwanderung“ verbreitete der AfD-Bundesverband am 25. November 2019 in Form eines Retweets weiter und drückte somit seine übereinstimmende inhaltliche Nähe zu der Aussage aus.[962]

Am 12. Mai 2019 veröffentlichte der Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner anlässlich der Debatte um das Verbot bestimmter Messer auf seiner Facebook-Seite folgende Aussage:

„Gegen massenhafte Messerstechermigration helfen keine Messerverbote!“[963]

Der Begriff der „Messermigration“ bzw. „Messer-Migration“ fand darüber hinaus Verwendung durch weitere nachrangige Vertreter der AfD, so zum Beispiel durch den Europaabgeordneten Lars Patrick Berg sowie den Bundestagsabgeordneten Jürgen Braun.[964][965][966]

In einem Facebook-Beitrag vom 19. Dezember 2019 erklärte die AfD-Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst, die „Zwangsmultikulturalisierung“ habe den Deutschen „Messerleichenberge“ verschafft.[967]

Soweit die AfD hier konkrete Straftaten als Anknüpfungspunkt für ihre Kritik nimmt, begründet eine lediglich sprachliche Überspitzung durch „Messer“-Präfixe isoliert betrachtet keine verfassungsschutzrechtliche Relevanz. Doch die pauschalisierende Instrumentalisierung solcher Begriffe – zum Teil auch losgelöst von konkreten Straftaten – ist in der Gesamtschau geeignet, die Personengruppe der Zugewanderten in ihrer Gänze mit lebensbedrohlichen Gewaltausübungen gleichzusetzen und ihnen in ihrer Gesamtheit eine erhöhte Gewalttätigkeit zuzuschreiben. Zugewanderte werden pauschal als durch Gewaltkriminalität determinierte Personen dargestellt. Die Zuordnung von straffällig gewordenen, meist männlichen Asylbewerber zu einer vermeintlichen „Messer-Kultur“ ist dazu geeignet, Vorbehalte gegenüber der gesamten Menschengruppe zu fördern und stellt eine pauschale Verunglimpfung dar. Der Bundestagsabgeordnete, stellvertretende Vorsitzende im AfD-Landesverband Baden-Württemberg und Vorsitzende des Kreisverbands Ludwigsburg, Martin Hess, äußerte sich in einer Diskussionsrunde kritisch zum „Begriff Flüchtling“ und sprach stattdessen von „illegale[n] Armutsmigranten“ und „Versorgungssuchende[n]“. Ferner erklärte er:

„Wir müssen schauen, dass wir Sach- statt Geldleistungen umsetzen. Denn, ich glaube, der Harald hat es vorher schon angesprochen: der Grund, warum diese Menschen kommen, ist ganz klar oder sind die Sozialleistungen, die wir anbieten. Es ist ein eine wirtschaftliche Triebfeder. Man möchte ein besseres Leben führen und das müssen wir eben, diesen Anreiz, müssen wir abstellen.“[968]

Nicolaus Fest (MdEP und Vorsitzender im AfD-Landesverband Berlin) äußerte in einem auf YouTube veröffentlichten Video über Flüchtende, dass „kaum einer […] je einen positiven Beitrag für die Steuer- und Sozialklassen“ leisten würde und schlussfolgerte:

„Es sind keine Facharbeiter, die kommen, es sind – obwohl noch sehr jung – Frührentner. Und weil sie so jung sind, werden sie den Deutschen 30, 40 oder 60 Jahre auf der Tasche liegen.“[969]

Zahlreiche weitere AfD-Funktionäre äußerten zudem die stark verkürzte Behauptung, es finde eine „Einwanderung in unser Sozialsystem“ beziehungsweise „Migration in unsere Sozialsysteme“ statt. So beispielhaft der Bundessprecher Jörg Meuthen in Tweets vom 25. März[970] und 25. Mai 2019[971] sowie der Bundestagsabgeordnete Steffen Kotré in einer Wahlkampfrede in Brandenburg an der Havel (BB) im August 2019[972].

In besonders scharfer Weise äußerte sich der Bundestagsabgeordnete Harald Weyel im Rahmen einer Diskussionsrunde im April 2020. Er warf Flüchtlingen vor, „auf diesem alten Ticket der politischen Verfolgung“ nach Deutschland gekommen zu sein, Um eine „parasitäre Konsumgewinnung“ anzustreben.[973]

Der Vorwurf der Einwanderung in deutsche Sozialsysteme begründet für sich genommen keine verfassungsschutzrechtliche Relevanz. Durch die kontinuierliche Agitation, gerade in Verbindung mit der menschenwürdewidrigen Degradierung von Zugewanderten als Sozialschmarotzer, wird letztlich diese Personengruppe zur Gänze als ausnehmende Belastung dargestellt. Der Vorwurf parasitären Verhaltens stellt dabei eine menschenunwürdige Abwertung der: Die hier angenommenen Verhaltensweisen Geflüchteter werden mit jenen von Parasiten der Tier- und Pflanzenwelt oder Viren verglichen, die andere Organismen als Wirte missbrauchen. Dies stellt eine Entmenschlichung von Flüchtlingen dar. Die Gesamtschau der Aussagen tragen in der Zielrichtung letztlich dazu bei, dass Zugewanderte als Menschen zweiter Klasse wahrgenommen werden sollen.

Der Bundestagsabgeordnete, Vorsitzende im Bezirksverband Oberbayern und kommissarische Vorsitzende im Kreisverband Ebersberg (BY), Wolfgang Wiehle, äußerte im August 2019 auf Facebook, Politik und Medien würden den Deutschen „seit Jahren vorheucheln, dass arme, kranke, unterernährte und verfolgte ‚Flüchtlinge‘ illegal in unser Land spazieren und auf Kosten der hier Arbeitenden von unseren Sozialsystemen leben dürfen.“[974]

Gottfried Curio (MdB) meinte in einer im Rahmen einer AfD-Wahlkampfveranstaltung in Dresden gehaltenen Rede:

„Und was ist im Mittelmeer los? Noch eine Theatervorstellung. Die sogenannten Flüchtlinge sind gar nicht geflüchtet. Sie sind von Innerafrika nach Libyen gereist, um von Libyen nach Europa zu reisen. ‚Das Ra(c)keten-Schiff‘ von Frau Rackete rettet die nicht, sondern es holt sie in libyschen Küstengewässern ab. Auf Anruf, das ist bekannt. Die Botschaft ist, es braucht sofort eine Transportbrücke, über die ganz Afrika trockenen Fußes nach Europa einwandern kann. Ach, was heißt Europa, nach Deutschland, in unsere Sozialsysteme. […] Und natürlich sind auch die Eritreer zu Hause nicht verfolgt. […] Und selbst wer verfolgt wäre: Afrika ist ein großer Kontinent. Niemand muss von einem Kontinent fliehen. Nach der Ankunft im ersten afrikanischen Nachbarland sind es einfach nur Reisende.“[975]

Die Aussagen sprechen Flüchtlingen ausnahmslos und unabhängig davon, ob sie in ihrem Herkunftsland verfolgt werden, das Recht auf Asyl in Europa ab, da diese vermeintlich regelmäßig Falsche Fluchtursachen vortäuschten. Zudem wird der Tatbestand von Flucht und Verfolgung dieser Gruppe zur Gänze in Zweifel gezogen. Die Aussagen sind geeignet, Schutzsuchende zur Gänze verächtlich zu machen.

Der Bundestagsabgeordnete Lothar Maier bezeichnete Zuwanderer in einem Facebook-Post vom Februar 2020 als „Eindringlinge“:

„Sie [Anm.: Angela Merkel] hat nicht nur diesen Amtseid gebrochen sondern Recht und Gesetz und unsere Grenzen für Flüchtlinge aus dem Orient und Afrika geöffnet.“[976]

Bernhard Zimniok (MdEP) verfasste im März 2020 einen Facebook-Eintrag, in welchem er die Migrationsbewegungen in Richtung der griechischen Grenze als „fremden und letztendlich feindlichen Einfall nach Europa“ bezeichnete. Er formulierte zudem die Notwendigkeit, den „Mythos der Globalisten[zu] zerstören, ‚Migration‘, respektive der Zustrom von Kolonisten, könne nicht gestoppt, sondern allenfalls verwaltet werden“.[977]

Die Flüchtlingsbewegungen deutet Zimniok hier demnach pauschal zur einer feindlichen Invasion und Kolonialisierung um.

Der Bundestagsabgeordnete Harald Weyel griff in einer Diskussionsrunde am 9. April 2020 auf martialisches Vokabular zurück, als er über Asylsuchende äußerte:

„Aber es ist eben nicht erlaubt, auf anderer Leute Kosten zu leben und ungefragt irgendwo, ich sag jetzt mal, einzuwandern, einzumarschieren oder durchzumarschieren und sich dann noch verköstigen zu lassen.“[978]

Im Zusammenhang mit dem Vorwurf okkupatorischer Bestrebungen findet zudem auffällt häufig der Begriff „Invasion“ Anwendung, der ursprünglich ein militärisches Eindringen feindlicher Truppen in fremdes Gebiet beschreibt.

So sprach der Bundestagsabgeordnete Lothar Maier in einem Facebook-Beitrag vom März 2019 im Hinblick auf die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 vom „Invasionsherbst 2015“.[979] Er unterstellt damit pauschal, dass es keine humanitären Gründe für die Aufnahme der Flüchtenden gegeben habe, sondern diese gleichsam in kriegerischer Absicht ins Land eingedrungen seien.

Armin-Paulus Hampel (MdB) erklärte in einem Facebook-Beitrag vom November 2019, auf eine „europäische Lösung“ der Flüchtlingsthematik zu warten bedeute, „der Invasion tatenlos zuzusehen“.[980]

Der Bundestagsabgeordnete, 1. stellvertretende Vorsitzende im Bezirksverband Oberbayern und Vorsitzende im Kreisverband Freising-Pfaffenhofen, Johannes Huber, kommentiere im Juni 2020 auf Facebook einen Artikel über auf dem Meer gerettete Flüchtlinge wie folgt:

„Der CSU-Bundesinnenminister möchte Malta und Italien erneut ‚aus Seenot gerettete‘ Migranten abnehmen. In Malta waren am Wochenende mehr als 400 ‚Flüchtende‘ an Land gelassen werden, auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa treffen die Landungsboote der Invasoren quasi im Stundentakt ein.“[981]

Indem er „Flüchtlinge“ und „aus Seenot gerettet“ in Anführungszeichen setzt und gezielt militärisches Vokabular („Landungsboote der Invasoren“) verwendet, diffamiert Huber die aus Seenot geretteten Flüchtlinge und spricht ihnen legitime Fluchtursachen und generell ihre Schutzwürdigkeit ab.

Vergleichbare Umdeutungen der Flüchtlingsbewegungen zu einer „Invasion“ sind auch von zahlreichen weiteren Akteuren der AfD-Bundesebene bekannt.[982][983][984][985][986][987]

Die Aussagen unterstellen Geflüchteten pauschal okkupatorische Absichten und damit einhergehend, dass es keine humanitären Gründe für die Aufnahme der Flüchtenden gegeben habe, sondern diese vielmehr in kriegerischer Absicht ins Land eingedrungen seien. Durch diese kontinuierliche Gleichsetzung von Zugewanderten mit „Invasoren“, „Eindringlingen“ und „Kolonisten“ wird ein undifferenziertes Feindbild von kriegerischen Angreifern gezeichnet, wodurch irrationale Ängste und Ablehnung gegenüber dieser Personengruppe geschürt werden.

Zahlreiche AfD-Politiker fordern in ihren Verlautbarungen die Errichtung einer Festung Europa. Sie rekurrieren damit auf ein Schlagwort, welches seit geraumer Zeit auch von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten genutzt wird, um in Bezug auf Asyl- und Migrationsfragen eine Abschottungspolitik zu postulieren.

So forderte der AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen, das „Ende der Einwanderung in unser Sozialsystem“ und die „#Festung Europa“ umzusetzen.[988]

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Jens Kestner verglich im März 2020 Flüchtlinge mit „Einbrecher[n]“, zu deren Abwehr die Festung Europa notwendig sei:

„Die aktuelle Lage an der türkisch-griechischen Grenze zwingt zu klaren Worten. Wenn man hier illegale Einwanderer ‚Flüchtlinge‘ nennt, so ist das für mich, als wenn man Einbrecher als Besuch bezeichnet. Es ist unabdingbar, unsere Grenzen zu schützen, wir brauchen nun den Mut zur Festung Europa.“[989]

Der Bundestagsabgeordnete Jörg Schneider schrieb im März 2020 im Hinblick auf Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze:

„Wir brauchen die Festung Europa, und zwar sofort! Wer vor 100.000 Invasoren kapituliert, wird bei 20 Mio. auch kneifen – wir müssen uns, unsere Lebensart, unseren Wohlstand endlich wirkungsvoll und glaubwürdig schützen. Und ja: Dazu gehört notfalls auch der Einsatz von Waffen!“[990]

Und der Bundesvorband der AfD forderte in einem Facebook-Eintrag vom 2. März 2019 Remigration „größtmöglichen Umfangs“ statt Massenzuwanderung.“[991]

Die Ablehnung des Zuzugs von Flüchtlingen aus wirtschaftlichen Gründen und die Forderung der Sicherung der Außengrenzen beeinträchtigen dabei für sich genommen noch nicht die Menschenwürde von Zugewanderten. Dies ist jedoch dann der Fall, wenn bestimmten Menschengruppen per se ein rechtlich abgewerteter Status zugeschrieben werden soll. Die Äußerungen zielen in ihrer Gesamtschau gerade darauf ab, ein Szenario von in kriegerischer Absicht eindringenden Asylsuchenden zu zeichnen, vor denen Europa wie eine Festung abgeriegelt werden müsse. Asylsuchenden werden in Ihrer Gesamtheit legitime Fluchtgründe abgesprochen. Es werden irrationale Ängste ihnen gegenüber geschürt, um im Gegenzug die Forderung nach einer Festung Europa zu legitimieren, die dann bei konsequenter Durchsetzung zu einer Aushöhlung des Grundrechts auf Asyl aus Art. 16a GG führen könnte.

AfD-Funktionäre der Bundesebene äußern sich in ihren Verlautbarungen auch zum Thema Integration und den aus ihrer Sicht diesbezüglich bestehenden Grenzen.

So schrieb der Bundestagsabgeordnete Michael Espendiller am 20. Mai 2019 auf Facebook:

„Immer wieder haben wir gesagt, dass wir uns Menschen ins Land holen, deren Kultur nicht zu unserer passt.“[992]

Karsten Hilse beklagte in einer Rede vom 8. Oktober 2019 die vermeintliche „Flutung Deutschlands mit Migranten aus anderen, unserer Kultur zum größten Teil inkompatiblen Kulturkreisen“[993]

Mariana Harder-Kühnel (MdB) prangerte im Mai 2020 die „Massenmigration aus inkompatiblen Kulturkreisen“ an.[994]

Der AfD-Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende im Kreisverband Sternberg (BY) Martin Hebner schrieb am 2. August 2019 auf Facebook:

„Wenn dann Integration aus den dafür vorgesehenen Einrichtungen hinein in Wohnviertel verlagert wird, kommen die Probleme gleich mit: Gewaltbereitschaft, völlig andere Werte und archaische Arten der Konfliktlösungen, verheerend ungeeignet für unsere vergleichsweise friedliche Gesellschaft. Und so kommen immer mehr Deutsche von fremder Hand ums Leben. Abgeschlachtet auf offener Straße, zerstückelt in einen Koffer gelegt oder vor den Zug geworfen.“[995]

Abseits einer Kritik an der Migrationspolitik der Bundesregierung werden hier einer Personengruppe, den Zugewanderten, pauschal Negativeigenschaften zugeschrieben und die daraus folgenden Konsequenzen für die „Deutschen“ mit aggressiver und furchteinflößender Wortwahl beschrieben: „…von fremder Hand ums Leben. Abgeschlachtet …, zerstückelt … oder vor den Zug geworfen“. Mit der pauschalen Diffamierung und Verächtlichmachung werden irrationale Ängste und Ablehnung gegenüber dieser Personengruppe geschürt.

Der Bundestagsabgeordnete Steffen Kotré äußerte im Rahmen einer Wahlkampfrede in Brandenburg an der Havel vom August 2019:

„Und dann kommen immer Linksgrüne um die Ecke und sagen: ‚Naja, es wäre ja jetzt unmenschlich, wann wir die Menschen nicht aufnehmen würden.‘ Aber was ist dann daran menschlich, wenn wir die Menschen aus ihrem Kulturkreis reißen? Wenn wir die Menschen zu uns herholen, hier herholen, die sich niemals bei uns richtig integrieren können.“[996]

Der Bundestagsabgeordnete Gottfried Curio sagte im August 2019 im Rahmen einer AfD-Wahlkampfveranstaltung in Dresden:

„Es ist so, meine Damen und Herren, Menschen sterben hier, weil diese Regierung unbedingt das Unintegrierbare integrieren will. Es ist doch komisch, dass Afrikaner und Araber und Moslems gewisse Werte erst lernen müssen. Alle anderen – Amerikaner, Osteuropäer, Russen, Chinesen, Japaner, Koreaner – denen musste man das nicht erklären. Die haben hier nicht Clans gebildet, vergewaltigt, gemordet, zwingen anderen ihre Religion auf.“[997]

Während einer Diskussionsrunde antwortete Curio auf den Wortbeitrag einer Teilnehmerin, welche das harmonische Zusammenleben mit Hindus in Deutschland hervorhob, wie folgt:

„Und […] natürlich, das zeigt gerade, die AfD, hat überhaupt kein Problem von vornherein irgendwie mit anderen Nationalitäten. Kein Problem mit der südkoreanischen Krankenschwester und mit vietnamesischen Fachkräften und mit Japanern und Chinesen, alles überhaupt nicht. Sondern die Erfahrung lehrt einfach, dass es bestimmte Gruppen sind. Wir haben gehört, gerade orientalische Clangesellschaften, auch aus dem subsaharischen Afrika gibt es solche Gruppen, die inhärent eine Gesellschaftsstruktur mitbringen, die halt zu unserer modernen westlichen Kultur in einem gewissen tiefen inneren Gegensatz steht. Das ist das Problem, nicht irgendeine imaginierte, herbei fantasierte Fremdenfeindlichkeit der AfD, sondern eine tatsächlich die Notwendigkeit einer kulturellen Kompatibilität für ein gedeihliches Zusammenleben.“[998]

Es ist grundsätzlich zulässig, die tatsächlich oder vermeintlich fehlende Anpassung bestimmter Bevölkerungsgruppen an die Lebensgewohnheiten der Mehrheitsbevölkerung zu problematisieren und eine stärkere Anpassung zu fordern. In den Äußerungen von Curio werden aber ganze Bevölkerungsgruppen – „Afrikaner und Araber und Moslems“ – pauschal als von ihrer Natur her nicht integrationsfähig dargestellt. Dies wird monokausal mit ihrer kulturellen Herkunft begründet. Diesen Zugewanderten wird damit von vornherein kategorisch jede Möglichkeit einer gleichwertigen gesellschaftlichen Teilhabe abgesprochen, wodurch sie zur Gänze als Menschen zweiter Klasse abgestempelt werden.

In weiteren Verlautbarungen beschreiben AfD-Mitglieder einen gegenwärtigen Verdrängungsprozess zu Lasten der autochthonen Bevölkerung im Rahmen einer „Überfremdung“ durch Multikulturalismus.

Nicole Höchst warte in einem Facebook-Eintrag vom Februar 2020 davor, dass Deutsche zur „Minderheit im eigenen Land“ würden, und erklärte:

„Die #Regierung #Merkel verschenkt unsere #Heimat, das Erbe unserer nachfolgenden Generationen, an zuwanderndes #Steinzeitpatriarchat, an die EU und den Rest der Welt.“[999]

Sylvia Limmer (MdEP) äußerte im Juli 2019 auf Facebook:

„Für zu viele der schon-länger-hier-Lebenden endet dieses illusorische Multi-Kulti-Experiment tödlich.“[1000]

Nicole Höchst führte in einem Facebook-Beitrag vom 19. Dezember 2019 die verheerenden Folgen der vermeintlichen „Zwangsmultikulturalisierung“ auf:

„Islamisierung, Reinstallation des Patriarchats, Parallelgesellschaften, Messerleichenberge.“[1001]

In einer Rede von Alice Weidel im Rahmen der Sommerakademie des Institut für Staatspolitik (IfS) am 20. September 2019 in Schnellroda (ST) klingen zudem eindeutig völkische Deutungsmuster an, wenn sie den etablierten Parteien die vorsätzliche Zerstörung Deutschlands „in seiner Substanz“ unterstellt und ihnen eine politisch gesteuerte, gezielte „Fragmentierung“ des deutschen Volkes vorwirft:

„Die kulturmarxistische, grüne Ideologie versucht über wechselnde Vehikel, sozialistischen Kollektivismus einzuführen. Multikulturalismus, der die bürgerliche Gesellschaft unterhöhlt, indem er das Staatsvolk fragmentiert.“[1002]

Auch die Bundestagsabgeordneten Lothar Maier[1003] und Karsten Hilse[1004] äußerten sich in vergleichbarer Weise.

Eine Veränderung der Bevölkerungsstruktur hin zu einer multikulturellen Gesellschaft erfolgt aus Sicht der AfD nicht nur unweigerlich zum Nachteil der einheimischen Deutschen, sondern ist für diese geradezu existenzbedrohend. So wird neben dem „Import“ schwerster Straftaten auch der Niedergang der Gesellschaft bis hin zur „Auslöschung“ des deutschen Volkes prognostiziert. In Konsequenz wird Zugewanderten damit unterstellt, die deutsche Gesellschaft zu vernichten. Die Aussagen können in ihrer Gesamtschau nicht dahingehend gewertet werden, dass ein Nebeneinanderbestehen verschiedener Kulturen – also der Multikulturalismus an sich – Tötungen zur Folge haben soll, sondern es werden vielmehr Zugewanderte im Kern als gefährliche Straftäter dargestellt, die Gewalttaten gegen Leib und Leben der deutschen Bevölkerung verüben wollen. Die angeführten Aussagen sind mithin geeignet, in der Bevölkerung Ängste und Vorurteile zu schüren, und legen die Konsequenz nahe, dass es zur Sicherheit der deutschen Bevölkerung unabdingbar sei, sich von den Zugewanderten gänzlich zu distanzieren, wodurch diese als Menschen zweiter Klasse stigmatisiert werden.

Weiterhin könnten sich tatsächliche Anhaltspunkte aus den Forderungen der AfD-Partei zum Umgang mit Zugewanderten nach einem etwaigen Machtgewinn ergeben.

In seiner Rede auf einer Wahlkampfveranstaltung in Brandenburg an der Havel am 18. August 2019 bezeichnete Alexander Gauland die ostdeutschen Bundesländer mit ihren „ethnisch noch relativ homogenen Bevölkerungen und der Diktaturerfahrung ihrer Bewohner“ als „Pfahl im Fleisch der multikulturellen, multiethnischen, gesinnungskontrollierten“ Bundesrepublik. Zu den Zielen der Partei führt er aus:

„Meine Damen und Herren, wenn die AfD regiert, werden wir unsere Grenzen wieder kontrollieren. Und auch hässliche Bilder in Kauf nehmen. Denn wer diese Bilder an den Grenzen nicht in Kauf nimmt, wird sie im Lande haben.“[1005]

Indem er den ostdeutschen Bundesländern in anerkennender Weise „ethnisch noch relativ homogene Bevölkerungen“ attestiert, kommt die völkisch-nationalistische Denkweise Gaulands zum Vorschein. Die Ankündigung, auch „hässliche Bilder“ an den Grenzen in Kauf nehmen zu wollen, bleibt mehrdeutig. Eine mögliche und in Anbetracht zurückliegender Äußerungen Gaulands[1006] schlüssige Auslegung besteht in der Absicht, politisch verfolgte Asylsuchende ohne Rücksicht auf die Situation in deren Herkunftsländern abzuweisen. Ein solches Vorgehen würde die Menschenwürde der Betroffenen verletzen.

Der Bundestagsabgeordnete Uwe Schulz forderte:

„Die Wahrheit ist überall zu finden: Es sind Migranten, die unser Land in NoGo-Zonen verwandeln. Sie sind es, die die Regeln von Gewalt und Grausamkeiten aus ihren eigenen Kulturen mit in unsere Heimat bringen.“

Als Konsequenz forderte er:

„ABSCHIEBEN JETZT: Alle, die in den letzten Jahren unter Verletzung des Art. 16a GG nach Deutschland gekommen sind.“[1007]

Der AfD-Bundestagsabgeordnete Thomas Seitz schrieb am 29. Dezember 2018 Bezug nehmend auf die Wiedereinreise eines Kameruners, bei dessen erster Abschiebung sich zahlreiche zumeist männliche Bewohner eines Wohnheims mit ihm solidarisiert und Polizeikräfte angegriffen hatten, auf Twitter:

„Für solche Fälle braucht es einer wirksamen Abschreckung. Dafür darf eine Änderung von Art. 102 GG kein Tabu sein.“[1008]

Seitz, selbst ehemaliger Staatsanwalt, fordert hiermit in kaum verklausulierter Weise die Wiedereinführung der Todesstrafe. Ungeachtet der Tatsache, dass Art. 102 GG, der die Abschaffung der Todesstrafe regelt, nicht unter der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG steht, liefe die Wiedereinführung nach herrschender Meinung der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG zuwider.

Mehrere Vertreter der AfD-Bundesebene beharren in ihren Verlautbarungen auf der Unterscheidung zwischen „echten“ Deutschen und „Passdeutschen“. Insbesondere im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Straftaten, welche von vermeintlichen Migrantinnen und Migranten – tatsächlich jedoch von deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund – verübt wurden, wird entsprechend agitiert.

Am 7. Juli 2019 schrieb Alice Weidel auf Facebook über eine Gruppenvergewaltigung auf Mallorca:

„Bei den mutmaßlichen Tätern soll es sich um vier Männer aus Hessen handeln, die in den Medien als ‚Deutsche‘ kolportiert werden. Richtigerweise handelt es sich bei den Vergewaltigern jedoch um Passdeutsche bzw. Deutsch-Türken.“[1009]

Der Bundestagsabgeordnete Elsner von Gronow teilte Weidels Beitrag und drückte somit seine übereinstimmende inhaltliche Nähe dazu aus.[1010]

Am selben Tag teilte die Junge Alternative für Deutschland auf Facebook einen Beitrag des damaligen Bundesvorsitzenden Damian Lohr. Dieser argumentiere vergleichbar:

„Man wurde nicht müde uns die ‚Südländer‘, die auf Mallorca eine Gruppenvergewaltigung begangen haben sollen, als deutsche Touristen aufzubinden. Als klar wurde, dass es sich um Migranten mit deutscher Staatsangehörigkeit handelt wurde es weitestgehend still im Blätterwald.“[1011]

Auch die Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst erklärte in einem Facebook-Eintrag vom Dezember 2019 im Hinblick auf Tötungsdelikte, die Verantwortlichen für das „tägliche Schlachten“ – dem Kontext zufolge aus ihrer Sicht überwiegend muslimische Zugewanderte – würden allzu oft „als Deutsche bezeichnet, ohne Angabe ihrer anderen Staatsbürgerschaften“.[1012]

Den mutmaßlichen Straftätern wird auf Grund ihrer ethnischen Herkunft somit pauschal abgesprochen, Deutsche sein zu können. Insbesondere die verächtliche Bezeichnung als „Passdeutsche“ verdeutlicht, dass nach Ansicht der AfD die tatsächliche Zugehörigkeit zum deutschen Volk ethnisch determiniert ist und der Staatsangehörigkeit im Gegensatz dazu lediglich formaler Charakter zukommt.

Auch der Bundestagsabgeordnete Stefan Keuter griff im Januar 2020 auf diese Unterscheidung zurück, als er hinsichtlich der Einwohner Gelsenkirchens zwischen „Urdeutschen“ und „Passdeutschen“ unterschied und den Anstieg der Personen mit Migrationshintergrund als „Katastrophe“ bezeichnete.[1013]

Die vorgenannten Äußerungen zeigen, dass Funktionäre der AfD auf Bundesebene den als „Passdeutsche“ titulierten Personen die Zugehörigkeit zum deutschen Volk nur widerwillig und lediglich formal einräumen. Sie glauben demnach, sich selbst vorbehalten zu können, wem dieser Status einzuräumen ist. Diese Ansicht impliziert eine Schlechterstellung derjenigen, die nicht Bestandteil der eigenen, aufgewerteten Gruppe sind. In dieser Diffamierung und Ungleichbehandlung ist ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG zu sehen, in der damit verbundenen Herabwürdigung aufgrund der Ethnie zudem ein Verstoß gegen die Menschenwürde.

Vereinzelt sind zudem auf der Bundesebene der AfD Rückgriffe auf eindeutig rassistische Begriffe und Deutungsmuster festzustellen.

Guido Reil (MdEP) äußerte in einem durch den islamfeindlichen Blog PI-NEWS geführten Interview als vermeintliches Beispiel dafür, dass in Deutschland keine freie Meinungsäußerung mehr möglich sei:

„Wenn sogar Karneval zensiert wird, wenn man sich überlegt, kann ich überhaupt noch als Indianer verkleidet zum Karneval gehen oder als Neger verkleidet?“[1014]

Mit dem Ausdruck „Neger“ verwendet Reil eine pauschal diffamierende Bezeichnung, die der Rassentheorie des 18. Jahrhunderts entstammt und mit der die pauschale Zuschreibung diverser negativer Stereotype verbunden ist. Der Rückgriff auf diesen Begriff verletzt die Menschenwürde der betroffenen Personen.

Gottfried Curio veröffentlichte am 9. Juni 2020 auf seinem YouTube-Kanal ein Video, in welchem er sich zu den aus seiner Sicht „künstlich nach Deutschland verpflanzten“ Demonstrationen unter dem Motto „black lives matter“ äußerte. Eine Diskriminierung Dunkelhäutiger in den USA leugnete er darin kategorisch und betonte stattdessen den vermeintlichen Hang von Afroamerikanern zur Gewalt:

„Und auch der Vorwurf omnipräsenter Diskriminierung hält der Überprüfung nicht stand. In den USA verzeichnen schwarze Wohnviertel die höchsten Mordraten. Fast 40 Prozent aller Häftlinge sind schwarz, bei nur zwölf Prozent Bevölkerungsanteil. Schwarze begehen häufiger Raubmord und Sexualstraftaten als Weiße. […] Es gibt viermal mehr schwarze Polizistenmörder als weiße. Schwarze bringen mehr Weiße um als umgekehrt.“

Ferner beklagte er eine angebliche Indoktrinierung:

„Heutige Probleme in Afrika seien im Kolonialismus begründet, nicht etwa in dortiger Unfähigkeit beim Aufbau staatlicher Strukturen. Europa sollte die gewaltigen Errungenschaften und positiven Beitrage von Menschen afrikanischer Abstammung anerkennen. Doch wo sind sie? In welchem Paralleluniversum leben diese Leute?“

Curio kritisierte in dem Beitrag außerdem die „peinliche Werbung der Deutschen Bahn und anderer Betriebe mit politisch korrekten Renommierausländern, vorzugsweise Schwarzen, das Vorspiegeln der numerischen Allgegenwart gemischt ethnischer Paare in Werbeanzeigen. Die Deutschen sollen manipuliert werden, indem ihnen über Werbungen vorbewusst ideologisch erwünschte ‚Normalitäten‘ eingetrichtert werden.“

Curio unterstellt der Bevölkerung des afrikanischen Kontinents die Unfähigkeit des „Aufbau[s] staatlicher Strukturen“. Auch “ Errungenschaften und positiven Beitrage von Menschen afrikanischer Abstammung“ zieht er durchweg in Zweifel. Er verunglimpft somit pauschal diese Menschengruppe als minderwertig und verletzt somit ihre Menschenwürde.

Vor diesem Hintergrund ist es zudem als rassistisch motiviert anzusehen, dass Curio „gemischt ethnische Paare“ als „ideologisch erwünschte ‚Normalität[en]'“ bezeichnet, sie also als tatsächlich unerwünscht und unnormal darstellt. Hier wird sich eines Narrativs der Rassentheorie bedient, welches die Vermischung van „Rassen“ ablehnt und eine „Rassentrennung“ zur Folge hätte. Curio bagatellisiert in seinen Ausführungen des Weiteren die Diskriminierung und Gewalt zum Nachteil van Menschen afrikanischer Abstammung und stellt diesen die „tatsächlich rassistischen Morde der Schwarzen in Südafrika an Weißen“ gegenüber. Auch diese Aussagen Curios stehen in deutlichem Widerspruch zur Unantastbarkeit der Menschenwürde.[1015]

Insgesamt ist festzustellen, dass auf Bundesebene kontinuierlich eine fremdenfeindliche Agitation gegen Zugewanderte in ihrer Gesamtheit zu erkennen ist. Dabei wird strategisch zunächst in Abgrenzung zu dem in der Partei vorherrschenden ethnisch homogenen Volksverständnis ein Feindbild „der Zuwanderer“ kreiert, welche überproportional kriminell und aufgrund ihrer kulturellen Herkunft niemals wirklich integrierbar seien. Eine Schutzwürdigkeit wird ihnen pauschal selbst von führenden Funktionären der Partei abgesprochen. In herabwürdigender Weise werden Zugewanderten lediglich finanzielle Beweggründe sowie okkupatorische Absichten für ihre Flucht unterstellt. Der damit einhergehende Multikulturalismus sei eine dauerhafte Bedrohung für die körperliche Unversehrtheit des deutschen Volkes, wovor die einheimische Bevölkerung durch eine Festung Europa vor ihrer vermeintlichen Vernichtung bewahrt werden müsse. Schließlich bedient man sich sogar auf Bundesebene rassistisch motivierter Diskriminierungsforderungen und Bezeichnungen wie „Passdeutsche“ oder „Neger“.

2.3 Landesebene

Ronald Gläser, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, sprach in einem auf seiner Website veröffentlichten Artikel vom 1. Januar 2019 Zugewanderten pauschal ein Unrechtsbewusstsein ab:

„Werden in Zukunft nur noch Deutsche, die schon länger hier wohnen, Fahrkarten bezahlen müssen, weil es zu aufwendig und gefährlich für Schaffnerinnen und Polizei wird? […] Der Rechtsstaat braucht Menschen, die freiwillig einsehen, wann sie Unrecht tun und wann nicht. Deutsche würden eine Fahrkarte haben oder unter Protest die volle Gebühr nachzahlen.“[1016]

Die AfD Schleswig-Holstein erklärte in einem Facebook-Beitrag aus dem Dezember 2019, dass es sich bei den Flüchtlingen, die seit 2015 nach Deutschland gekommen seien, nicht um „Fachkräfte“ handele. Vielmehr lägen die Kompetenzen dieses Personenkreises in den Bereichen „Eigentumsübertragung, Messerbefähigung, Daueralimentierung sowie Kulturbereicherung“.[1017]

Björn Höcke (MdL, TH) und André Wendt (MdL, SN und Vorsitzender im Kreisverband Dresden) nehmen konkrete Gewalttaten zum Anlass, um auf eine von (männlichen) Migranten vermeintlich generell ausgehende Gefahr hinzuweisen.

Am 31. Juli 2019 posierte Björn Höcke einen Beitrag auf seinem Twitter-Account zum Vorfall am Frankfurt Hauptbahnhof, bei dem ein psychisch kranker Geflüchteter eine Mutter sowie ihren Sohn vor einen herbeikommenden Zug stieß, und kommentierte:

„Verfolgt man die politische Diskussion um den #Mord in #Frankfurt, könnte man den Eindruck gewinnen, es handele sich bloß um einen Unfall und eigentlich seien die Bahnsteige daran Schuld. #importiertegewalt #inneresicherheit“.[1018]

Höcke fügte dem Beitrag ein Foto des mit Stacheldraht umzäunten Bundestags bei, auf dem stand:

„Nicht die Bahnhöfe sind das Problem. Auch nicht unsere Freibäder, unsere Volksfeste, unsere Discos, unsere Parks und auch nicht unsere Spielplätze.“

Höcke suggeriert, dass die nach Deutschland kommenden Flüchtlinge in der Gesamtheit aufgrund der ihnen immanenten Gewaltorientierung potenziell ähnliche Gewalttaten verüben könnten, weshalb die innere Sicherheit in Deutschland gefährdet sei. Lukas Rowlin, Beisitzer im JA-Landesvorstand Thüringen, teilte auf seinem Twitter-Account den Beitrag und drückt damit die inhaltliche Nähe des Landesvorstands zu dieser Ansicht aus.

Der sächsische Landtagsabgeordnete André Wendt äußerte sich wie folgt:

„Die Zunahme der Messerattacken, oft auch auf Unbeteiligte und Frauen, steht sinnbildlich für die importierte Gewalt einer fatalen CDU-Politik. Gewaltaffine Männer, oft aus kulturfremden Regionen, gefährden die öffentliche Ordnung und die innere Sicherheit Deutschlands.“[1019]

Der saarländische AfD-Landesverband teilte im Januar 2019 auf Facebook einen Beitrag des hessischen Landtagsabgeordneten Rainer Rahn, der plakativ ausführte:

„Offensichtlich haben im Zuge der Massenmigration viele Personen zwar ihren Pass, aber nicht ihr Messer und den Umgang damit beim Grenzübertritt nach Deutschland verloren. Sehr häufig werden Frauen das Opfer dieser vollkommen verfehlten und realitätsfremden Migrationspolitik. Die Täter sind Zöglinge einer Machokultur, in der das Leben einer Frau nichts wert und deren Unterdrückung an der Tagesordnung ist. […] Und der Zuzug von Millionen Kulturfremder macht unsere Gesellschaft nicht bunter, sondern führt leider zunehmend zu blutroter Einfarbigkeit.“[1020]

Durch seine Ausführungen und das Sinnbild „blutroter Einfarbigkeit“ konstruiert Rahn ein von Personen mit Migrationshintergrund ausgehendes drastisches Bedrohungsszenario und verunglimpft diese Menschengruppe pauschal.

Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Landtagsfraktion in Mecklenburg-Vorpommern, Ralph Weber, verwehrte sich in einem Facebook-Post vom Mai 2020 mit folgenden Worten gegen den Vorwurf fremdenfeindlicher Gesinnung:

„Fremdenhass? Rassismus? Absoluter Blödsinn! Wir wollen nur keine Messerstecher, Terroristen, Vergewaltiger und Schmarotzer im Land.“[1021]

Webers nicht explizit oder spezifisch adressierte Negativbegriffe können im Gesamtkontext nur dahingehend ausgelegt werden, dass sie sich gegen die Migration insgesamt richten, wegen des vermeintlich objektiven Wahrheitsgehalts der Aussagen der Vorwurf des Fremdenhasses ihm gegenüber aber nicht gerechtfertigt sei. Tatsächlich aber liegt Webers Aussage immanent eine in Bezug auf vor allem männliche Migranten grob diffamierende, fremdenfeindliche und damit diese Personengruppe in ihrer Menschenwürde verletzende Haltung zugrunde.

Der Thüringische Landtagsabgeordnete Thomas Rudy suggerierte in einem Tweet vom 15. Januar 2020, Gruppenvergewaltigungen seien in den „Sitten und Gebräuche[n]“ bestimmter Gruppen von Migrantinnen und Migranten verankert:

„Merkels Gäste bringen teilweise eigene Sitten und Gebräuche ein. So wird’s bunter in Old Germoney! Der Anteil ausländischer Tatverdächtiger bei Gruppenvergewaltigungen ist in den vergangenen fünf Jahren stark gestiegen.“[1022]

De JA Baden-Württemberg argumentierte ebenfalls entsprechend, indem sie im Juli 2019 auf Facebook einen Beitrag der AfD Stuttgart über eine Gruppenvergewaltigung auf Mallorca mit folgender Aussage teilte:

„Vor 2015 waren Gruppenvergewaltigungen in Deutschland unbekannt. Massenvergewaltigungen sind und waren nie Bestandteil deutscher Kultur.“[1023]

Ähnlich äußerte sich im Februar 2020 auch der Vorsitzende der AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Georg Pazderski:

„Fremde Kulturen und Ihre Bräuche erzeugen in Berlin ein Klima der Angst. Inzwischen muss man sich sogar von belebten Strassen am hellen Tag fernhalten, wenn man sein Leben nicht gefährden will.“[1024]

Vergleichbar äußerte sich auch Matthias Moosdorf, Landesvorstandsmitglied der sächsischen AfD. Indem er mit Blick auf Schweden erkläre, das „einstige Musterland“ gehöre nunmehr zur Drillen Welt, da „importierte archaische Kulturen“ es „innerhalb kurzer Zeit zerstört“ hätten.[1025]

Am 30. Juli 2019 teilte Jan-Oliver Zwerg auf Facebook einen Artikel der Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT, die über das Tötungsdelikt am Hauptbahnhof in Frankfurt am Main vom Vortag berichtete, wo ein Eritreer einen achtjährigen Jungen vor einen einfahrenden Zug gestoßen hatte. Zwerg schrieb hierzu:

„Was muß in diesem Land noch passieren, damit jeder begreift, daß die Überfremdung unseres Landes durch Menschen aus Ländern mit archaischen Strukturen für unsere Gesellschaft tödlich ist? […] Wer schützt die Deutschen vor diesen Wahnsinnigen?“[1026]

Jan-Oliver Zwerg bezeichnet Fremde, also „Menschen aus Ländern mit archaischen Strukturen“ als „Wahnsinnige“, die für die Deutschen eine tödliche Gefahr darstellen. Damit diffamiert er diese Menschengruppe pauschal und schürt dabei irrationale Ängste und Ablehnung gegenüber dieser.

Ähnlich äußerte sich Josef Robin, Beisitzer im AfD-Landesverband Bayern, am 15. April 2020, der einen Artikel von BILD.de über einen Mord eines Geflüchteten in Leipzig teilte:

„Aber wie viele andere behält er [Anm.: der Tatverdächtige] sein Frauenbild aus dem Jahr Schnee. ‚Du nehmen mich wieder, oder Frau ich schlage dich nieder.'“[1027]

Die baden-württembergische Landtagsabgeordnete Christina Baum sprach in einem Facebook-Eintrag aus dem März 2020 von der Zuwanderung von „vielen in Unkulturen sozialisierten ‚Neubürgern'“.[1028]

Der Landtagsabgeordnete Hans-Christoph Berndt (BB, Vorsitzender der AfD Landtagsfraktion Brandenburg und Beisitzer im Kreisverband Dahme-Spreewald) hielt am 27. August 2019 in Lübben (BB) eine Rede, in welcher auch er Personen mit Migrationshintergrund als gewalttätig und gefährlich, Deutsche hingegen pauschal als gut darstellte:

„Kannten wir vor der Grenzöffnung Massenvergewaltigungen? Kannten wir Merkel-Poller? Wer wäre 2015 oder vor 2015 auf den Gedanken gekommen, den Reichstag mit einem Festungsgraben zu umgeben? […] Und Freunde, wir stoßen niemanden vor den Zug. Wir greifen keine Rettungskräfte an. Wir terrorisieren keine Schwimmbäder. Wir gehen nicht zu dritt auf einen Sechzehnjährigen los und treten niemanden, der am Boden liegt. Wir respektieren Lehrer, Gerichte und Polizei mit Ausnahme von Presseabteilungen, die Unwahrheiten verbreiten.“[1029]

Matthias Helferich, stellvertretender Landessprecher der nordrhein-westfälischen AfD, verfasste im August 2018 einen Beitrag auf der Website der AfD Dortmund, in dem er angesichts der „zunehmenden Fremdenkriminalität“, die „hauptsächlich einheimische Opfer“ treffe, von einem „Zivilisationsbruch“ sprach. Zur Beschreibung vermeintlicher Migrationsfolgen griff er auf einen Terminus zurück, der gewöhnlich im Zusammenhang mit der Charakterisierung des nationalsozialistischen Unrechts Verwendung findet. Helferich erklärte außerdem:

„Wir Bürger müssen entscheiden, ob Deutschland zum multi-kulturellen Schlachthaus verkommt oder unsere Heimat bleibt.“[1030][1031]

Die Aufnahme „kulturfremder“ Personen mit Migrationshintergrund und Flüchtlinge wird in den Verlautbarungen der AfD auf Landesebene wiederkehrend als potenziell lebensgefährlich und mithin politisch unverantwortlich dargestellt. Die „Politik der offenen Grenzen kostet Leben!“ sagte Anna Leisten (stellv. Vorsitzende des JA Landesverbands Brandenburg und Vorsitzende des JA Kreisverbands Teltow-Fläming) und führte den tragischen Todesfall der 14-jährigen Susanna auf Migrationsbewegungen im Allgemeinen zurück. Helferich bezeichnete Deutschland als „multikulturelles Schlachthaus“, in dem offenbar Deutsche systematisch durch Personen mit Migrationshintergrund abgeschlachtet würden. Derartige Aussagen lassen sich dabei nicht mehr als Verurteilung von durch Migrantinnen und Migranten verübte Straftaten verstehen. Stattdessen werden Flüchtlinge aufgrund ihrer Herkunft und Kultur als besonders aggressive Kriminelle oder gar Schlächter dargestellt, mithin systematisch verächtlich gemacht und als kollektives Feindbild konstruiert.

Vertreterinnen und Vertreter der AfD bringen in ihren Aussagen fortgesetzt und verallgemeinernd Personen mit Migrationshintergrund mit dem pejorativen Präfix „Messer-“ in Verbindung. Bei einem systematischen Sprachgebrauch in diesem Sinne dürfte die Schwelle der bloßen Ehrverletzung hin zu einer menschenwürdewidrigen Pauschalisierung überschritten sein, da die Äußerungen in ihrer Zielsetzung kontinuierlich herabsetzend und entwürdigend sind.

Der sächsische Landtagsabgeordnete Sebastian Wippel stellte in einem Facebook-Eintrag vom Dezember 2019 fest:

„Wer Millionen Menschen aus archaischen und gewaltaffinen Kulturen ins Land lässt, öffnet eben auch archaischer Gewalt Tür und Tor. Masseneinwanderung bedeutet auch Messereinwanderung. Die AfD wird an unseren Grenzen wieder Sicherheit herstellen. Wir werden Messer-Migranten konsequent abschieben.“

Ferner konstatierte Wippel gar eine „Messer-Epidemie“.

Wippel führt somit die vermeintlich angestiegene sogenannte Messerkriminalität auf die gestiegene Anzahl von Personen mit Migrationshintergrund „aus archaischen und gewaltaffinen Kulturen“ zurück und schreibt damit dieser Menschengruppe generell eine archaische Gewaltneigung zu.[1032] Wenn Wippel davon spricht, die AfD werde an den Grenzen wieder Sicherheit herstellen, ist das vorgeschoben und nur eine Verschleierung der wirklichen Absicht. Denn entgegen der verunglimpfenden Bezeichnung als „Messereinwanderung“ kommen etwaige Straftäter nicht mit Messern im Gepäck nach Deutschland. Die Unterbindung einer angeblichen „Messereinwanderung“ bedeutet daher nichts anderes, als dass Wippel die Personen aus Ländern, denen er eine gewaltaffine Kultur zuschreibt, überhaupt nicht nach Deutschland lassen will, unabhängig von dem individuell Betroffenen.

Auch André Wendt (MdL, SN) sprach in zwei Facebook-Beiträgen von einer „Messer-Epidemie“ und einem direkten Zusammenhang zwischen „Masseneinwanderung“ und „Messerkriminalität“.[1033][1034]

Die AfD-Fraktion Sachsen-Anhalt betitelte in einem Facebook-Beitrag Menschen mit Migrationshintergrund pauschal als „masseraffin“.[1035] In einem anderen Facebook-Post vom Februar 2020 verendete die AfD-Fraktion Sachsen-Anhalt außerdem den pauschalierenden und verunglimpfenden Begriff „Messermigranten“ und stilisierte im Gegensatz „deutsche Bürger“ zu Opfern.[1036]

Auf den von der Bundespartei geprägten Begriff der „Messereinwanderung“ rekurrierte auch die brandenburgische Landtagsabgeordnete und Parteifunktionärin Lena Duggen und sprach von einer „Welle der Gewalt, die Deutschland vorher so nicht kannte“, als deren Resultat.[1037]

Ronald Gläser, Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses, konstatierte in einem Tweet vom November 2019, „sperrangelweit offen[e]“ Außengrenzen hätten unter anderem dazu geführt, dass Ärzte „Angst vor Messer-Patienten“ haben müssten.[1038]

Auch auf Landesebene ist aufgrund der vorangegangenen Aussagen deutlich die Orientierung an dem von der Bundespartei vorgezeichneten Narrativ des kriminellen Zuwanderers zu erkennen, der aufgrund seiner kulturellen Herkunft eine dauerhafte Gefahr für die einheimische deutsche Bevölkerung darstelle. Die Aussagen werten dabei menschenwürdewidrig eine ganze Bevölkerungsgruppe undifferenziert ab, indem kontinuierlich irrationale Ängste gegenüber Zugewanderten geschürt werden und durch anhaltende Pauschalisieren ihr Achtungsanspruch aufgehoben wird.

In zahlreichen Verlautbarungen stellen euch Vertreter und Vertreterinnen der AfD-Landesebene anerkennenswerte Fluchtmotive von Asylsuchenden pauschal in Abrede und werfen diesen vor, primär finanzielle Interessen beim Zuzug nach Deutschland zu verfolgen.

Der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Thomas Röckemann unterstellte Personen mit Migrationshintergrund in einem Facebook-Post vom April 2020 z.B. eine systematische „illegale Migration in unser Sozialsystem“ und erklärte weiter:

„Die angeblichen Flüchtlingskinder die man nun nach Europa und Deutschland holen möchte, entpuppen sich erneut als junge Männer. […] Einziges Ziel der Migranten ist des Abgreifen von Sozialleistungen und deren Transfer in die Heimat. Daher werden auch junge Männer geschickt und keine Frauen und Kinder. Stoppen wir diese Ausbeutung endlich. Es darf für illegale Migranten und Wohlstandsflüchtlinge keinen Weg nach Europa oder Deutschland geben.“[1039]

Indem er das „Abgreifen von Sozialleistungen“ als „einziges Ziel“ beschreibt, schließt Röckemann legitime Fluchtursachen kategorisch aus. Auch spricht er Flüchtlingen ab, überhaupt an der Eingliederung in Gesellschaft und Arbeitsmarkt interessiert zu sein.

Die Junge Alternative Bayern veröffentlichte am 2. April 2019 auf Facebook einen Beitrag, in dem sie feststellte:

„Als 2015 über eine Million kulturfremder Migranten unsere nationalen Grenzen übertraten, da fragte keine Bundesregierung das deutsche Volk, ob es den Wunsch verspüre illegale Einwanderer über Jahre und Jahrzehnte zu beherbergen und auf eigene Kosten zu versorgen.“[1040]

Indem die JA die Anzahl über einer Million „kulturfremder“ Personen mit Migrationshintergrund nennt und im selben Salz gegen „illegale Einwanderer“ agitiert, unterstellt die Jugendorganisation Geflüchteten in ihrer Gesamtheit unlautere Motive.

Der AfD-Landesverband Schleswig-Holstein warf in einem Beitrag vom Oktober 2019 der Bundesregierung gar vor, Millionen Menschen aus fremden Kulturen“ einzuladen, „unsere Sozialsysteme zu plündern“.[1041]

Am 14. September 2019 kommentierte Wiebke Muhsal, damalige stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag und Unterstützerin des „Flügel“, auf ihrem Twitter-Account einen Presseartikel mit dem Titel „Seenotrettung: Bundesregierung bietet Italien Aufnahme jedes vierten Migranten an“ und kommentierte diesen mit den Worten:

„Wenn ‚wir‘ jeden vierten #Wassertaxi-Fahrer aufnehmen, können wir auch gleich die Rundumversorgung für ganz Afrika ausrufen. Wer bezahlt’s? Wer leidet darunter? #Seehofer bestimmt nicht. Diese Regierung verschlechtert uns Land! #AfD #Seenotrettung.“[1042]

Indem Muhsal von „Rundumversorgung für ganz Afrika“ spricht, suggeriert sie, dass diese pauschal keine legitimen Fluchtursachen hätten. Außerdem behauptet Muhsal, dass die deutsche Bevölkerung unter der Zuwanderung leide, ohne dies weiter zu konkretisieren. Der Beisitzer der Junge Alternative Thüringen, Lukas Rowlin, teilte den Beitrag und drückt somit seine übereinstimmende inhaltliche Nähe zu den Positionen Muhsals aus.

Vergleichbar äußerte sich auch Björn Höcke in einer Wahlkampfrede in Erfurt am 26. Oktober 2019:

„Die Kartellparteien, sie lassen Millionen Fremde in unsere Sozialversicherungssysteme einwandern und schicken dafür, ohne mit der Wimper zu zucken, Millionen eigene Landsleute, die jahrzehntelang dieses Land am Laufen gehalten haben, einfach in die Altersarmut.“[1043]

Auch Höcke schreibt hier “ Millionen Fremde[n]“ rein ökonomische Migrationsmotive zu und blendet damit legitime Ursachen wie z.B. politische Verfolgung oder Kriegsflucht komplett aus. Er konstruiert zudem eine Konkurrenzsituation mit deutschen Rentnern und schürt auf diese Weise Ressentiments.

In deutlicher Weise agitierte auch die Junge Alternative Brandenburg in einem Post vom 1. April 2019:

„Liebe Bundesregierung, erkennen Sie endlich an, dass sich ein Großteil ihrer angeblichen Fachkräfte lediglich in unser Sozialsystem einnistet, statt unserem Fachkräftemangel Abhilfe zu leisten. Die eigenen Rentner, die ihr Leben lang für dieses Land geschindert haben, halb verhungern lassen, aber 600.000 kulturfremde Sozialschmarotzer durchfüttern, weiche absolut nichts eingezahlt oder für unser Deutschland getan haben.“[1044]

Indem sie Zugewanderte als „kulturfremde Sozialschmarotzer“ abwertet und damit einen Vergleich zu Parasiten zieht, die sich auf Kosten eines Wirtslebewesens ernähren – hier in Gestalt angeblich halb verhungernder Rentner -, verunglimpft die JA Brandenburg diese Menschengruppe in erheblichem Maße.

Der AfD-Landesverband Schleswig-Holstein unterstellte im Hinblick auf die in griechischen Flüchtlingslagern untergebrachten Personen außerdem, es handele sich „in den allermeisten Fällen nicht (!) um Flüchtlinge“, sondern um „Glücksritter, die nicht zuletzt wegen der unsäglichen Merkel und deren Helfershelfern in Politik, Medien und NGO ihre Umsiedlung nach Deutschland erzwingen wollen“.[1045]

Indem der Landesverband Geflüchtete als „Glücksritter“ bezeichnet, worunter gemeinhin sich auf eine vage, wenig fundiere und eher unbegründete Glücksperspektive verlassende Abenteurer zu verstehen sind, spricht er dieser Menschengruppe ohne Blick auf den Einzelfall eine mögliche Schutzwürdigkeit ab und negiert legitime Fluchtgründe pauschal.

Joachim Schneider, stellvertretender Vorsitzender des AfD-Landesverbands Schleswig-Holstein, äußerte sich in einem Facebook-Post vom Juli 2019 zudem folgendermaßen über die Seenotrettung von Flüchtlingen:

„Es geht einzig um die Massenmigration, nicht um Seenotrettung oder darum, den Menschen, die in anderen Ländern in Armut leben, zu helfen. Die, die diese selbsternannten Heiligen auf ihren Arche Noahs nach Europa transportieren sind nicht die verhungernden Kinder Afrikas, sondern das krasse Gegenteil: Muskulöse, gut genährte junge Männer, die als Invasoren in unsere Sozialsysteme mit Ansprüchen daran kommen, was ihnen dieses Europa zu bieten habe: Geld, Wohnung, Auto, Frauen. Das große Ziel wird immer klarer: Es geht darum Millionen Menschen nach Europa in die Sozialsysteme, insbesondere in die deutschen, zu schleußen.“[1046]

Joachim Schneider verunglimpft aus Seenot gerettete Flüchtlinge als planmäßig eingeschleuste „Invasoren“ und spricht ihnen damit vehement legitime Fluchtursachen und pauschal eine Schutzwürdigkeit ab. Er unterstellt den Flüchtlingen zudem pauschal niedrige Beweggründe, sowohl finanzieller als euch sexueller Natur.

Auch hier erfolgt eine pauschale Charakterisierung von Flüchtlingen als „Schmarotzer“, was wiederum eine herabwürdigende Verunglimpfung darstellt. Die diffamierende Natur dieser Äußerungen zeigt sich zudem daran, dass sie gänzlich ausblenden, dass ein Teil der Zugewanderten bereits erfolgreich in den deutschen Arbeitsmarkt integriert ist und dieser ebenso Sozialversicherungsbeiträge leistet.

In weiteren Verlautbarungen ziehen Vertreter und Vertreterinnen der AfD-Landesebene das Schutzbedürfnis von Geflüchteten vor dem Hintergrund von Verfehlungen Einzelner in Zweifel.

André Wendt (MdL, SN) äußerte in einem Facebook-Eintrag vom Januar 2019 bezugnehmend auf zwei am vorausgegangenen Wochenende verübte Messerangriffe:

„Wann hört das endlich auf? Fast jeden Tag solche Meldungen. […] Haben wir uns tatsächlich schon an diese ‚Gäste‘ gewöhnt? An diese ‚Flüchtlinge‘, die das Messer in der Tasche genauso selbstverständlich mitführen wie unsereiner den Schlüsselbund? Wollen wir wirklich mit solchen Menschen zusammenleben? Mit Menschen, die Konflikte mit brutaler Gewalt lösen und für das deutsche Gemeinwesen keinerlei Bereicherung darstellen, die Kosten ohne Ende verursachen und es uns dann mit Gewalt und Aggressivität danken? Ich denke, die Antwort ist eindeutig: Nein, wir wollen das nicht. Über Dekaden haben wir eine Kultur aufgebaut, die auf Diskurs und Ausgleich und nicht auf dem Recht des Stärkeren beruht. Wir wollen uns diese Kultur nicht einreißen und zurück ins Mittelalter zerren lassen.“[1047]

Die Gewaltdelikte werden somit pauschalisierend auf die gesamte Gruppe der Flüchtlinge übertragen und als Beleg für ein vermeintlich generell aggressives und bedrohliches Gebaren herangezogen. Mit der Aussage, dass diese Menschen „für das deutsche Gemeinwesen keinerlei Bereicherung darstellen“, werden die Flüchtlinge als minderwertig dargestellt.

Der bayerische AfD-Landtagsabgeordnete Stefan Löw äußerte sich im März 2020 vergleichbar, als er anlässlich einer durch einen mutmaßlichen Asylbewerber verübten Gewalttat schrieb:

„Deutschland 2020. Als Schutzsuchende vor Gewalt und Angst aus ihrem Land geflohen, im hier Gewalt und Angst zu schüren.“[1048]

Der nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete Thomas Röckemann verglich in einer Rede, die er im Rahmen des EU-Wahlkampfes am 17. Mai 2019 in Gütersloh (NW) hielt, die Migrationsbewegungen seit 2015 mit einer Naturkatastrophe:

„Reden wir einmal über Grenzen und reden wir über das totale Versagen der alten Parteien, die gewaltiges Unheil über unser deutsches Volk, über unsere deutsche Nation und über die Völker Europas gebracht haben. […] Europas Grenzen werden spätestens seit 2015 von einer riesigen Menschenwelle überflutet.“[1049]

Durch die Charakterisierung als „gewaltiges Unheil“ bringende „Menschenwelle“, die Europa „überflutet“, erzeugt Röckemann ein Bedrohungsszenario, in dem Zugewanderte einer Naturkatastrophe gleichgesetzt und damit entwürdigt werden.

Der AfD-Landesverband Schleswig-Holstein nahm im September 2019 auf Facebook Stellung zu einem Online-Presseartikel, welcher sich kritisch mit der Seenotrettung von Personen ohne Identitätsnachweis auseinandersetzte. Den Beitrag kommentierte der Landesverband mit den Worten:

„Und dann wundern sich solche Schlepper wie Rackete und ihre Anhänger, wenn wir sie als ‚ignorante Gutmenschen‘ bezeichnen? Es zeigt wieder einmal mehr, dass diese Leute keine Ahnung haben, was sie eigentlich anrichten. Sie importieren die pure Gewalt.“[1050]

Durch seine Wortwahl („pure Gewalt“) impliziert der AfD-Landesverband Schleswig-Holstein hier, dass im Rahmen der Seenotrettung ausschließlich Gewalttäter aufgegriffen würden.

Den obigen Aussagen ist gemein, dass sie die Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingen in Zweifel ziehen, indem diese als Gefahr für – nunmehr selbst schutzbedürftige – Einheimische dargestellt werden. Aufgrund einzelner Straftaten wird ein pauschales Unwerturteil über die gesamte Menschengruppe gefällt, was diese wiederum in ihrer Gesamtheit abwertet.

Auf seinem VK-Profil teilte der AfD-Landesverband Schleswig-Holstein im Oktober 2019 zudem einen Beitrag der stellvertretenden Bundessprecherin der AfD, Alice Weidel, zum UN-Migrationspakt und drückte damit seine übereinstimmende inhaltliche Nähe dazu aus. Darin wurde gefordert:

„Es darf kein Flugzeug aus Äthiopien oder anderen afrikanischen Ländern mehr landen, Deutschland hat sich aus dem Migrationspakt unverzüglich zu verabschieden. Darüber hinaus muss Horst Seehofer endlich die Grenzen schützen und dazu übergehen, Asylbewerber nicht nur beim Grenzübertritt zu zählen, sondern sie rigoros abzuweisen, bevor sie auch nur einen Fuß in unser Land gesetzt haben!“[1051]

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