Die EU-Kommission will mehr Erleichterungen für Unternehmen beim Datenschutz. Die kleine Anpassung der DSGVO könnte der Vorbote einer größeren Deregulierungskampagne sein. Das darf nicht passieren – wenn die Verordnung schon aufgebohrt wird, muss sie verbessert werden. Ein Kommentar.
Die EU öffnet zum ersten Mal die Datenschutzgrundverordnung – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Westend61Es ist ein simpler Satz, hinter dem sich eine kleine Revolution versteckt: „Die Kommission schlägt Vereinfachungsmaßnahmen vor, um EU-Unternehmen weitere 400 Millionen Euro pro Jahr zu ersparen.“ Mit diesen Worten kündigte die EU-Kommission am Mittwoch neues Paket zum sogenannten Bürokratieabbau an. Es soll Unternehmen das Leben leichter machen. Dazu gehört ein Abbau von Dokumentationspflichten beim Datenschutz für kleine und mittelgroße Unternehmen.
Es ist das erste Mal, dass die materiellen Regeln der Datenschutzgrundverordnung inhaltlich verändert werden sollen. Das galt lange Zeit als undenkbar, zu lebhaft waren die Erinnerungen an das, was als größte Lobby-Schlacht der EU in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Vor ziemlich genau neun Jahren, am 25. Mai 2016, ist die DSGVO in Kraft getreten, davor lagen viele Jahre heftigen Ringens zwischen den EU-Institutionen, Parteien, der Zivilgesellschaft und Lobby-Gruppen.
Ausnahmen werden ausgeweitetEs ist deshalb wenig verwunderlich, dass die EU-Kommission jetzt nicht die gesamte Grundverordnung zur Debatte stellt, sondern erstmal nur kleinere Veränderungen ankündigt. Oder in anderen Worten: Die Büchse der Pandora erstmal einen kleinen Spalt öffnet…
Laut der Ankündigung sollen künftig nur noch Unternehmen mit mehr als 750 Beschäftigten Datenverarbeitungsverzeichnisse führen müssen. Das sind interne Übersichten darüber, welche Daten eine Organisation verarbeitet, wofür sie genutzt werden, wer Zugriff darauf hat und wie die Daten geschützt werden. Schon bisher gab es hier eine Ausnahme, die allerdings nur für kleine Unternehmen mit bis zu 250 Mitarbeitenden gilt.
Dass die Ausweitung problematisch ist, liegt auf der Hand. Die Dokumentationspflichten sind nicht eingeführt worden, um Unternehmen zu gängeln, sondern um dafür zu sorgen, dass sie ihre Verantwortung ernst nehmen. Wer ein gut gepflegtes Verarbeitungsverzeichnis führt, hat in der Regel weniger Probleme mit dem Datenschutz, berichtet Rechtsanwältin Elisabeth Niekrenz aus der Praxis. Wie sollen sich in Zukunft Unternehmen mit bis zu 750 Mitarbeitenden um den Datenschutz kümmern, wenn sie keinen Überblick haben, welche Daten sie überhaupt verarbeiten? Die vermeintliche Erleichterung wird schnell zum Eigentor, weil Strafen für Verstöße natürlich trotzdem anfallen.
Sinnvoller ist da schon die zweite vorgeschlagene Änderung. Bislang galt die Befreiung von der Dokumentationspflicht nicht für Unternehmen, die „regelmäßig“ Daten verarbeiten, mit denen ein „Risiko“ einhergeht. Doch bei jedem Unternehmen fallen regelmäßig Daten über das Personal an, durch deren Verarbeitung naturgemäß ein Risiko entsteht. Das heißt: Die Ausnahme für kleine Unternehmen griff fast nie. In Zukunft sind kleine und mittlere Unternehmen nur dann zur Dokumentation verpflichtet, wenn sie Daten mit „hohem Risiko“ verarbeiten.
Ohne die EVP geht nichtsDie digitale Zivilgesellschaft reagiert auf den Vorschlag mit geballter Ablehnung. Das liegt nicht nur an den konkreten Vorschlägen, sondern vor allem daran, dass die Datenschutzgrundverordnung jetzt überhaupt aufgemacht werden soll. Die Mini-Reform könnte sich als Vorbote einer großen Deregulierungskampagne erweisen, warnten in dieser Woche mehr als hundert europäische NGOs. Ihre Sorge: Ist die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet, bleibt kein Stein auf dem anderen. Im Herbst will die EU ein großes Omnibus-Paket zur „Vereinfachung“ ihrer Digitalgesetzgebung vorlegen, das auch die DSGVO umfassen könnte.
Ein Blick auf die politischen Mehrheitsverhältnisse in der EU zeigt, dass die Sorgen berechtigt sind. Seit dem Rechtsruck bei der letzten Europa-Wahl hat die konservative EVP-Fraktion im Parlament die Oberhand. Sie lässt wenig Zweifel daran, dass sie wirtschaftlichen Interessen alles andere unterordnet.
Schon in der letzten Legislaturperiode war die EVP die stärkste Kraft, doch wenn sich die Kräfte in der Mitte und links davon zusammentaten, konnten sie Gesetze auch gegen den Willen der Konservativen durchbringen. Das ist jetzt vorbei. Wenn die demokratischen Parteien nicht spuren, könnte die EVP gemeinsame Sache mit den ebenfalls erstarkten EU-Feinden und Rechtsradikalen machen. Dass das für die Konservativen kein theoretisches Szenario, sondern eine echte Option ist, ist ein Skandal für sich. Es ändert jedoch nichts daran, dass ohne die EVP im Parlament nichts geht.
Eine große Reform der DSGVO unter diesen Vorzeichen – das kann nur zu Lasten von Grundrechten gehen. Denn seit ihrer Einführung steht die Verordnung unter Beschuss aus der Wirtschaft, inzwischen ist sie zum Sündenbock für alles geworden, was bei der Digitalisierung schiefläuft. Mit Venture-Kapital vollgepumpte US-Konzerne sind erfolgreicher als die heimische Wirtschaft? Der Datenschutz ist schuld! Der Staat scheitert an der Verwaltungsdigitalisierung? Der Datenschutz ist schuld! Die Milch im Kühlschrank ist sauer geworden? Der Datenschutz ist schuld!
Wo wirklich was zu tun wäreDabei geraten nicht nur die Erfolge der DSGVO aus dem Blick, sondern auch der tatsächliche Reformbedarf für einen wirksamen Grundrechtsschutz. Wir berichten auf netzpolitik.org immer wieder über Probleme, die tatsächlich gefixt werden müssten, damit die DSGVO für Bürger:innen als echter Gewinn wahrgenommen wird. An erster Stelle: die informierte Einwilligung.
Immer wieder zeigen unsere Recherchen, wie Unternehmen Menschen über den Tisch ziehen, um an den vermeintlichen Blankoscheck für’s Datensammeln zu gelangen. Egal ob Websites und Apps, die Menschen mit manipulativem Design von Consent-Bannern auf „alles akzeptieren“ lenken oder Bank-Filialen und Handyshops, die Kreuzchen für ihre Kund:innen setzen, ohne sie zu fragen. Auch die unkontrollierten Datensammlungen der Werbeindustrie, die uns in hunderttausende Kategorien steckt und unsere genauen Bewegungsdaten vertickt, werden durch das Feigenblatt der „informierten Einwilligung“ gerechtfertigt.
Hier und an anderen Problemen müsste eine Reform ansetzen, die diesen Namen verdient hat. Die Verordnung aufzubohren und zu verändern ist nur dann zu rechtfertigen, wenn der Datenschutz für die Menschen wirklich verbessert wird. Alles andere darf man getrost als das bezeichnen, was es ist: Geschenke an die Wirtschaft.
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Die Furcht von Sicherheitsbehörden vor verschlüsselter Kommunikation eröffnet eine neue Runde Crypto Wars. Die Debatten sind schon Jahrzehnte alt und ebenso lange ist klar: Alles um jeden Preis zu erhellen führt zu Verblendung – auf vielen Ebenen.
Geblendet sieht man schlecht. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO/ZoonarSie wollen wieder mitlesen dürfen. In den Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD hat es die Forderung, Anbieter zur Entschlüsselung von Kommunikationsinhalten zu verpflichten, zwar nicht geschafft. Doch eben auch keine gegenteilige Garantie, solcherlei zu unterlassen.
Wie jüngst schon von der High-Level Group der EU wird hier einer sicherheitsbehördlichen Furcht vor dem „Going Dark“ digitaler Kommunikation gefolgt und eine neue Runde der „Crypto Wars“ um die Vertraulichkeit unserer digitalen Nachrichten eröffnet.
Dass solche Vorschläge in erster Linie unbescholtene Bürger*innen treffen, gar grundrechtswidrig ihre Privatsphäre (und zahlreiche grundlegende Funktionen des modernen Internets) gefährden, ficht die zukünftige Bundesregierung dabei nicht an. Zeit, ihnen ein Licht aufgehen zu lassen.
DunkelheitDer Begriff „Going Dark“ entstammt dem Geheimdienstjargon und bezeichnet dort zunächst das Versiegen eines bestimmten Informationskanals. Er wird vor allem in Bezug auf (Nachrichten-)Verschlüsselung gebraucht, etwa von FBI-Direktor James Comey. 2014 warnte er in einer Rede vor einer Zukunft, in der die gesamte oder überwiegende digitale Kommunikation sicher verschlüsselt und somit für die Sicherheitsbehörden nicht mehr einsehbar und nachvollziehbar wäre.
In diesem Szenario liegen dann die Unterhaltungen und Datenspeicher von Kriminellen und Terrorist*innen, die dringlich überwacht werden müssten, ebenso „im Dunkeln“ wie die Erinnerung an die fehlende Milch vor dem Wocheneinkauf zwischen Eheleuten, die Verabredungen zum Feierabendgetränk zwischen Arbeitskolleg*innen und die Gruppenchats des Sportvereins. Sicherheitsrelevante wie höchst private Inhalte werden hier gleichermaßen geschützt.
Realistisch betrachtet ist dieses Szenario in einigen Teilen des Netzes näher als in anderen. So nutzen etwa 86 Prozent der Deutschen den Ende-zu-Ende-verschlüsselten Messenger WhatsApp. Auch die Konkurrenten Signal und Threema haben sich ganz der Anonymität und Sicherheit ihrer Nutzer*innen verschrieben. Im Gegensatz dazu nutzten vor einigen Jahren lediglich 16 Prozent der deutschen Nutzer*innen Ende-zu-Ende-Verschlüsselung für ihre E-Mails. Auch die klassische, unverschlüsselte Telefonie wird zunehmend von den verschlüsselten Anruffunktionen der Messenger-Apps verdrängt. Es sind daher auch die Messengerdienste, die den Handlungsreflex des Staates auf sich ziehen.
LeuchtmittelDamit also terroristische Planungen, Kindesmissbrauchsdarstellungen und -kontakte und Betäubungsmittelhandel künftig nicht mehr im uneinsehbaren Dunkel der verschlüsselten Messengerdienste stattfinden können, sollen diese ausgeleuchtet werden. Wenn die Europol-Chefin an die „soziale Verantwortung“ der Messengerdienste appelliert, verlangt sie von diesen, ihr ein hierfür geeignetes Leuchtmittel zur Verfügung zu stellen.
Um unverschlüsselte Kommunikation einer eigentlich Ende-zu-Ende-verschlüsselten Unterhaltung abzufangen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Daten werden vor der Verschlüsselung, beziehungsweise nach der Entschlüsselung abgegriffen – beim Sender oder beim Empfänger einer Nachricht. Oder sie müssen entschlüsselt werden.
Für letzteres müsste die Verschlüsselung technisch so gestaltet werden, dass sie schnellstmöglich überwunden werden kann (etwa durch Nachschlüssel, den Einbau von Sicherheitslücken oder die Verwendung kurzer, leicht zu errechnender Schlüssel), bei ersterem ist ein Zugriff auf die Endgeräte der Nutzer*innen nötig, von wo aus die unverschlüsselten Daten ausgeleitet werden.
Juristisch soll ein solches Leuchtmittel durch die Regulierung der verwendeten Technologie erreicht werden.
Die Entschlüsselung eigentlich verschlüsselter Internetkommunikation hat zwei unausweichliche Folgen: Sie betrifft jede Kommunikation jedes*r Nutzer*in, ob kriminell oder unbescholten. Und sie ist jedem*r Beleuchter möglich, ob gut- oder böswillig. Und gibt es einmal eine entsprechende Leuchte, wird sie nicht nur dem Staat zur Ausleuchtung der kriminellen, terroristischen Gefilde des Netzes dienen, sondern auch von Täter*innen auf ihre Opfer, von Diktaturen auf ihre politischen Gegner*innen gerichtet werden.
Blendende HelligkeitDas verlangte Leuchtmittel leuchtet also, um im Bild zu bleiben, blendend hell. Geblendet werden unbescholtene Bürger*innen, deren Grundrechte zu bloßen Schatten verblassen. Geblendet wird die Sicherheitsarchitektur des Internets, die auf den ausgeleuchteten Technologien aufgebaut ist.
So wird hier einerseits mit dem Flak-Scheinwerfer unter die Bettdecke geleuchtet, die maximale Erkenntnismöglichkeit auf die privatesten Bereiche der menschlichen Kommunikation und Intimsphäre gerichtet. Bewusst und mit gutem Grund haben die Grundrechte (ob nun des Grundgesetzes, der Grundrechtecharta der Union oder der EMRK) den dichten Mantel absoluten Schutzes über diese Lebensbereiche gebreitet.
Liegt vordergründig nur eine (im Einzelfall vielleicht sogar rechtfertigbare, in ihrer Gesamtheit aber völlig entgrenzte) Verletzung des Kommunikationsgeheimnisses vor, wird schnell ersichtlich, dass Umfang und Inhalte der Ausleuchtung weit darüber hinausstrahlen: durch Abschreckungseffekte auf die Meinungs- und Weltanschauungsfreiheit, durch die Kenntnisnahme intimster Gedanken und Unterhaltungen auf den Menschenwürdekern des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts.
Das Licht dieser vollständigen Überwachung durchdringt die Menschen gleichsam wie Röntgenstrahlung. Sichtbar bleiben die Nachrichten, während die Ganzheit der Menschen verschwindet. So werden sie zu Beobachtungsobjekten degradiert und reduziert.
Neben den Auswirkungen auf Grundrechte gibt es auch die praktische Gefahr, dass Akteure staatlicher oder privater Art missbräuchlich auf Inhalte zugreifen.
Die vom Anti-Verschlüsselungsleuchtmittel produzierte Hitze wird auch technisch spürbar: Nichts weniger als die Funktionalität und Sicherheit des Internets als Ganzes könnten in Flammen geraten. Denn nicht nur die unmittelbar zwischenmenschliche digitale Kommunikation, nahezu alle Internetübertragungen und die gesamte Konzeption moderner IT-Sicherheit setzen auf Verschlüsselungsverfahren, um Vertraulichkeit, Integrität und Authentizität sicherzustellen. Soll das Dunkel wirklich ausgeleuchtet werden, müssen auch die Protokolle zum sicheren Surfen, zum Online-Banking, zur Passwortverwaltung et cetera aufgebohrt werden, denn sie alle lassen sich nutzen, um Kommunikation wieder ins Dunkel zu hüllen. Doch ein Internet ohne sichere Verschlüsselung ist ein Internet mit Identitätsdiebstahl, gehackten Stromnetzen und gestalkten (Ex-)Partner*innen.
Während also die Millionen-Watt-Strahler der Überwachung Brandflecken auf den Grundrechtsbettdecken unbescholtener Bürger*innen und im weiten Netz des Internets hinterlassen, wird ein ganz zentrales Problem übersehen: In blendender Helligkeit lässt sich genau so wenig sehen wie im Stockdunkeln. Die massenhaft entschlüsselte Kommunikation will schließlich überwacht und auf einschlägige Inhalte durchsucht werden. Unter den Abermillionen belangloser Nachrichten diejenigen von Interesse herauszufiltern, wird nicht ohne weitere Anhaltspunkte möglich sein. Den Sicherheitsbehörden droht hier eine hausgemachte Überlastung der eigenen Erkenntnisfähigkeiten und Ressourcen.
So alt wie die Glühbirne, so erhellend wie ein NachtlichtNichts davon ist neu. Geben Sie einmal das Stichwort „Crypto Wars“ in ihre bevorzugte Suchmaschine ein und betrachten die Debatten der 70er-Jahre, der 90er-Jahre und die in der Folge der Snowden-Enthüllungen. Die Argumente beider Seiten sind hinlänglich beschrieben, die Ergebnisse meist eindeutig: Maßnahmen sind nicht verhältnismäßig zu rechtfertigen, denn Grundrechte, IT-Sicherheit, alles überwiegt den potenziellen Informationsgewinn. Dass diese Forderungen dennoch wie eine Untote, ein kleiner Zombie regelmäßig wiederkehren, deutet auf eines hin: mangelnde Erleuchtung bei denjenigen, die sie erheben.
Manche Ermittlung mag durch verschlüsselte Kommunikation erschwert worden sein und manche mag es in Zukunft werden. Doch insgesamt erscheint die Erkenntnismenge, die nicht auch mit anderen Möglichkeiten zu erlangen wäre, gering. Vielmehr wirkt es, als solle die Erhellung der Dunkelheit vor allem beruhigen – wie ein Nachtlicht im Kinderzimmer.
Paul Zurawski ist Jurist und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel. Er forscht zu Fragen der Überwachung im digitalen Raum, mit Schwerpunkten auf Vorratsdatenspeicherung und Verschlüsselungsdebatte, über die er promoviert.
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Eine neue Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes fasst erstmals zusammen, auf wie vielen Ebenen Diskriminierung durch die Polizei geschehen kann – auch unter den Beamt:innen selbst. Ein Katalog an Forderungen soll das ändern.
Bei einem Protest anlässlich des Jahrestages von Hanau wird auf die Rolle der Polizei verwiesen. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / aal.photoDie Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat eine Studie „Polizei und Diskriminierung“ veröffentlicht. Darin werden sowohl Diskriminierung durch die Polizei als auch Diskriminierung innerhalb der Polizei untersucht. Ein Ergebnis der Studie ist, dass Diskriminierung in nahezu allen Bereichen des polizeilichen Handelns auftreten kann, es aber Schwerpunkte und Gruppen gibt, die stärker betroffen sind.
Eine der größten Problemfelder sind Polizeikontrollen, wo laut der Studie (PDF) bestimmte Gruppen zum Beispiel durch Racial Profiling, also anhand rassistischer Auswahlkriterien, dem sogenannten Overpolicing ausgesetzt sind. Das heißt, dass sie stärker in den Fokus polizeilicher Maßnahmen geraten als andere. Hierzu zählt die Studie insbesondere junge, männliche Personen mit Migrationshintergrund, aber auch generell Muslim:innen und People of Color. Auch Menschen mit zugeschriebenem niedrigen „sozialen Status“ gerieten öfter in den Fokus; Auswahlkriterium sei hier oftmals die Kleidung.
Die Diskriminierung könne sich zudem nicht nur in der Auswahl der kontrollierten Personen, sondern auch in der Intensität der Kontrollen und im Umgang mit den kontrollierten Personen zeigen.
Neben dem Overpolicing gibt es auch das Phänomen der Underprotection, worunter verstanden wird, dass Personen oder Gruppen mit bestimmten Diskriminierungsmerkmalen weniger geschützt werden als andere. Hier spielen laut der Studie „Alter, Milieuzugehörigkeit und rassistische Zuschreibungen eine Rolle“.
Unzureichende HilfeAuch bei der Aufnahme von Strafanzeigen kommt es zu Diskriminierung. „Bei der Anzeigenerstattung können Bürger*innen aufgrund ihres sozialen Status, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung, einer Behinderung oder ihrer Lese- und Schreibkompetenz diskriminiert werden“, stellt die Studie fest. „Frauen, insbesondere solche mit Migrationshintergrund oder in prekären Situationen wie Sexarbeiter*innen, wird von der Polizei häufig misstraut“. Sie erfahren laut der Studie mitunter Victim Blaming – so nennt man es, wenn Betroffenen die Verantwortung für etwas zugeschoben wird, das ihnen angetan wurde. Außerdem werde ihnen von der Polizei unzureichend geholfen.
Bei polizeilichen Ermittlungen gibt es durch Diskriminierungen oftmals eine Täter-Opfer-Umkehr. Hier verweist die Studie unter anderem auf den Anschlag von Hanau oder die NSU-Ermittlungen, wo lange von „Dönermorden“ die Rede war und die Ermittlungen in die falsche Richtung liefen, anstatt rassistische, neonazistische Strukturen in den Fokus zu nehmen.
Stereotype und StigmatisierungDiskriminierungsrisiken sieht die Studie auch beim Umgang der Polizei mit Protesten: „Gefahrenprognosen können aufgrund stereotyper Annahmen je nach Protestgruppe unterschiedlich ausfallen, was zu selektiven Festnahmen oder übermäßiger Gewaltanwendung führen kann. Meist basiert die Unterscheidung auf der (zugeschriebenen) politischen Ausrichtung der Gruppen.“
Auch polizeiliche Datenbanken und sogenannte Künstlicher Intelligenz geben Anlass zu Sorge. Die Nutzung von Datenbanken bergen der Studie zufolge Risiken der Diskriminierung – insbesondere durch die Überrepräsentation bestimmter Gruppen und stereotypisierende Markierungen. Zudem könnten diskriminierende Muster reproduziert und verstärkt werden. Als ein Beispiel nennt die Studie die „antiziganistische Diskriminierung, bei der Sinti*zze und Rom*nja in Datenbanken und Lagebildern mit bestimmten Kriminalitätsformen in Verbindung gebracht werden.“
Bei der Kriminalprävention sieht die Studie wiederum Risiken der Underprotection, beispielsweise für Menschen mit Migrationshintergrund. Gleichzeitig kann es bei der Präventionsarbeit der Polizei zu Stigmatisierung von Gruppen kommen, die in dieser Arbeit gegenüber den Bürger:innen als potentielle Täter:innen beschrieben werden.
Diskriminierung auch innerhalb der PolizeiAuch innerhalb der Polizei gibt es Diskriminierung. Hier nennt die Studie vor allem Frauen, trans* Personen und Menschen mit Migrationshintergrund als Betroffene. Recht gut erforscht seien Ausschlussmechanismen gegenüber Frauen, die schlechtere Beförderungschancen hätten und teilweise sexuelle Belästigung erfahren würden. Diskriminierungen stellt die Studie aber auch gegenüber homosexuellen Beamten:innen, gegenüber Älteren und chronisch Kranken, sowie gegenüber als politisch links wahrgenommenen Kolleg:innen fest.
Auch bei Pressearbeit und in den sozialen Medien seien Diskriminierungen zu beobachten. Die Polizei sei oft keine neutrale Beobachterin, sondern Akteurin, was die Perspektive beeinflusse. „In dynamischen Situationen wie bei Protesten können schnelle, ungenaue Meldungen zu Falschdarstellungen und Stigmatisierungen führen. Eine emotionale Aufladung von Inhalten in sozialen Medien kann zudem Ängste schüren und Stereotype verstärken“, heißt es weiter.
Als Problem wird auch die sogenannte Cop Culture genannt, deren informelle Wertvorstellungen zur institutionellen Diskriminierung beitragen würden.
Weniger strenge Regeln für den StaatGrundsätzlich seien Diskriminierungen durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verboten. „Staatliches Handeln von Behörden und Hoheitsträger*innen, wie etwa Handlungen der Polizei gegenüber Bürger*innen, fällt allerdings nicht in den Anwendungsbereich des AGG“, stellt die Studie fest. Damit gelten für den Staat weniger strenge Vorgaben als für diskriminierendes Handeln von Staatsbürger*innen untereinander, kritisiert die Studie. Lediglich im Land Berlin gäbe es ein Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG), auf dass sich Bürger:innen auch gegenüber dem Staat berufen könnten.
Die Studie empfiehlt zudem, dass die Polizei internationale Entscheidungen, insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und der UN-Menschenrechtsausschüsse stärker berücksichtigen solle.
Das empfiehlt die StudieIn den Empfehlungen der Kurzfassung der Studie (PDF) heißt es, dass es sich bei der polizeilichen Diskriminierung um ein komplexes Problem handele, das kontinuierliche Aufmerksamkeit und konkrete Maßnahmen erfordere.
Daraus ergibt sich ein umfangreicher Empfehlungskatalog, den wir hier in Gänze zitieren:
Es ist fraglich, inwiefern solche Empfehlungen beispielsweise bei der schwarz-roten Regierung verfangen. So hatte sich etwa die CDU im Jahr 2020 vor dem Hintergrund der Debatte um Rassismus bei der Polizei dagegen ausgesprochen, „Misstrauen“ gegen Beamt:innen zu schüren; stattdessen brauche es Vertrauen. Hinzu kommen Berichte über mangelnde Fehlerkultur bei der Polizei.
Bei der Vorstellung der Studie zu Polizei und Diskriminierung sagte Ferda Ataman, Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung: Wer das ändern will, braucht den Mut zur Verbesserung und muss Diskriminierungen klar benennen.
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Nächste Woche findet die größte Konferenz für die digitale Gesellschaft in Europa statt: die re:publica. Das Programm verspricht spannende Themen und Formate, darunter aus unserer Redaktion auch Ingo, Sebastian und Constanze.
Vom 26.- 28. Mai findet die re:publica statt. – CC-BY-SA 4.0 Stefanie Loos/re:publicaDie re:publica steht vor der Tür. Unter dem diesjährigen Motto „Generation XYZ“ gibt es vom 26. bis 28. Mai 2025 auf der Konferenz in Berlin Vorträge, Diskussionen, Workshops, Performances, Ausstellungen und vieles mehr rund um die digitale Gesellschaft. Auch Redakteur:innen von netzpolitik.org werden vor Ort sein und über aktuelle netzpolitische Themen sprechen.
Am Montag spricht Ingo Dachwitz über den Digitalen Kolonialismus. Er erklärt, wie die Ausbeutung hinter der Digitalisierung aussieht und warum wir sie beenden müssen. Bereits im Februar erschien sein Buch: „Digitaler Kolonialismus: Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen“. Jetzt spricht er zu diesem Thema um 14:15 Uhr auf Stage 3.
Zwei Stunden später, um 16:15 Uhr auf Stage 6, spricht unser Redakteur Sebastian Meineck zusammen mit Rebecca Ciesielski vom Bayerischen Rundfunk darüber, wie Databroker die Handy-Standortdaten von vielen Millionen Menschen weltweit verkaufen. Die Zuhörenden erfahren den aktuellen Stand der Databroker-Recherchen und können selbst prüfen, ob auch ihr eigenes Handy betroffen ist.
Constanze Kurz nimmt am Mittwoch um 12:30 Uhr an einer Podiumsdiskussion auf Stage 2 teil. Dabei diskutiert sie mit Annika Brockschmidt, Nadia Zaboura und Georg Restle die Frage, ob wir eine öffentlich-rechtliche Plattform brauchen, um Musk und Co. etwas entgegensetzen zu können.
Von Deepfakes bis digitale TeilhabeDie frühere netzpolitik.org-Autorin Marie Bröckling spricht am Mittwoch um 16:45 Uhr auf Stage 4 darüber, dass Hunderttausende Deepfake-Pornos straffrei bleiben, und überlegt, wie eine Regelung zum besseren Schutz davor aussehen kann.
Gleich vier Mal ist Leonhard Dobusch zu sehen. Am Dienstag um 11:15 Uhr und am Mittwoch um 15:30 Uhr spricht er über öffentlich-rechtliche Medien. Außerdem führt er ein Gespräch mit Felix Hlatky über Mastodon und kann außerdem am Dienstag um 18:45 Uhr als Teil der #rp25 Track Teams kennengelernt werden.
An einem Gespräch um Jugendschutz und die digitale Teilhabe nimmt auch unsere Kolumnistin Svea Windwehr teil. Sie spricht am Mittwoch um 15:30 Uhr mit Simone Ruf, Sanya Lehmann und Carla Roggenbuck.
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Der Amazon-Konzern weigert sich, die Cloud-Verträge mit dem Schweizer Staat öffentlich zu machen – obwohl der Staat einer Veröffentlichung schon längst zugestimmt hat. Das Thema berührt die digitale Souveränität. Auch in Deutschland gibt es Kooperationen mit Amazon.
Der Schweizer Staat nutzt die Amazon Cloud AWS, die Verträge aber bleiben intransparent. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / imagebrokerDer Schweizer Staat nutzt Cloud-Dienste verschiedener internationaler Konzerne wie Microsoft, Amazon, IBM, Oracle und Alibaba. Die Verträge dieser Zusammenarbeit wollte das Schweizer Medium „Republik“ schon vor zwei Jahren einsehen, doch drei der Unternehmen wehrten sich. Dabei hatte die Schweizer Bundeskanzlei grünes Licht für die Veröffentlichung gegeben. Am Ende fügten sich die anderen, es blieb nur noch ein Unternehmen auf Konfrontationskurs: Amazon.
Jeff Bezos‘ Konzern reichte Beschwerde beim schweizerischen Bundesverwaltungsgericht gegen die Herausgabe der Verträge ein – und zwar auch gegen die Veröffentlichung der Verträge von Konkurrenten, die mit dem Schweizer Staat zusammenarbeiten. An diesem Fall entscheide sich, ob die Geschäftsinteressen eines US-Konzerns überwiegen oder die Datenschutzrechte sowie die digitale Souveränität eines Nationalstaats, schreibt Adrienne Fichter nun in einem Artikel in der „Republik“.
Wie kann Europa digital unabhängiger werden?
Das Thema digitale Unabhängigkeit wird zunehmend brisanter durch die derzeitigen weltpolitischen und geostrategischen Veränderungen sowie die aggressive Zoll- und Außenpolitik der Trump-Regierung. Die Abhängigkeiten zeigen sich heute deutlich, wenn etwa Microsoft beim internationalen Strafgerichtshof Mailadressen auf Anordnung der US-Regierung sperrt oder Multimilliardär Elon Musk laut darüber nachdenkt, der Ukraine das Satelliteninternet über Starlink abzuschalten.
Die digitalen Abhängigkeiten gehen aber über das Verhältnis zur USA hinaus. Sie betreffen die physische Ebene wie Rohstoffe und Chips, die Ebene von Quelltexten, Programmen und Dienstleistungen sowie die Ebene der Daten, Standards und Protokolle. Bei den Cloud-Diensten dominieren die USA, aber auch zunehmend China den Markt.
„Souveränitätswashing“Um die wachsende Nachfrage nach digitaler Souveränität abzudecken, bieten US-Unternehmen wie Amazon nun Produkte wie die „European Sovereign Cloud“ an. Sie suggerieren Unabhängigkeit, können dieses Versprechen aber nur in Grenzen einhalten. So müssen US-Unternehmen beispielsweise durch den US-Cloud-Act amerikanischer Strafverfolgung Zugriff auf Daten geben, auch wenn diese in Europa gespeichert sind. Eine Nutzung der Amazon Cloud für sensible staatliche Daten wird deswegen kritisch gesehen. Zuletzt hatte etwa die Nutzung der Amazon Cloud für die Speicherung biometrischer Bilder für die Erstellung von Passdokumenten in Deutschland für Aufsehen gesorgt.
Das hält Amazon nicht davon ab, bis zum Jahr 2040 Milliardenbeträge in vermeintlich unabhängige Cloudstrukturen in Deutschland investieren zu wollen. Die „souveränen“ Produkte sind laut dem Bericht der Republik allerdings eine Mogelpackung, von „Souveränitätswashing“ ist die Rede: Statt einer unabhängigen Firma, die als Treuhänder fungieren würde und die damit die Hoheit über die Datenverwaltung hätte, würden für die „Sovereign Cloud“ einfach Amazon-Mitarbeiter:innen aus Europa anstelle von US-Personal eingesetzt, heißt es in dem Bericht. Die Technologie bleibe eine Black Box ohne offene Standards, der Quellcode geheim und unter Kontrolle des Konzerns.
Alles netzpolitisch Relevante Drei Mal pro Woche als Newsletter in deiner Inbox.Zur digitalen Souveränität gehört laut dem Medium eben auch, dass die Bürger:innen sehen können, was da eigentlich vereinbart ist zwischen dem Staat und seinen Dienstleistern. Adrienne Fichter schreibt, dass Amazon mit seinem Vorgehen aktiv die digitale Selbstbestimmung untergrabe, indem das Unternehmen Öffentlichkeit, Medien, Politik und sogar den betroffenen Bundesämtern die Einsicht verweigere, wie der Konzern personenbezogene Daten verarbeitet.
Kooperation mit dem BSIAuch in Deutschland wird das Thema heißer. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) hat jüngst eine Kooperation mit Amazon und seinem Cloud-Dienst Amazon Web Services (AWS) vereinbart, wie Tagesspiegel Background (€) berichtet. Laut dem Bericht soll im Fokus der Zusammenarbeit „die Weiterentwicklung kritischer Sicherheitstechnologien von AWS stehen, insbesondere Souveränitätskontrollen und technische Standards für die betriebliche Trennung und Datenflusssteuerung innerhalb der geplanten AWS European Sovereign Cloud“. Das solle laut dem Medienbericht dafür sorgen, dass US-Cloudangebote auch in der öffentlichen Verwaltung für ein möglichst breites Anwendungsspektrum genutzt werden könnten.
Wir haben eine Informationsfreiheitsanfrage nach dieser Kooperationsvereinbarung beim BSI gestellt. Es wird sich zeigen, wie transparent solche Vereinbarungen in Deutschland sind.
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Der Digitalausschuss des Deutschen Bundestags ist heute zu einer ersten Sitzung zusammengekommen. Inhaltliches stand noch nicht auf der Agenda, stattdessen wurde der Vorsitz gewählt. Außerdem ist nun bekannt, welche Abgeordneten die Digitalpolitik in den kommenden Jahren bestimmen werden.
Die Karten im Digitalausschuss sind neu gemischt. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com aceofnet / UnsplashDie Digitalpolitik im Deutschen Bundestag steht unter neuen Vorzeichen. Zum einen gibt es erstmals ein eigenständiges Digitalministerium. Zum anderen sitzen viele neue Abgeordnete im Parlament und damit auch im Ausschuss für Digitales und Staatsmodernisierung, der heute das erste Mal zusammenkam.
Die insgesamt 30 Ausschussmitglieder werden sich in den kommenden Jahren unterschiedlichen netzpolitischen Themen widmen, darunter der Verwaltungsdigitalisierung, der Stärkung der digitalen Souveränität sowie dem Wunsch nach weiteren Überwachungsmaßnahmen.
Abzuwarten bleibt, ob die Abgeordneten – wie es ihnen ausscheidende Abgeordnete auf den Weg gaben – dabei stärker die Federführung übernehmen, ob sie transparent arbeiten und inwieweit sie die Belange der Zivilgesellschaft berücksichtigen.
Union stellt Vorsitzenden Hansjörg DurzIm Fokus der heutigen Sitzung stand die Wahl des Ausschussvorsitzenden Hansjörg Durz. Der CSU-Politiker hatte die stellvertretende Leitung bereits in der 19. Legislaturperiode inne. Für die kommende Ausschussarbeit sieht er die Chance für einen „echten Aufbruch für Deutschland“, „für Wirtschaftswachstum und Modernisierung des Staates“.
Neben Durz gehören neun weitere Unionsabgeordnete dem Ausschuss an. In der vergangenen Legislatur waren schon Markus Reichel und Franziska Hoppermann dabei. Reichel widmete sich bislang unter anderem dem Thema digitale Identitäten, Hoppermann der Gesundheit.
Neu hinzugekommen ist Ralph Brinkhaus, der für die Unionsfraktion auch Sprecher für Digitalisierung und Staatsmodernisierung ist. Brinkhaus legt den Fokus weniger auf Digitalisierung als auf Staatsmodernisierung. Langwierige Genehmigungsverfahren und unnötige Antragsformulare „vergiften“ den Alltag der Menschen, betonte Brinkhaus vergangene Woche im Bundestag, daher „ist es gelebte Demokratieförderung, wenn wir an dieser Stelle besser werden“.
Aus der Union sind im Ausschuss außerdem Joachim Ebmeyer, Thomas Pauls, Martin Plum und Marvin Schulz vertreten. In der Fraktion widmet sich neben Brinkhaus auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Ronja Kemmer den Themen Digitales und Staatsmodernisierung.
SPD: Vertraute Gesichter für den „modernen Staat“Die mitregierende SPD entsendet insgesamt sechs Abgeordnete in den Ausschuss. Vier von ihnen – Johannes Schätzl, Parsa Marvi, Matthias Mieves und Carolin Wagner – gehörten dem Digitalausschuss bereits unter der Ampel an.
Johannes Schätzl ist digitalpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion und will unter anderem die digitale Souveränität stärken und den Netzausbau vorantreiben. Er ist Mitglied des Beirates der Bundesnetzagentur und Mobilfunkinfrastrukturgesellschaft.
An Bord ist erstmals auch Daniel Bettermann, der auch neu im Bundestag ist, sowie Maja Wallstein, die allerdings schon seit 2021 im Parlament sitzt. Bettermann ist Politikwissenschaftler und hat bisher als PR- und Kommunikationsberater gearbeitet. Auch er will sich für einen „modernen, digitalen und bürgerfreundlichen Staat“ einsetzen, worunter er „digitale Bürgerdienste und weniger Bürokratie“ versteht.
Bettermann gehört als ständiges Mitglied auch dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie an. Maja Wallstein und Carolin Wagner sitzen außerdem als ordentliche Mitglieder im Gesundheitsausschuss und dem Ausschuss für Forschung, Technologie, Raumfahrt und Technikfolgenabschätzung.
Der neue Fraktionsvizevorsitzende Armand Zorn, der bei den Koalitionsverhandlungen für die SPD die Arbeitsgruppe Digitales leitete, ist künftig nur noch stellvertretendes Mitglied im Ausschuss.
Grüne mit RüstzeugKomplett neu sind die Vertreter:innen der Grünen im Digitalausschuss.
Rebecca Lenhard ist mit knapp 30 Jahren erstmals in den Bundestag eingezogen und ist auch Fraktionssprecherin für Digitalisierung und Staatsmodernisierung. Zuvor hat die IT-Beraterin unter anderem für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Software konzipiert, „die heute jedes Asylverfahren in diesem Land transparenter und effizienter macht“. Neben dem Digitalausschuss gehört Lenhard dem Innen- und dem Wirtschaftsausschuss an, wo sie sich auch für digitale Transformation und Teilhabe einsetzen will.
Ebenfalls neu im Bundestag ist Moritz Heuberger. Der Verwaltungswissenschaftler will die „Staatsmodernisierung jetzt anpacken“. Das Rüstzeug bringt er mit: Seine Doktorarbeit trägt den geschmeidigen Titel „Die Koordination der digitalen Verwaltung – Erläuterung der Koordinationsherausforderungen bei der digitalen Transformation der öffentlichen Verwaltung im föderalen Kontext“. Vor seiner Zeit als Abgeordneter arbeitete Heuberger als Referent im Bundesinnenministerium zum Thema digitale Identitäten. Der Grüne sitzt auch im Finanzausschuss.
Die „Rechtsanwältin für Cybersicherheit“ Jeanne Dillschneider gehört zum gleichen Jahrgang wie Lenhard und sitzt auch zum ersten Mal im Bundestag. Sie ist Obfrau der Grünen im Digitalausschuss, ist dort also Hauptansprechpartnerin ihrer Fraktionsführung. Dillschneiders Fokus liegt auf IT-Sicherheit, Datenschutz- und nutzung, E-Health und digitalen Bürgerrechten. Sie vertritt die Grünen außerdem im Verteidigungsausschuss.
Erneut in den Bundestag eingezogen ist Anna Lührmann. Die Politikwissenschaftlerin war in den zurückliegenden Jahren Staatsministerin für Europa und Klima im Auswärtigen Amt. Zuvor wirkte sie unter anderem als Juniorprofessorin und Demokratieforscherin an der Universität Göteborg.
Neues Trio der LinkenAuch bei der Linkspartei sind die Karten gänzlich neu gemischt: Drei junge Abgeordnete, die erstmals in den Bundestag eingezogen sind, nehmen im Digitalausschuss Platz.
Sonja Lemke saß zuvor im Rat der Stadt Dortmund und im Digitalausschuss im Landschaftsverband Westfalen-Lippe. In ihrer Erwiderung auf die Regierungserklärung von Digitalminister Karsten Wildberger sprach sich die Informatikerin vergangene Woche für einen stärkeren Datenschutz und gegen eine Digital-Only-Strategie aus, die gesellschaftliche Teilhabe verhindere.
Die Staatswissenschaftlerin Donata Vogtschmidt ist ebenfalls erstmals in den Bundestag eingezogen. Zuvor gehörte sie dem Thüringer Landtag an. Vogtschmidt sitzt für die Linke als Obfrau im Digitalausschuss. In ihrer ersten Bundestagsrede plädierte sie dafür, sogenannte Künstlicher Intelligenz strenger zu regulieren und Sicherheitslücken zu schließen.
Über die niedersächsische Landesliste ist Anne-Mieke Bremer ins Parlament eingezogen. Davor hat sie als Sozialarbeiterin gearbeitet.
Alle drei sitzen auch im Ausschuss für Forschung, Technologie, Raumfahrt und Technikfolgenabschätzung. Donata Vogtschmidt gehört zudem dem Verteidigungsausschuss an.
Die AfD-Fraktion erhält sieben Sitze im Digitalausschuss, das sind drei mehr als in der vorangegangenen Legislaturperiode.
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Wer in Schweden einen Porno-Clip auf OnlyFans nach eigenen Wünschen bestellt, macht sich künftig strafbar. Das neue Gesetz missachtet Grundrechte wie Berufsfreiheit und sexuelle Selbstbestimmung, führt zu mehr Überwachung – und schadet letztlich allen. Ein Kommentar.
Sexarbeit ist Arbeit (Symbolbild) – Public Domain DALL-E-3 („two persons hugging, bauhaus style reduced minimalist geometric shapes“)Schweden hat seit gestern ein Gesetz, das sich als Lex OnlyFans bezeichnen lässt. Demnach macht sich strafbar, wer für sexuelle Dienstleistungen zahlt, die „über Distanz, ohne Kontakt ausgeübt werden“. Möchte man beispielsweise Aufnahmen bei seinen liebsten Creator*innen via Snapchat oder OnlyFans bestellen und teilt dabei konkrete Wünsche mit, kann man ins Visier der Justiz geraten. Denn das würde nach Logik des Gesetzes eine Person zu einer sexuellen Handlung „verleiten“. Auch eine Plattform wie OnlyFans kann dafür belangt werden, denn sie hätte die Transaktion möglich gemacht.
Vermeintlich soll das den „Schutz vor sexuellem Missbrauch“ zu stärken. Was hier aber tatsächlich passiert: Schweden erweitert sein Sexkaufverbot auf sexuelle Dienstleistungen im Netz und schafft damit einen alarmierenden Präzedenzfall für die Unterdrückung und Marginalisierung von Sexarbeit. Es ist zugleich ein Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung.
Zwei Grundrechte stehen beim gesellschaftlichen Umgang mit Sexarbeit im Vordergrund. Das erste ist die Berufsfreiheit, die es Menschen erlaubt, ihren Beruf frei zu wählen. Viele Sexarbeiter*innen wehren sich gegen das Stigma, den eigenen Beruf angeblich nur unter Zwang auszuüben.
Das zweite Grundrecht ist die sexuelle Selbstbestimmung. Hier geht es darum, dass Menschen selbst über sexuelle Handlungen entscheiden können. Gegner*innen von Sexarbeit führen oft an, dass sich angeblich kein Mensch aus freien Stücken dafür entscheiden könnte, sexuelle Handlungen für Geld anzubieten. Viele Sexarbeiter*innen pochen darauf, dass sie durchaus einen freien Willen haben, den ihnen Außenstehende nicht absprechen können.
„Dieses Gesetz ist kein Schutz, es ist Unterdrückung“Auch Kund*innen von Sexarbeit haben ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Das Nordische Modell betrachtet sie allerdings vor allem als potenzielle Täter*innen. Nicht als Menschen, die ein Grundbedürfnis nach körperlicher Nähe und Sexualität haben, und dafür eine einvernehmliche Dienstleistung in Anspruch nehmen möchten.
Diese Form des Staatsfeminismus hat in Schweden Tradition. Gestartet im Namen des Schutzes von Sexarbeiter*innen ist das Nordische Modell in Wahrheit ein Instrument der Unterdrückung. Seit mehreren Jahrzehnten verfolgt Schweden schon diese Politik. Sexarbeit ist demnach immer eine Form patriarchaler Gewalt, vor allem gegen Frauen, egal wie einvernehmlich die Transaktion geschieht. Und vor dieser Gewalt und Ausbeutung gelte es demnach Betroffene zu schützen – auch jene, die diesen „Schutz“ ausdrücklich ablehnen.
Die European Sex Workers‘ Rights Association (ESWA), die sich für die Interessen von Sexarbeiter*innen einsetzt, sieht in dem Gesetz ein Scheitern der schwedischen Demokratie. Auf Englisch kommentiert die NGO: „Dieses Gesetz ist kein Schutz, es ist Unterdrückung“. Eine schwedische Abgeordnete habe angezweifelt, ob die Protestbriefe zu dem Gesetz wirklich von Sexarbeiter*innen stammten, oder eher von Zuhältern. ESWA beschreibt diese Haltung als „offenkundig ignorant, zutiefst beleidigend und gefährlich“. Sie offenbare eine „tiefe Verachtung für die Intelligenz und die Würde von Menschen am Rande der Gesellschaft“ und bestätige „die schlimmsten der paternalistischen Instinkte Schwedens“.
Sexarbeiter*innen haben konkrete ForderungenSchon jetzt ist gut dokumentiert, wozu der vermeintliche, staatliche Schutz durch das Nordische Modell führt. Probleme wie Ausbeutung und schlechte Arbeitsbedingungen in der Sexarbeit, die angeblich bekämpft werden sollen, werden durch die Kriminalisierung der Kund*innen nicht eingedämmt, sondern verstärkt. Verbände und Fachleute berichten von noch mehr Stigma, noch mehr Problemen. Auf dem Papier mag das Gesetz nur Käufer*innen bedrohen. In der Praxis trifft es aber natürlich die Sexarbeiter*innen selbst. Sie verlieren ihr Einkommen, ihnen werden Optionen genommen, so zu arbeiten, wie sie es vorziehen. In ihrem Essay für das Verfassungsblog schreibt Juristin Teresa Katharina Harrer von einem „De facto“-Berufsverbot.
In Deutschland hat der „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen“ (kurz BesD) aufgeschrieben, welche Art von staatlichem Schutz sich Sexarbeiter*innen stattdessen wünschen. Unter anderem eine Krankenversicherung durch die Künstlersozialkasse, Arbeitsvisa für Sexarbeitende aus Drittstaaten oder eine Aufnahme von Sexarbeit ins Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das Menschen vor Diskriminierung schützt. Denn ja: Sexarbeiter*innen sind eine marginalisierte und diskriminierte Gruppe in der Gesellschaft – und Gesetze wie das Nordische Modell sind Ausdruck dieser Diskriminierung.
Dieses Modell jetzt auch noch ins Internet auszuweiten, also auf sexuelle Handlungen „aus der Ferne“, wird für Sexarbeiter*innen nichts verbessern. Die konkreten Folgen beschrieb jüngst Yigit Aydin von der ESWA im Interview mit netzpolitik.org: Betroffene würden ihre Accounts verlieren, ihre Inhalte würden noch mehr von Online-Plattformen verdrängt. Um über die Runden zu kommen, müssten sie sich andere, womöglich gefährlichere Optionen suchen müssen. Unterm Strich verstärkt das die Entwicklungen, die Sexarbeiter*innen im Netz bereits kennen, wenn Plattformen wie Twitter und Instagram ihre Profile löschen oder Zahlungsdienstleister wie PayPal ihnen ihre Dienste verwehren.
„Dieses Gesetz wird weit über Schweden hinaus Auswirkungen haben“
Überraschung: Sexarbeit ist ArbeitVerfechter*innen des Nordischen Modells führen gerne an, dass Sexarbeit selbst bei guten Arbeitsbedingungen anstrengend und fordernd sein kann. Dass auch Sexarbeiter*innen Tage haben, an denen sie lieber Urlaub machen würden. Gegenfrage: Auf welche Arbeit trifft das nicht zu? Seit wann muss der Staat sicherstellen, dass Erwerbsarbeit Genuss und Erfüllung darstellt – und welche Branchen müsste sich ein solcher Staat als nächstes vorknöpfen?
Wer aus feministischer Perspektive Menschen in körperlich fordernden Arbeitsverhältnissen schützen möchte, hätte eine Menge Ansatzpunkte. Man könnte beispielsweise etwas tun für Menschen, die sich in der Pflege oder Gebäudereinigung den Rücken kaputt machen oder sich in Kitas bis zum Burn-out abarbeiten. Die staatlichen Maßnahmen wären dann aber keine Kriminalisierung von Kund*innen, sondern bessere Arbeitsbedingungen, besseres Einkommen, bezahlbarer Wohnraum.
Nein, Sexarbeit ist keine feministische Utopie, weder online noch offline. Sie hat wenig mit Emanzipation zu tun. Das muss sie aber auch nicht. Sie ist eine Form von Arbeit in einer Welt, in der Menschen eben ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um Geld zu verdienen und sich versorgen zu können. Und idealerweise können sie ihren Beruf dabei frei wählen.
Für einige Menschen ist Sexarbeit eben die beste Möglichkeit unter vielen – mehr oder weniger anstrengenden –Möglichkeiten im Kapitalismus, und sie entscheiden sich, diese zu nutzen. Damit sind sie Teil einer Gig-Economy, die gewisse Formen von Selbstständigkeit und Flexibilität verspricht und zugleich wenig Absicherung bietet.
Vorwand für staatliche ÜberwachungWer Seiten wie OnlyFans oder StripChat losgelöst von sonstigen gesellschaftlichen Verhältnissen betrachtet und primär als Orte der Unterdrückung zeichnet, aus denen Sexarbeiter*innen befreit werden müssen, der erliegt entweder einem Irrtum – oder verfolgt andere, politische Ziele. Gerade für letzteres gäbe es durchaus Anreize. Ein Gesetz wie das in Schweden gibt Behörden Anlass und Befugnisse, digitale Kommunikation und Zahlungsströme zu überwachen, auf der Suche nach strafbaren Online-Sexkäufen. Vor diesem Szenario warnt etwa auch die Organisation ESWA.
Es wäre ein weiteres Beispiel für die Ausweitung staatlicher Überwachung im Netz, die den Schutz einer vulnerablen Gruppe zum Vorwand nimmt. Wir kennen das Spiel von Chatkontrolle & Co.
Die langjährige Erfahrung, wie Staaten mit Online-Überwachungsbefugnissen umgeht, zeigt: Sobald Daten erst einmal in Reichweite sind, wecken sie Begehrlichkeiten, auch über den ursprünglichen Zweck hinaus. Die Verlierer*innen solcher Gesetzgebung sind damit nicht nur Anbieter*innen und Kund*innen von Sexarbeit, sondern alle, die sich ein Internet ohne ständige Überwachung wünschen.
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Hand in Hand versucht die US-Regierung und der Satellitenanbieter Starlink, das Unternehmen des Regierungsberaters Elon Musk im Globalen Süden weitflächig auf den Markt zu bringen. Dabei scheint der Rechtsaußen-Regierung jedes Mittel recht zu sein.
Multimilliardär, US-Regierungsberater und rücksichtsloser Rechtsradikaler: Elon Musk baut seine Macht mit allen Mitteln aus. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / SOPA ImagesGambia steht vor der Wahl: Entweder das kleine Land an der westafrikanischen Küste lässt Elon Musks Satellitenunternehmen Starlink ins Land oder es gibt Probleme mit der US-Regierung.
Offenbar mit einer Stimme drohen derzeit US-Außenminister Marco Rubio, US-Botschafterin Sharon Cromer und das Unternehmen des Milliardärs einem der ärmsten Länder der Welt, wie ProPublica berichtet: Erhält Starlink keine Lizenz, um in Gambia als Internetanbieter zu operieren, könnten die USA beispielsweise ein Hilfsprojekt für die Verbesserung der Stromversorgung im Land einfrieren. Oder sie schließen die US-Botschaft.
„Maximaler Druck“ werde auf die Regierung Gambias ausgeübt, damit sie endlich einlenkt, schreibt ProPublica unter Berufung auf Diplomatische Korrespondenz, anonyme Quellen sowie einen ranghohen Mitarbeiter des zuständigen Ministeriums.
Nachdem etwa ein Treffen in Washington zwischen Vertreter:innen von Starlink und des Kommunikationsministeriums im März hitzig und letztlich ergebnislos verlaufen war, platzte überraschend ein danach angesetztes Meeting im Außenministerium – augenscheinlich abgesagt von Starlink und nicht von der US-Regierung.
Am gleichen Tag wandte sich ProPublica zufolge die US-Botschafterin an den Präsidenten von Gambia: Auf drei Seiten habe sie die Vorzüge des privaten Satellitennetzwerks beworben und wie Gambia davon profitieren könne. „Ich bitte Sie respektvoll, die notwendigen Genehmigungen für die Aufnahme des Starlink-Betriebs in Gambia zu erteilen“, soll sie gefordert haben.
Staat und Privatwirtschaft aus einer HandEine derartige Verquickung staatlicher und privater Interessen hat es seit langem nicht gegeben. Schließlich ist Musk nicht nur Unternehmer, sondern auch einflussreicher Berater der US-Regierung. Rund 300 Millionen US-Dollar hat er in den vergangenen Wahlkampf gesteckt, um Donald Trump ins Amt zu hieven. Als Belohnung erhielt er massiven Einfluss auf die US-Regierung, zerlegt mit seinem DOGE-Gremium staatliche Strukturen, klemmt humanitäre Projekte ab – und versucht dabei sicherzustellen, dass seine eigenen Firmen möglichst viel davon profitieren.
Gambia ist bei weitem nicht das einzige Land, das sich mit solchen Erpressungstaktiken herumschlagen muss. Ähnliches spielte sich unter anderem in Lesotho, Kamerun oder Somalia ab. Auch abseits des afrikanischen Kontinents war die US-Regierung oft genug damit erfolgreich, zumal der von Trump losgetretene Handelskrieg hinzukommt: Zumindest teilweise eingeknickt sind etwa Indien, Pakistan oder Bangladesch.
Das Muster wiederholt sich: „Während die Regierung von Lesotho über ein Handelsabkommen mit den Vereinigten Staaten verhandelt, hofft sie, dass die Lizenzierung von Starlink ihren guten Willen und ihre Bereitschaft zeigt, US-Unternehmen willkommen zu heißen“, heißt es in einem internen Memo des US-Außenministeriums, berichtete die Washington Post.
Neue Form des KolonialismusIn Infrastrukturfragen befinden sich viele Länder des Globalen Südens in der Klemme. Laut Vereinten Nationen herrscht beim Internetzugang bis heute eine große Spaltung, der sogenannte Digital Divide, zwischen armen und reichen Ländern vor. Tech-Konzerne wie Google, Meta, Amazon oder Starlink drängen sich mit ihren Infrastrukturangeboten als Problemlöser auf, vermarkten ihre Initiativen als Rettung für unterversorgte Gebiete und bauen dabei langfristige Abhängigkeiten auf.
Gambia beispielsweise hat erst vor knapp einem Jahrzehnt sein autoritäres System abgeschüttelt, fast die Hälfte der knapp 2,5 Millionen Einwohner:innen lebt der Weltbank nach von weniger als 4 US-Dollar pro Tag. Trotz der begrenzten Ressourcen spielt das Internet eine immer wichtigere Rolle: Mindestens die Hälfte der Bevölkerung nutzt regelmäßig das Netz, was über dem afrikanischen Durchschnitt liegt.
Inzwischen hat sich der Telekommunikationsmarkt zu einem der wichtigsten Sektoren im landwirtschaftlich geprägten Gambia entwickelt. Gleich vier Mobilfunkbetreiber, einer davon staatlich, haben der Regulierungsbehörde Pura zufolge im Jahr 2020 insgesamt 2,7 Millionen Anschlüsse zur Verfügung gestellt, dazu kam der Staatsmonopolist mit knapp 50.000 Festnetzanschlüssen. Der Regierung nach soll allein dieser Sektor mehr als 20 Prozent der Steuereinnahmen ausmachen, schreibt ProPublica.
Warum Musk derart aggressiv versucht, in diesen Markt einzusteigen, bleibt unklar. Allerdings gehe aus internen Dokumenten des US-Außenministeriums hervor, dass es Starlink einen Startvorteil verschaffen will: Wer als erster einen Markt besetzt, ist anschließend nur schwer wieder zu verdrängen. Hinzu komme der Versuch, den wachsenden Einfluss Chinas in vielen Weltregionen einzudämmen.
Markt besetzen, Preise erhöhenDabei scheint es keine grundsätzliche Ablehnung der Regierung in Gambia gegenüber Starlink zu geben. Umgekehrt soll sich das Unternehmen jedoch etwa geweigert haben, die anfallende Lizenzgebühr von 85.000 US-Dollar zu zahlen. Begonnen hat dieser Genehmigungsprozess bereits unter Trumps demokratischem Vorgänger Joe Biden, den Druck erhöht hatte aber erst die neue republikanische Administration.
Dass eine sorgfältige Abwägung notwendig ist, zeigt nicht zuletzt Starlinks Auftreten in Nigeria. Dort war der US-Anbieter Anfang 2023 in den Markt eingestiegen und schaffte es innerhalb kurzer Zeit, zum zweitgrößten Netzanbieter aufzusteigen. Ende des Vorjahres versuchte das Unternehmen, an jeder Regulierung vorbei, die Preise um 50 Prozent zu erhöhen. Es ist eine Taktik, wie man sie von anderen Tech-Unternehmen wie beispielsweise Uber kennt. Den drastischen Preisanstieg konnte Starlink zwar zunächst nicht durchsetzen, im Januar genehmigte ihn die nigerianische Regulierungsbehörde mit Verweis auf die hohe Inflationsrate letztlich doch.
Zukunftsmarkt SatelliteninternetInternetversorgung über Satelliten im erdnahen Orbit gilt als rasant wachsender Zukunftsmarkt, neben Starlink sind etwa auch Amazon oder der französisch-britische Anbieter Eutelsat OneWeb eingestiegen. Selbst wenn die Technik nicht mit kabelgebundenen Leitungen wie Glasfaser konkurrieren kann, lassen sich durch die verhältnismäßig geringe Distanz zur Erde akzeptable Bandbreiten und Latenzzeiten realisieren. In manchen Fällen kann die Versorgung über Satellit zudem billiger sein, als aufwändige Bauarbeiten durchzuführen.
Auch im reichen Deutschland wird der Anbieter deshalb punktuell für eine Mindestversorgung mit Internet herangezogen, wenn der traditionelle Ausbau wirtschaftlich nicht rentabel ist. Außerdem nutzen Behörden wie die Bundespolizei, die Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich und das Bundeskriminalamt die Satellitentechnik des US-Multimilliardärs.
Gefährliche AbhängigkeitSich vom rechtsradikalen Firmenchef Elon Musk abhängig zu machen, der weltweit Gesinnungsgenossen wie die AfD unterstützt, dürfte indes keine gute Idee sein. Vor grundsätzlichen Problemen dieser Art warnte bereits vor Jahren eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Konkret ablesen lässt sich das etwa an der Ukraine, die sich seit gut drei Jahren gegen den russischen Aggressor verteidigt und kaum ohne die Technik auskommt. Bereits mehrfach wurde das Land in kritischen Kriegsphasen von plötzlichen Ausfällen und regionalen Beschränkungen überrascht. Nach Drohungen auf seinem Kurznachrichtendienst X und folgenden diplomatischen Schlagabtäuschen sah sich Musk zuletzt im März gezwungen zu versichern, Starlink nicht weiter als Druckmittel benutzen.
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Der netzpolitik.org-Gründer will mit einer neuen NGO für digitale Grundrechte schnell auf Kommunikation von Big Tech reagieren und damit der Zivilgesellschaft eine Stimme geben. Das sind seine Pläne.
Hat keine Angst vor den Großen: Markus Beckedahl. (Hier mit dem damaligen Digital- und Verkehrsminister Volker Wissing.) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Mike SchmidtDer Gründer und ehemalige Chefredakteur von netzpolitik.org, Markus Beckedahl, gründet eine neue Organisation für digitale Grundrechte. Das neu geschaffene „Zentrum für Digitalrechte und Demokratie“ will sich auf strategische Kommunikation im Themenfeld spezialisieren und versteht sich als zivilgesellschaftlicher Konkurrent zur Kommunikation von Industrieverbänden wie der Bitkom.
Solche Lobbyverbände stünden bei aktuellen Ereignissen immer schon mit Statements und Pressemitteilungen parat, erklärt Beckedahl. Oft habe dem die Zivilgesellschaft nicht so schnell etwas entgegenzusetzen. Dadurch entstünde oft ein Nachteil für die Zivilgesellschaft in gesellschaftlichen Debatten. Es brauche aber öffentlichen Druck, Gegenmeinungen und neue Narrative, damit sich etwas zum Besseren verändert.
Diese Lücke will der Medienprofi und notorische Internet-Erklärer füllen mit einer Organisation, die sich auf „Rapid Response“, also auf schnelle Reaktionen, versteht. Dafür hat er zusammen mit Campact eine gemeinnützige GmbH gegründet. Campact-Vorständin Astrid Deilmann sagt dazu, ihr Verein möchte damit ein kluges Projekt unterstützen, das die Demokratie verteidige.
Für erst einmal drei Jahre sei das „gemeinwohlorientierte Start-up“ finanziert, erklärt Beckedahl. Es sollen Spenden, Kooperationen und weitere Förderungen dazukommen. Zu Beginn will die NGO ihre Arbeit mit zwei Festangestellten und einigen freien Mitarbeiter:innen aufnehmen.
Schnelle Eingreiftruppe für digitale GrundrechteEin thematischer Fokus des Zentrums soll dabei Big Tech sein, also die großen Konzerne wie Meta oder Google, die das Internet und die Realität vieler Menschen prägen. „Ich sehe mit Sorge, wie die großen Plattformen zu politischen Akteuren werden, aber ohne demokratische Kontrolle, dafür mit enormer Macht über Meinungsbildung und Debatten“, sagt Beckedahl. Doch auch zu anderen Themen will sich die NGO äußern, wenn es passt.
Die neue Organisation will Ansprechpartner für Journalist:innen sein und eine Art Mediendienst etablieren, in dem es verlässliche Einordnungen liefert, aber auch konstruktive Lösungsansätze. „Wir haben viel zu oft immer nur gesagt, was nicht gut ist, aber zu selten gesagt, was stattdessen funktioniert“, sagt Beckedahl gegenüber netzpolitik.org. Das Aufzeigen von Alternativen soll deswegen immer ein Teil der Kommunikation sein. Im Auge habe man bei der Kommunikation auch die zahlreichen Digitalreferent:innen, ob in Unternehmen, Behörden, Organisationen und Kommunen.
„Für gesellschaftliche Mehrheiten einsetzen“Außerdem will die neue NGO mit Partnern zusammenarbeiten, die sich außerhalb der klassischen netzpolitischen Bubble bewegen. Gerade mit ungewöhnlichen und breiten Bündnissen könnten digitale Grundrechte Erfolg haben, so Beckedahl. „Wir wollen uns für gesellschaftliche Mehrheiten für eine gemeinwohlorientierte Digitalpolitik einsetzen.“
Markus Beckedahl hat in den vergangenen beiden Jahrzehnten die digitale Szene in Deutschland maßgeblich mitgeprägt und steht für die Verbindung von Digitalisierung und Grundrechten. Neben netzpolitik.org gründete er auch den Verein „Digitale Gesellschaft“ mit sowie die Netz-Konferenz re:publica.
Auf der diesjährigen re:publica, die kommende Woche stattfindet, wird das neue Zentrum für Digitalrechte an den Start gehen. Zunächst will Beckedahl mit seinem Team etwas experimentieren und nach dem Sommer dann richtig loslegen. Oder, wie er sagt: „Knöpfe drücken und schauen, was passiert“.
Offenlegung: Markus Beckedahl hat netzpolitik.org gegründet und war langjähriger Chefredakteur. Er hat netzpolitik.org im Frühling 2024, zwei Jahre nach der Übergabe an ein neues Chefredaktionsteam, verlassen. Zwischen netzpolitik.org und dem Zentrum für Digitalrechte und Demokratie bestehen keine finanziellen oder personellen Verbindungen.
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Ein Demonstrant hatte sich bei einem Protest mit einer Overheadfolie vor Pfefferspray geschützt. Dafür wurde er von deutschen Gerichten wegen „Schutzbewaffnung“ verurteilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht in den Urteilen einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention.
Ein Polizist setzt Pfefferspray ein am 1. Mai 2022 in Berlin. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Marius SchwarzDer Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat nach einem zehn Jahre dauernden Rechtsstreit einem Demonstranten Recht gegeben, der bei den Protesten gegen die Europäische Zentralbank im Jahr 2015 ein selbstgebasteltes Visier in Form einer Plastikfolie dabei hatte – und dafür in Deutschland verurteilt worden war. Die deutschen Gerichte hatten die Plastikfolie als sogenannte Schutzbewaffnung eingestuft. Dies sah das Europäische Gericht nun anders: Die deutschen Gerichte hätten nicht dargelegt, warum das Tragen eines provisorischen Visiers eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle.
Rechtsanwalt Mathes Breuer, der den Demonstranten verteidigt hatte, sagt: „Das heutige Urteil stärkt die Versammlungsfreiheit. Wer auf Versammlungen nur sich selbst schützen will, ohne jemanden zu gefährden, darf deshalb nicht bestraft werden. Der Gesetzgeber muss nun das Urteil umsetzen und das Versammlungsgesetz dringend reformieren.“
„Urteil stärkt die Versammlungsfreiheit“Laut dem Anwalt hatte das Bundesverfassungsgericht im März 2020 eine Klage seines Mandanten Benjamin Ruß abgelehnt. Der reichte daraufhin im September 2020 Klage in Straßburg ein. Zuvor war er durch das Landgericht Frankfurt wegen Schutzbewaffnung auf einer Kundgebung zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Das Oberlandesgericht Frankfurt hatte das Urteil damals bestätigt.
Die Frankfurter Staatsanwaltschaft hatte dem Demonstranten die Konstruktion aus einer Overhead-Folie und einem Gummiband als sogenannte Schutzbewaffnung ausgelegt. Der EGMR stellte nun fest, dass die Urteile gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen.
Das Urteil könnte laut dem Klagenden und seinem Anwalt Auswirkungen auf die Versammlungsfreiheit in Deutschland haben. In der Pressemitteilung heißt es, dass die Mehrheit der deutschen Gerichte § 17a Absatz 1 des Versammlungsgesetzes bisher dahingehend interpretiert habe, dass jeder Gegenstand, mit dem sich Versammlungsteilnehmer schützen wollen, verboten sei – unabhängig davon, ob andere dadurch gefährdet werden oder nicht. Dieser Ansicht habe der EGMR eine deutliche Absage erteilt und festgestellt, dass diese Interpretation gegen die Versammlungsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoße.
Kritik an PfeffersprayeinsätzenDie Praxis der Plastikfolien mit Gummiband war eine Zeit lang bei Aktionen des zivilen Ungehorsams üblich, um sich vor Pfefferspray durch die Polizei zu schützen. Der Einsatz von Pfefferspray gegen Demonstrierende wird seit Langem von Menschenrechtsorganisationen kritisiert. Amnesty International monierte unter anderem den unverhältnismäßigen Einsatz der Reizstoffe.
In kriegerischen Auseinandersetzungen ist der Einsatz von Pfefferspray laut dem Genfer Protokoll verboten. Anders ist die rechtliche Situation beim Gebrauch durch die Polizei gegen Zivilisten in Deutschland. Er ist recht lax geregelt, wird häufig rechtswidrig eingesetzt und es gibt zudem unzureichende Dokumentationspflichten für die Beamt:innen. Dabei können die chemischen Stoffe gefährliche gesundheitliche Schäden verursachen.
Das kritisiert auch Benjamin Ruß: „In Deutschland gilt Straffreiheit für Polizeibeamte, die Pfefferspray auf Versammlungen völlig willkürlich einsetzen. Mit diesem Urteil wird klargestellt: Schutz gegen Polizeiwillkür ist ein Menschenrecht.“
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Bei der Fußball-Europameisterschaft testete die Polizei eine neue Software für Großveranstaltungen, die Bewegungen von Menschenmassen simuliert. In Zukunft möchte sie die Software mit Echtzeit-Daten nutzen. Fußballfans kritisieren das Projekt.
Beim Fußball und bei Volksfesten wurde die Software schon eingesetzt. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Arnulf HettrichVor rund sieben Monaten endete die Fußball-EM in Deutschland. Diese brachte nicht nur fragwürdige Hand-Elfmeter und faschistische Handgesten – sondern auch die Weiterentwicklung einer neuen Polizei-Software. Mit dieser simuliert die Polizei das Verhalten von Menschenmassen bei Großveranstaltungen.
Interne Unterlagen, Pressemitteilungen und Antworten auf unsere Nachfragen zeigen: Das Projekt ESCAPE Pro soll nur ein Zwischenschritt sein. Am Ende soll eine Software stehen, die Daten wie etwa Kamerabilder und Mobilfunk-Daten bei Events analysiert: Damit könnte Crowd-Control in Echtzeit möglich sein.
Wie Menschenmassen reagierenBeim Forschungsprojekt „ESCAPE Pro“ geht es um Personenstromsimulationen, also computergestützte Simulationen von Menschenmassen und wie diese sich verhalten und bewegen. Bei der Polizei ist diese neue Form von Crowd-Control spätestens seit dem Jahr 2020 ein Thema. Damals startete das Programm ESCAPE, der Vorgänger von ESCAPE Pro.
Warum braucht die Polizei überhaupt so eine Software? Eine Sorge, die hinter ESCAPE stand: Wie reagieren Menschenmassen, wenn eine Großveranstaltung geräumt werden muss? Und was passiert, wenn man nicht nur ein Stadion räumen muss, sondern gleichzeitig noch ein Volksfest davor?
Im ESCAPE-Projekt versuchten verschiedene Polizeien zusammen mit der accu:rate GmbH und dem Fraunhofer-Institut Simulationsmodelle in verschiedenen Größen zu kombinieren. Die dort weiterentwickelte Software („crowd:it“) wurde dann im Rahmen des Folgeprojekts ESCAPE Pro bei der Europameisterschaft der Männer 2024 in verschiedenen Städten getestet. Das Ziel: Die Software in die Polizeiplanung integrieren und die Anwenderfreundlichkeit verbessern. Außerdem sollte so die Einsatzplanung bei der EM verbessert werden. Federführend war das Polizeipräsidium Stuttgart.
Die weiteren Projektteilnehmer und Partner laut Projektwebsite:
Die Modelle und Simulationen werden bei der Software im Vorfeld der Veranstaltung erstellt. „Da die Software mit Annahmen aus der Wissenschaft arbeitet und weder aktuelle Mobilfunk- noch aktuelle Videodaten verarbeitet werden, werden keinerlei Daten von Besuchenden erhoben“, so die Polizei Stuttgart auf eine Anfrage von netzpolitilk.org.
Die Bewegungsmuster basieren laut Polizei Stuttgart auf Beobachtungen, Feld- und Laborexperimenten. Viele technische Details bleiben allerdings offen. So ist auch unklar, wie genau die zu simulierenden Räume (beispielsweise ein Fußballstadion oder das Gelände eines Volksfestes) digitalisiert werden. Auf eine entsprechende Anfrage von netzpolitik.org antwortete die Polizei Stuttgart nicht.
Die bei den Projekten (weiter)entwickelte Software „crowd:it“ bringt laut Polizei großen Nutzen: Die Software stelle bei Großveranstaltungen etwa Engstellen, Staus und ungenutzte Flächen im Falle einer Räumung anschaulich dar, schreibt die Polizei Stuttgart auf Anfrage. „Darüber hinaus ergeben Auswertungen zu Räumungszeiten und Laufwegen neue Erkenntnisse, die in die polizeiliche Einsatzplanung für Ad-hoc-Lagen einfließen können.“ Die Polizei will so genaueres Wissen über Räumungszeiten und die Platzierung von Polizist:innen auf dem jeweiligen Gelände bekommen.
Doch wie groß ist der Nutzen für den Polizeialltag wirklich? Für diese Frage war im Projekt die Deutsche Hochschule für Polizei zuständig. Wie aus der Abschlusspräsentation hervorgeht, war es die Aufgabe der Polizeihochschule einen „Ergebnisbericht in Bezug auf Einsatzfähigkeit, Praxistauglichkeit und Leistungsfähigkeit auf Grundlage der Evaluationsergebnisse“ zu erstellen. Wir haben diesen Bericht angefragt, jedoch keine Antwort auf unsere Presseanfrage erhalten.
Ziel: Analysen in EchtzeitNeben dem aktuellen Nutzen verfolgt die Polizei mit dem Projekt noch ein langfristigeres Ziel: Analysen von Menschenmassen in Echtzeit. Simulationen zum Verhalten von Menschen also nicht nur im Vorfeld von Großveranstaltungen, sondern mit den Daten echter Menschen, während sie auf dem Volksfest, Festival oder rund um das Stadion unterwegs sind. Dieser Wunsch durch die Polizei ist gut dokumentiert. So heißt es in einem Handout zum Projekt:
„Noch arbeitet die Simulation nicht mit Echtzeitdaten. Mittelfristiges Ziel ist es jedoch, ESCAPE PRO zu einer Echtzeitsimulation fortzuentwickeln. Dieser technologische Quantensprung würde die Informationen für die polizeiliche Beurteilung der Lage revolutionieren und die darauf basierenden polizeitaktischen Entscheidungen auf eine belastbarere Datengrundlage stellen.“
Auch im internen Protokoll des Projektabschlusstreffens wird von einem „Zwischenschritt in Richtung Echtzeit“ gesprochen. Das Protokoll sowie zwei Präsentationen zum Projektabschluss hat netzpolitik.org über eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz erhalten.
Bis es soweit kommt, so schreibt es uns zumindest die Polizei Stuttgart, müsse noch weiter geforscht werden. „Eine Analyse in Echtzeit ist aus technischer Sicht zum aktuellen Stand der Technik aufgrund der für die Simulation benötigten Rechenzeiten nicht möglich.“ Eine mögliche Lösung sieht die Polizei Stuttgart im Einsatz von künstlicher Intelligenz, welche die Rechenzeiten der Simulationen verkürzen könne.
Potenzielle Datenquellen: Drohnen, Kameras, AppsDoch für Echtzeit-Analysen müssen Daten erst einmal erhoben und zusammengeführt werden. An potenziellen Datenquellen mangelt es der Polizei nicht. Bei der EM übermittelte eine UEFA-App bereits den Live-Standort von Fans an die Polizei, zudem lässt die Polizei zur Videoüberwachung zunehmend Drohnen fliegen. Auf Anfrage bestätigt die Polizei Stuttgart, dass theoretisch „Videokameras, Drohnen oder Mobilfunkdaten“ einbezogen werden könnten. Vorteile und Herausforderungen müsse man aber im Rahmen weiterer Forschung abwägen, „insbesondere unter der Berücksichtigung der Genauigkeit, der Zuverlässigkeit, aber auch des Datenschutzes“.
Neben den verschiedenen Datenquellen ist unklar, ob die aktuelle Menge an Videoüberwachung ausreichen würde – oder ob die Polizei noch mehr Daten für die Echtzeit-Analysen braucht. Polizei-dein-partner.de, ein Portal der Gewerkschaft der Polizei (GdP), schreibt in einem Bericht aus dem vergangenen Jahr: „Die Software kann nur dort zum Einsatz kommen, wo viele Überwachungskameras installiert sind, die den gesamten infrage kommenden Bereich erfassen.“ Die Polizei Stuttgart distanziert sich von dem Bericht auf dem GdP-Portal, die dort beschriebene Funktionsweise könne man nicht bestätigen.
Datenschützer nicht informiertSowohl die Bundesdatenschutzbeauftragte, als auch der Landesbeauftrage für Datenschutz in Baden-Württemberg hatten bisher keine Kenntnis vom Projekt. Der Landesdatenschutzbeauftrage für Baden-Württemberg schreibt, man könne darum keine Bewertung vornehmen, aber: „Uns erscheint es nicht abwegig, anhand von Simulationen mögliche Risiken bei Großveranstaltungen zu identifizieren.“
Inwieweit personenbezogene Daten genutzt würden für Vorbereitung und Durchführung der Simulation, könne man nicht beurteilen. „Wir nehmen Ihre Anfrage zum Anlass und gehen auf das Polizeipräsidium Stuttgart zu, um uns zu informieren.“ Zur möglichen Erweiterung der Software auf Echtzeit-Simulationen äußern sich die beiden Beauftragten nicht.
Fußballfans in Sorge wegen noch mehr ÜberwachungOrganisierte Fananwält:innen kritisieren das Forschungsprojekt: „Mit großer Besorgnis“ nehme man zur Kenntnis, dass die Polizei die Software zum gegenwärtigen Stand in den Polizeialltag integrieren will und langfristig auf eine Echzeit-Lösung kommen will. „Diesen Gelüsten der absoluten Überwachung und Kontrolle ist sowohl als Fan als auch als Bürger vehement zu widersprechen!“, schreibt der Dachverband der Fanhilfen auf unsere Anfrage.
Die Fußballfans kritisieren das Projekt als intransparent. So seien vertragliche Details zwischen dem Software-Hersteller accu:rate und den Polizeien nicht öffentlich, ebenso auch nicht die genauen Szenarien, die die Polizei simuliert. Auch in den von uns angefragten IFG-Dokumenten ist viel geschwärzt. Dazu schreiben die Fananwält:innen: „Als Fanhilfe stehen wir dieser Software-Einführung äußerst kritisch gegenüber, zumal die genaueren Szenarien uneindeutig bleiben und somit auch die anzunehmenden Folgen hinsichtlich weitgehender Grundrechtsverletzungen.“
Einsatz auch bei Demonstrationen?Wie genau die Software in den Polizei-Alltag integriert werden soll, ist nicht bekannt. Laut den internen Dokumenten der Abschlussbesprechung hat das Polizeipräsidium Stuttgart drei Varianten vorgeschlagen: Bei der ersten erstellt die Polizei alle Simulationsszenarien selbst, bei der zweiten wird eine „Grundsimulation“ durch Externe erstellt, auf welcher dann weitere Szenarien der Polizei basieren, bei der dritten Variante werden die Simulationen vollständig outgesourct.
Ebenso unklar bleibt, wofür genau die Software in Zukunft eingesetzt werden soll. Neben Fußballspielen wurde die Software bisher unter anderem auch bei einem Volksfest und einem Weihnachtsmarkt in Stuttgart getestet. Als „weitere prozessorientierte Anwendungsfelder“ nennt die Polizei Stuttgart in ihrer Abschlusspräsentation zum Projekt „Fanwalks“, „Einlasszenarien“ und „Versammlungslagen“. Mit „Versammlungslagen“ könnte auch ein Einsatz bei Demonstrationen und Protesten gemeint sein. Auf eine entsprechende Nachfrage von netzpolitik.org hat die Polizei Stuttgart nicht geantwortet.
Laut den Abschlussdokumenten soll es in Zukunft ein weiteres Forschungsprojekt geben. Dieses sei aber noch nicht beantragt, „da im Hinblick auf eine neue Projektskizze noch verschiedene Punkte abgestimmt werden müssen“, erklärt die Polizei Stuttgart. Die bisherigen Projekte wurden vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Sicherheitsforschung gefördert, ESCAPE Pro mit etwa einer Million Euro.
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Ein ungarischer Fotojournalist wurde per Staatstrojaner überwacht und wollte vor Gericht erfahren, warum. Seine Klage wurde ohne nähere Begründung abgewiesen – zu Unrecht, wie das ungarische Verfassungsgericht nun urteilte.
Ungarns Justizminister Bence Tuszon darf die Überwachung mit Staatstrojanern anordnen. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Martin BertrandEin Betroffener staatlicher Überwachung in Ungarn hat einen Teilerfolg vor Gericht erzielt. Vor vier Jahren wurde bekannt, dass Ungarn Investigativjournalist:innen, Anwält:innen und Aktivist:innen mit dem Staatstrojaner Pegasus ausgespäht hatte. Einer von ihnen, der Fotojournalist Dániel Németh, bekam nun Rückenwind vom ungarischen Verfassungsgericht. Demnach wurde sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt, weil ihm Auskünfte zur Überwachungsmaßnahme ohne nähere Begründung verweigert wurden.
Németh dokumentiert seit Jahren den luxuriösen Lebensstil der ungarischen Führungselite und begleitet sie mit seiner Kamera auf ihren Reisen. Auf diese Weise geriet er offenbar ins Visier des Staats. Sicherheitsforscher:innen des kanadischen Citizen Lab bestätigten, dass zwei seiner Telefone mit Pegasus überwacht wurden. Also verlangte Németh vom Verfassungsschutz Auskunft darüber, welche Daten über ihn gespeichert wurden und warum er überhaupt als Gefahr für die nationale Sicherheit behandelt wurde.
Der ungarische Geheimdienst hatte seine Anfrage unter Verweis auf ein Gesetz zur nationalen Sicherheit abgelehnt; Németh zog vor Gericht. Doch das Budapester Landgericht hat seine Klage abgewiesen – aus formalen Gründen. Es sah sich nicht befugt, darüber zu urteilen, ob die Ablehnung begründet sei.
Das Verfassungsgericht urteilte jetzt, dass dieses Vorgehen verfassungswidrig war und hob das Urteil auf. Das Landgericht hätte in der Sache prüfen müssen, ob eine Ablehnung von Némeths Auskunftsanspruch unter Berufung auf die nationale Sicherheit tatsächlich gerechtfertigt und verhältnismäßig sei. Ein Grundrecht – wie das Recht einer Person zu erfahren, welche Daten der Staat über sie gesammelt hat – dürfe nur eingeschränkt werden, wenn dies wirklich notwendig sei. Diese Überprüfung sei hier ausgeblieben.
NGO sieht keinen Grund zum FeiernDie Hungarian Civil Liberties Union (HCLU) warnt jedoch davor, dieses Urteil als Durchbruch zu feiern. „Die Entscheidung zeigt definitiv nicht, dass der Rechtsstaat in Ungarn gut funktioniert“, sagt der zuständige Jurist Ádám Remport. Das Verfassungsgericht habe lediglich an seiner früheren Position in dieser Frage festgehalten. Schon 2014 hatte es geurteilt, dass Gerichte inhaltlich prüfen müssten, ob eine Ablehnung unter Berufung auf die nationale Sicherheit im Einzelfall begründet sei.
Das Urteil bedeute auch nicht, dass der Geheimdienst die Daten über Németh nun offenlegen müsse. Eher geht es dem Juristen zufolge um ein absolutes rechtsstaatliches Minimum: Gerichte dürfen sich nicht über ein Urteil in solchen Fällen drücken – denn das würde die Berufung der Nachrichtendienste auf die nationale Sicherheit von jeder Kontrolle ausnehmen.
Die Menschenrechtsorganisation vertritt insgesamt sieben Betroffene, deren Geräte in Ungarn mit Pegasus überwacht oder ins Visier genommen wurden und koordiniert ihre Fälle. Darunter sind der Investigativjournalist Szabolcs Panyi, der den Überwachungsskandal in Ungarn selbst mit aufgedeckt hat und die Anwältin Ilona Patócs.
Ungarns Geheimdienste können nahezu unbegrenzt überwachenMit der strategischen Prozessführung in diesen Fällen will die HCLU nicht nur die Rechte der Einzelnen durchsetzen. Sollten alle Beschwerden und Klagemöglichkeiten, die das ungarische Recht für die Betroffenen vorsieht, ausgeschöpft sein, würden die Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMGR) in Straßburg landen. Der könnte dann erneut feststellen, dass die ungarische Rechtslage keine ausreichenden Kontrollmechanismen für die betroffenen Personen vorsieht.
Die HCLU warnt seit Langem davor, dass die Geheimdienste in Ungarn über nahezu unbegrenzte Überwachungsbefugnisse verfügen. Statt einer unabhängigen Stelle genehmigt der Justizminister oder die Justizministerin die Überwachung und entscheidet über ihre Rechtmäßigkeit. Eine externe Kontrolle der Entscheidungen ist nicht vorgesehen und betroffene Personen haben keine Möglichkeit zu erfahren, ob ihre Daten unrechtmäßig erhoben wurden, und somit auch keinen Zugang zu Rechtsmitteln.
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Mark Zuckerberg will wieder mal an unsere Daten – dieses Mal um seine KI zu trainieren. Bis zum 26. Mai ist Widerspruch möglich: Wir erklären, warum das eine gute Idee ist, und zeigen, wie es funktioniert.
Freut sich über neue Daten: Meta-Chef Mark Zuckerberg. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ZUMA Press WireIm Wettrennen der Tech-Konzerne um die Vorherrschaft bei Künstlicher Intelligenz ist Mark Zuckerbergs Meta abgeschlagen. Jetzt sollen wir alle ausgepresst werden, um sein Unternehmen wieder konkurrenzfähig zu machen. Der Milliardär will alle öffentlichen Äußerungen der Meta-Nutzer:innen zum Trainingsmaterial für Künstliche Intelligenz umfunktionieren.
Posts, Kommentare und Reaktionen auf Facebook und Instagram werden dann zum Beispiel in das große Sprachmodell des Konzerns namens Llama einfließen. Auch der „Meta-AI“ genannte Chat-Bot, der Nutzer:innen seit geraumer Zeit in Form eines penetranten blauen Rings nervt, soll mit ihren Daten trainiert werden.
Wer bis 26. Mai nicht aktiv widerspricht, hängt für immer drin.
Deshalb das Wichtigste zuerst: Wenn Du nur schnell herausfinden willst, wie der Widerspruch funktioniert, dann findest Du einen einfachen Klick-Leitfaden am Ende dieses Artikels.
Solltest Du Dich jedoch noch fragen, warum Du Dir überhaupt die dafür notwendigen Klicks zumuten sollst, um der Nutzung Deiner Daten zu widersprechen, dann kommen hier drei Argumente, die Dich hoffentlich überzeugen.
Löschung unmöglichDa ist als erstes das klassische Datenschutz-Argument. Kernelement des europäischen Datenschutzes sind die sogenannten Betroffenenrechte: Alle sollen jederzeit von Unternehmen verlangen können, dass ihre Daten korrigiert oder gelöscht werden. Bei sogenannter KI ist das technisch nicht möglich. Große Sprach- und Bildmodelle funktionieren heute in der Regel so, dass sich einzelne Daten nicht löschen lassen.
„Trainingsdaten fließen unwiderruflich in KI-Modelle ein, und ihr Einfluss kann nach heutigem Stand der Technik nicht mehr aus dem Modell entfernt werden“, warnt deshalb auch der Hamburger Datenschutzbeauftragte. Zwar könne man später der Datennutzung für Metas KI widersprechen, doch für die bereits eingeflossenen Daten ist es dann zu spät.
Das ist besonders gravierend, weil unklar ist, wie genau Meta die Daten einzelner Nutzer:innen schützen will. Lassen sich in KI-Produkten später mal unsere persönlichen Spuren finden? Wird der Chatbot uns irgendwann damit konfrontieren, welche Inhalte wird vor zehn Jahren geliked oder kommentiert haben? Wird er vielleicht sogar anderen Nutzer:innen oder Strafverfolgungsbehörden davon berichten? Wir wissen es nicht und müssen uns darauf verlassen, dass Meta verantwortungsvoll mit unseren Daten umgeht. Keine Pointe.
KI-Bots als Influencer auf SteroidenSchauen wir als zweites auf das, was Meta mit seinen KI-Produkten erreichen möchte. Mark Zuckerberg hat nämlich das Thema Einsamkeit für sich entdeckt und verspricht uns virtuelle Freund:innen dank KI. Das ist clever, weil der Milliardär seine Produkte als Lösung eines echten Problems vermarktet. Studien zeigen, dass Einsamkeit zugenommen hat, insbesondere unter jungen Menschen. Zuckerbergs Versprechen: Bots sollen es richten, trainiert mit unseren eigenen Daten sollen sie nicht nur Ablenkung, sondern auch Empathie und Freundschaft bringen.
Theoretisch mag das sogar möglich sein. Vor dem Hintergrund von Metas Geschäftsmodell ist das wahrscheinlichere Szenario jedoch, dass die Bots vor allem Werbe-Werkzeuge werden, die ihre intimen Kenntnisse unserer Persönlichkeit nutzen, um uns neue Produkte anzudrehen. Meta ist ein Werbekonzern, er verdient sein Geld damit, unsere Aufmerksamkeit zu vermarkten und uns mit möglichst zielgenauer Kommunikation zu manipulieren. In Mark Zuckerbergs Träumen sind KI-Bots Influencer auf Steroiden.
Die andere große Einnahmequelle für Metas KI-Anwendungen dürften übrigens Verträge mit dem Militär sein. Kriegstechnologien sind im Silicon Valley längst „das nächste große Ding“. Eine Klausel, die eine Nutzung von Metas Sprachmodell Llama für militärische Zwecke ausschloss, hat der Konzern kürzlich kassiert.
Datenvieh, das gemolken werden sollAls drittes möchte ich an Deine Würde appellieren. Meta versucht hier mal wieder mit allen Mitteln der Kunst, uns vorzuführen. Statt uns schlicht zu fragen, ob wir unsere Daten für die KI hergeben wollen, setzt der Konzern unser Einverständnis voraus. Den Widerspruch macht er so kompliziert, wie es rechtlich gerade noch erlaubt sein könnte (oder auch nicht). Meta will uns – mal wieder – Steine in den Weg legen bei der freien Entscheidung.
Wieso lassen wir uns von diesem Konzern so behandeln? Wir sind für ihn nicht mehr als Datenvieh, das jetzt auch für die KI gemolken wird. Ein Widerspruch ist für Meta zwar nur etwas Sand im Getriebe, aber je mehr Menschen mitmachen, desto größer wird der Ärger für Mark Zuckerberg.
Und auch dieses noch: Es soll ja angeblich Menschen geben, die tatsächlich Bock auf Metas KI haben. Das jedenfalls behauptet der Konzern. Sollten sie wirklich existieren, dann sei ihnen versichert, dass sie Metas KI auch dann nutzen können, wenn sie keine eigenen Daten für das Training freigeben. Grundsätzlich gilt aber natürlich, dass der beste Schutz vor Metas Datenhunger noch immer ist, die Accounts gleich ganz zu löschen. Für alle, die trotzdem bleiben wollen, folgt hier der Leitfaden zum Opt-Out.
Anleitung zum Widerspruch gegen die Meta-KIDamit der Widerspruch rechtzeitig wirksam wird, muss er bis 26. Mai 2025 erfolgen.
Durch die Gestaltung des Widerspruchs-Menüs versucht Meta, Nutzer:innen möglichst davon abzuhalten. So ist der Widerspruch nicht durch einen einfachen Schalter in den Apps des Konzerns möglich. Meta versucht außerdem, Nutzer:innen durch ein Freifeld für eine schriftliche Begründung abzuschrecken. Dieses muss jedoch nicht ausgefüllt werden.
Wer widersprechen will, muss dafür bei Meta eingeloggt sein.
Hier gelangst Du direkt zu den Widerspruchsformularen im Netz:
In der Instagram-App findet man mit einigen Klicks zum Widerspruchsformular:
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Unter dem Deckmantel des Bürokratie-Abbaus möchte die EU-Kommission Teile der Datenschutzgrundverordnung neu verhandeln. Mehr als hundert zivilgesellschaftliche Organisationen fürchten, dass dies zum Einfallstor wird, um „hart erkämpfte Rechte“ zurückzunehmen und den Datenschutz zu verwässern.
Viele Kräfte würden gerne die DSGVO neu verhandeln – und damit die Büchse der Pandora öffnen. (Symbolbild) – CC0 Bernard PicartDie EU-Kommission plant, Regelungen der Datenschutzgrundverordnung „zu vereinfachen“. Sie will Dokumentationspflichten für kleinere und mittlere Unternehmen herausstreichen, um Bürokratie abzubauen. Datenschutzorganisationen hatten zuletzt die Befürchtung geäußert, dass mit den Änderungen die „Büchse der Pandora“ geöffnet wird – und der Datenschutz insgesamt verwässert werden könnte. Hintergrund ist dabei auch, dass sich die politischen Mehrheitsverhältnisse im EU-Parlament geändert haben und die eher datenschutzfeindlichen Konservativen und Rechtsradikalen nun mehr Einfluss und Stimmen haben.
In einem gemeinsamen Schreiben (PDF) an die EU-Kommission fordert der Dachverband europäischer Digitalorganisationen EDRi zusammen mit mehr als hundert zivilgesellschaftlichen Initiativen, Wissenschaftler:innen, Unternehmen, Gewerkschaften und Expert:innen deswegen eine Ablehnung der Überarbeitung der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Die DSGVO sei mehr als eine Verordnung, heißt es im offenen Brief: „Sie ist das Rückgrat des digitalen Regelwerks der EU, eine hart erkämpfte legislative Errungenschaft, die hohe Standards setzt und die Würde der Menschen in einer datengesteuerten Welt schützt.“
Gefahr, dass hart erkämpfte Rechte zurückgenommen werdenAuch wenn einzelne vorgeschlagene Änderungen theoretisch gut seien, könnte die DSGVO durch den Prozess anfällig für weitergehende Deregulierung werden. „Viele solcher Bestrebungen sind bereits erkennbar, darunter Forderungen nach einer Schwächung der Einwilligungsvorschriften ohne wirksame Schutzmaßnahmen für die Nutzer:innen oder nach einer Legitimierung der invasiven Nutzung personenbezogener Daten für KI-Trainingszwecke“, schreiben die Organisationen.
Die Unterzeichnenden, unter ihnen der Verbraucherzentrale Bundesverband, Mozilla und die Digitale Gesellschaft, fordern die Europäische Kommission deswegen auf, „jede Wiederaufnahme der DSGVO – egal wie begrenzt sie auch erscheinen mag – abzulehnen und die Integrität der Verordnung als Grundlage des EU-Digitalrechts zu bekräftigen“. Außerdem müsse sie anerkennen, „dass die derzeitigen Herausforderungen bei der Umsetzung durch eine wirksame Durchsetzung mit Klarheit und nicht durch Deregulierung gelöst werden können“. Die Kommission solle externen und internen Druck abwehren, „der darauf abzielt, die Rechte der Menschen im Namen der Wettbewerbsfähigkeit oder von Handelsinteressen zu opfern.“
Eine Wiederaufnahme der Verhandlungen rund um die DSGVO würde die Gefahr mit sich bringen, „hart erkämpfte Rechte“ zurückzunehmen, so die Unterzeichnenden weiter.
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Die Debatte um die Handynutzung in der Schule dreht sich weiter. Mehrere Bundesländer wollen Verbote durchsetzen. Aus medienpädagogischer Sicht ist das kaum zu rechtfertigen, warnt die Expertin Kathrin Demmler. Schulen müssten sich stattdessen viel mehr mit technischen Geräten befassen.
Handy verbannt, Problem gelöst? – Alle Rechte vorbehalten IMAGO/BihlmayerfotografieIn Bremen ist es entschieden: Ab Anfang Juni dürfen Schüler:innen bis zur 10. Klasse in der Schule kein Handy mehr benutzen, die Geräte müssen ausgeschaltet in der Tasche bleiben. Handys hätten in der Schule keinen Sinn, sagt Bildungssenatorin Sascha Karolin Aulepp (SPD). „Sie sind nicht notwendig, aber sie stellen eine potentielle Ablenkung und Gefährdung für Schülerinnen und Schüler dar.“
Auch Hessen debattiert derzeit einen Gesetzentwurf von CDU und SPD, der Handys aus der Schule verbannen soll. Darin heißt es, Schulen müssten „Smartphone-Schutzzonen“ sein, digitale Medien würden für Schüler:innen Gefahren bergen und außerdem der Konzentration schaden.
Auch die neue Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU), bis vor Kurzem noch für die Schulpolitik in Schleswig-Holstein zuständig, schaltet sich in die Debatte ein. Ihre Haltung dazu sei klar, sagte Prien: „In der Grundschule sollte die private Handynutzung verboten sein. An den weiterführenden Schulen sollten möglichst altersgerechte Regeln gefunden werden.“
Handys haben an der Schule generell nichts verloren? Kathrin Demmler reagiert auf solche pauschalen Verbotsforderungen inzwischen „allergisch“, wie sie sagt. Demmler ist Direktorin des Vereins JFF – Jugend Film Fernsehen, zudem Mitherausgeberin der Zeitschrift für Medien und Erziehung „Merz“. Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt sie sich mit der Frage, wie Schulen mit technischen Geräten umgehen sollen. Sie warnt: Mit den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen haben die Verbotsforderungen der Politik gerade nur wenig zu tun.
„Ein generelles Verbot ist nicht zum Wohl von Kindern“netzpolitik.org: Frau Demmler, warum hören wir derzeit wieder so viele Forderungen nach einem Handyverbot in der Schule?
Demmler: Das sind Wellenbewegungen, die nicht zur Ruhe kommen. Wir haben es derzeit viel mit populistischen Nachrichten zu tun, die über das Handy uns und auch Kinder und Jugendliche erreichen. Wir merken, dass die Kompetenzen der Lehrpersonen nicht in dem Maß voranschreiten, wie man es sich wünschen würde. Und das weltweit Schlagzeilen machende Social-Media-Verbot in Australien hat sicher auch seinen Teil dazu beigetragen.
netzpolitik.org: Die australische Regierung hat im vergangenen Jahr ein Social-Media-Verbot für alle unter 16-Jährigen beschlossen. Welchen Effekt hat das auf die Debatte in Deutschland?
Demmler: Das passt in unsere politische Landschaft. Da heißt es: Schaut, die reden nicht, die greifen durch. Das wird ja auch hier von vielen gefordert: Die Politik soll handeln. Und die Australier sagen: So schwer ist es nicht, mit diesem Schund ein Ende zu machen.
Das Faszinierende an der aktuellen Verbotswelle: Wir hatten unterschiedlichste Themen über die Jahre. Als die ersten Handys mit Videofunktion auf dem Markt kamen, ging es um Gewaltvideos, wir hatten immer wieder Debatten um Mobbing. Jetzt gerade geht es vor allem um den Content, etwa TikTok-Videos aus Kriegsgebieten. Aus fachlicher Sicht ist das kaum mit einer Verbotsdebatte in Einklang zu bringen. Denn wenn Smartphones in der Schule verboten sind, wie soll ich damit einen Umgang finden?
netzpolitik.org: Aus fachlicher Sicht sind Sie gegen ein pauschales Verbot?
Demmler: Schulen oder Kommunen können gerne Empfehlungen aussprechen, etwa: In der Unterstufe müssen Smartphones in der Tasche bleiben. Da ist nichts gegen einzuwenden. Ich mache das auch keiner Lehrperson zum Vorwurf, dass sie sich ein Verbot wünscht. Das ist ein logischer Reflex zu denken: Ich verbanne das Handy aus der Schule und damit das ganze Thema. Aber die Erfahrung zeigt, dass ein generelles Verbot nicht zum Wohl von Kindern ist. Deswegen reagieren wir inzwischen allergisch auf diese Verbotsdebatten.
Es ist auch die Frage aus meiner Sicht: Wie setzt man so ein Verbot dann durch? Darf man ein Handy wegnehmen? Ist das nicht zu kurz gegriffen und müsste man nicht viel stärker den Dialog suchen? Das Wegnehmen löst vielleicht kurzfristig ein Problem, aber nur, indem es das vom Tisch wischt.
Wer das Handy verbannt, löst nur kurzfristig Probleme, warnt Medienpädagogin Kathrin Demmler, Direktorin der Vereins JFF – Jugend Film Fernsehen e. V. - Alle Rechte vorbehalten Porträt: JFF; Montage: netzpolitik.org „Es gibt keinen Grund für ein Verbot“netzpolitik.org: Was sollte stattdessen an Schulen passieren?
Demmler: Es gibt keine gute Studienlage zu den Auswirkungen von Verboten. Aber man erkennt eine ganz leichte Tendenz, dass es dort, wo Handyverbote gelten, auch mehr Mobbing und Gewalt gibt an Schulen. Das hat sicher nichts mit dem Handyverbot zu tun, sondern eher mit der Haltung der Schule. An solchen Schulen wird vermutlich generell weniger auf Schüler:innen eingegangen. Und wir wissen, dass gerade Cybermobbing damit zusammenhängt, dass Schüler.innen niemanden haben, an den sie sich wenden können.
Es gibt also keinen Grund für ein Verbot, außer dass man das Problem vom Tisch haben will. Der Weg ist, sich mit dem Smartphone als Zugangsgerät mehr auseinanderzusetzen, und das ist mühsam.
netzpolitik.org: Die Verfechter:innen eines Verbots argumentieren auch damit, dass die Geräte im Unterricht zu sehr ablenken. Ist da etwas dran?
Demmler: Klar braucht es Vereinbarungen. Unreglementiert ist das eine Riesenablenkung. Es werden ja auch nicht alle in Familien groß, wo eine gute Mediennutzung stattfindet. Man muss den Umgang damit lernen, das gilt auch für Erwachsene. Aber die Verbotsdebatte führt das für mich ad absurdum. Ein Verbot ist immer die pauschalste Regelung. Damit ist nicht geregelt, wie man sich verhält. Wir wollen, dass Lehrpersonen für Kinder und Jugendliche Ansprechpersonen sind, wenn die mit ihrem Smartphone in Probleme tappen. Wenn ich aber Geräte in der Schule generell verbiete – wie soll ich mich da als Gesprächspartnerin anbieten?
Wir haben die große Sorge, dass ein Verbot auf keinen Fall zu mehr Befassung damit in der Schule führen wird. Die Kinder finden nicht die Ansprechpersonen, die sie bräuchten für ihre Fragen.
„Viel mehr Dos als Don’ts“netzpolitik.org: Viele Schulen geben sich bereits heute in eigener Verantwortung Regeln für den Umgang mit Geräten, manchmal unter Mitwirkung der Schüler:innen. Teils sind Handys oder ihre Nutzung im Unterricht oder auf dem Schulgelände verboten. Wozu braucht man da noch gesetzliche Regelungen?
Demmler: Das ist sinnvoll, wo es darum geht, welches Recht Lehrpersonen haben, wenn gegen Regelungen verstoßen wird. Haben sie zum Beispiel das Recht, ein Smartphone einzubehalten. Schüler:innen machen ja tatsächlich auch verbotene Dinge mit dem Handy, verletzen etwa die Persönlichkeitsrechte anderer Personen. Da brauchen Lehrpersonen Handlungssicherheit.
netzpolitik.org: Was sollte sonst noch von den Ländern geregelt werden?
Demmler: Die Kultusministerien müssen Rahmenvereinbarungen machen. Es ist zum Beispiel absolut sinnvoll, eine altersabgestufte Lösung in der Schule einzurichten: Für Grundschulen etwa zu sagen, dass Kinder kein Smartphone mitbringen sollen. Ab der 5. Klasse haben die meisten Kinder ein Smartphone, da kann man sich auf den Kopf stellen. Auch dafür kann man aber Vereinbarungen treffen: Richtet man eine Handygarderobe ein oder sagt, die Geräte bleiben in den Rucksäcken? Welche Ausnahmen davon soll es geben? Wir haben ja etwa regelmäßig den Fall, dass Lehrkräfte auf die Endgeräte der Kinder zurückgreifen müssen, wenn im Unterricht etwas recherchiert werden soll, weil die Schule zu schlecht ausgestattet ist. Was ist mit Kindern in Ganztagsschulen? Sollten die ihre Handys in der Mittagspause nutzen dürfen?
Für all das braucht man Rahmenvereinbarungen und viel mehr Dos als Don’ts. Eine Positivregelung wäre dann: Handys sind in der 5. bis 7. Klasse sinnvoll an diesem Ort aufgehoben.
netzpolitik.org: Gerade für Jugendliche ist ihr Handy eine wichtige Verbindung, um sich mit Freunden zu vernetzen, sich zu informieren oder an Debatten im Netz teilzunehmen. Wie passt das mit einem Verbot in der Schule zusammen?
Demmler: Digitale Endgeräte sind wichtig zur Teilhabe an sozialen Interaktionen, an Freundesgruppen, aber auch um zu lernen, wie nehme ich Teil an Diskursen. Das zum Thema zu machen, ist Aufgabe der Schule. Gleichzeitig kann ich auch wunderbar über die Möglichkeiten der digitalen Partizipation sprechen. Was eignet sich denn besser dafür als gemeinsam zu überlegen, wie man das Handy in der Schule nutzen will? Das ist ein Paradebeispiel, um den Sinn von Teilhabeprozessen zu verdeutlichen.
netzpolitik.org: Wie gehen unsere Nachbarländer mit Handys in der Schule um?
Demmler: Frankreich hat ein komplettes Nutzungsverbot für alle Grundschulen. Für weiterführende Schulen gilt seit 2018 ein Verbot, aber da werden gerade Ausnahmeregelungen diskutiert. Die Niederlande sind auch relativ streng, zugleich aber auch sehr gut mit digitalen Endgeräten in der Schule ausgestattet. In Dänemark ist es ähnlich wie hier. Ein landesweites Nutzungsverbot wird diskutiert, ist aber noch nicht durch.
„Schüler:innen wünschen sich faire und transparente Regeln“netzpolitik.org: Gibt es Erkenntnisse dazu, dass Schüler:innen an diesen Schulen weniger abgelenkt sind?
Demmler: In Querschnittsanalysen von Studien erkennt man leichte Tendenzen für einen Zusammenhang von mehr Smartphone-Nutzung und schlechteren schulischen Leistungen. Aber ein Handyverbot führt zugleich nicht zur besseren Leistungen.
netzpolitik.org: Wie erklären Sie sich das?
Demmler: Medien sind immer eingebettet in das Sozialhandeln. Ein Kind, das sehr intensiv sein Smartphone nutzt, hat vielleicht gerade andere Probleme, von denen es sich ablenken will. So ein Kind hat dann auch Probleme in der Schule. Ob das von der Smartphone-Nutzung kommt, weiß man nicht. Wir Pädagoginnen schauen uns den Kontext an. Man kann das nicht isoliert betrachten und sagen: Ich nehme das Smartphone weg aus der Schule und dann habe ich folgenden Erfolg.
netzpolitik.org: Was wünschen sich die Schüler:innen selbst, wenn man sie fragt?
Demmler: Sie wünschen sich klare, faire und transparente Regeln, die für alle gelten. Sie wünschen sich, dass man sich nicht nur mit den Regeln für Schüler:innen befasst, sondern auch mit denen für Erwachsene. Die Regeln müssen nicht gleich sein, so naiv sind sie nicht, aber es soll welche geben. Sie wünschen sich, dass sie mitreden dürfen. Sie wünschen sich, dass digitale Endgeräte viel stärker ein Thema sind. Und sie wünschen sich Erwachsene, die ihre Probleme verstehen und nicht gleich die Verbotskeule schwingen, sondern gemeinsam eine Lösung suchen.
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Die schwarz-rote Koalition will das liberale Versammlungsgesetz des Landes Berlin verschärfen. Wer heute Grundrechte schleift, macht die Protesträume enger, wenn irgendwann die Rechtsextremisten an die Macht drängen. Das ist gefährlich. Ein Kommentar.
Satirischer Protest in Berlin-Grunewald am 1. Mai. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / A. FriedrichsBei einer pro-palästinensischen Demo kommt es zu Gewalt. Ein Polizist wird schwer verletzt, er muss im Krankenhaus behandelt werden. Diesen Vorfall nutzen nun Politiker:innen aus der schwarz-roten Landesregierung, um die Einschränkung des Berliner Versammlungsgesetzes zu fordern. CDU-Mann Burkhard Dregger stellt sich in die innenpolitischen Fußstapfen seines Hardliner-Vaters und möchte das „Versammlungsrecht so restriktiv ausgestalten, wie es das Grundgesetz zulässt“. Das ist gefährlich und vollkommen unnötig.
Wir befinden uns in Deutschland an einem politischen Scheideweg. Die rechtsextremistische AfD ist mittlerweile in einigen Bundesländern in Umfragen die stärkste Partei. Teile der Union reißen die Brandmauern immer weiter ein. Deutschland könnte also in absehbarer Zeit eine autoritäre Rechtsregierung drohen.
In solchen Zeiten Grundrechte einzuschränken, wird den autoritären Durchmarsch einfacher machen. Die Rechnung ist einfach: Kommt eine rechte Regierung an die Macht, muss sie Gesetze erst einmal ändern, um ihr autoritäres Projekt durchzusetzen. Jede Gesetzesänderung ist eine demokratische Möglichkeit für die Empörung und Protest. Jedes Grundrecht, das schon geschliffen ist, bedeutet also weniger Widerstand.
Schon heute Einschränkungen möglichBerlin hat ein relativ liberales Versammlungsfreiheiheitsgesetz, das sich positiv von Landesgesetzen wie in NRW abhebt. In der Praxis aber klagen Demoveranstalter schon heute über Einschränkungen von polizeilicher Seite. Mit widersinnigen Auflagen und repressiven Maßnahmen schränkt die Polizei schon heute die Demonstrationsfreiheit ein, so zuletzt am 1. Mai. Die Polizei wollte im Grunewald die Nutzung der Grünflächen für eine Kundgebung verbieten, wurde aber noch vom Verwaltungsgericht gestoppt.
Die schwarz-rote Koalition hat sich eine Evaluation des Versammlungsfreiheitsgesetzes in den Koalitionsvertrag geschrieben. Das ist nun der Türöffner für mögliche Einschränkungen. Erklärtermaßen will die Koalition die „öffentliche Ordnung“ wieder als Grund ins Versammlungsgesetz aufnehmen, auf Basis dessen sich Demonstrationen einschränken lassen.
Daraus wird deutlich: Regierungsparteien und Behörden sehen Demonstrationen nicht vorrangig als elementaren lebendigen und wichtigen Teil der Demokratie, sondern immer nur als Bedrohung und Risiko, welches minimiert werden muss. Diese einseitige Sicht tut dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nicht gut.
Starke Grundrechte machen resilientDie Polizei hat schon heute genügend Möglichkeiten, bei Straftaten auf Demonstrationen zu reagieren und einzugreifen. Während die Scharfmacher sich negative Beispiele herauspicken und damit die Einschränkungen begründen, ist auch klar: Ein geändertes Versammlungsrecht wird alle Demonstrationen betreffen und einschränken.
Am Ende könnte sich eine rechtsradikal dominierte Regierung freuen, dass sie mit Verweis auf die „öffentliche Ordnung“ demokratischen Protest einfacher verhindern kann. Gerade deswegen sollten wir in diesen Zeiten Grundrechte schützen, wo wir können. Denn starke Grundrechte erweitern den Möglichkeitenraum für demokratische Resilienz. Und die brauchen wir unbedingt.
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Alterskontrollen für alle lösen keine Probleme, sondern schaffen neue. Im Mittelpunkt vom Jugendmedienschutz sollte die Frage stehen, welche Informationsangebote den Bedürfnissen von Jugendlichen gerecht werden. Ein Essay.
Verbote und Bedürfnisse (Symbolbiber) – Biber: YouTube/HolleyMuraco; Montage: netzpolitik.orgDieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift mediendiskurs des Vereins Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF).
Ende 2022 trägt eine Biberdame eine rosafarbene Plüschente durch einen Hausflur. Sie ist zu Gast in einer gemeinnützigen Auffangstation für bedürftige Biber im US-Bundesstaat Mississippi. Die Biberdame platziert die Plüschente neben dem Türrahmen auf einem Handtuch und drückt mit den Pfoten auf ihr herum, bis alles richtig sitzt. Wenig später zieht sie für den Bau ihres Dammes unter anderem raschelndes Geschenkpapier über die haselnussbraunen Dielen, einen kleinen Weihnachtsbaum, eine grobe Decke und einen Pantoffel. Sollte – entgegen aller Erwartungen – ein Fluss durch diesen Flur fließen: Der Damm stünde bereit.
Millionen Menschen haben das Bauprojekt der Biberdame aus Mississippi verfolgt, im YouTube-Video „Rescue beaver makes Christmas dam in house“. Es verrät viel über den Umgang mit Bedürfnissen und Verboten – auch unter uns Menschen. Zu ihrem eigenen Schutz haben Menschen die Biberdame in die Auffangstation gebracht. Aber ihrem innersten Bedürfnis, Dämme zu bauen, darf sie dort weiter nachgehen.
Gerade im Jahr 2025 ist die Debatte um Jugendmedienschutz vorwiegend von Verboten geprägt, weniger von Bedürfnissen. Im Gespräch ist vor allem ein Werkzeug, das Kinder und Jugendliche angeblich vor den vielfältigen Unwägbarkeiten im Netz bewahren soll: Alterskontrollen.
Diese Kontrollen sollen eine scharfe Linie ziehen zwischen Inhalten für alle – und Inhalten, die sich nur nach einer bestandenen Prüfung einsehen lassen, kontrolliert per Ausweisdokument oder Biometrie. International arbeiten Politik und Behörden an entsprechenden Gesetzentwürfen, Leitlinien und Prototypen. Es geschieht in den USA, in Großbritannien und in Australien, in der EU, im Bund, in weiteren EU-Mitgliedstaaten und in den Bundesländern.
In diesem Text müssen sich die Pläne für Alterskontrollen der kritischen Frage stellen, was sie wirklich für Kinder und Jugendliche bewirken können – und was die Biberdame aus Mississippi dazu sagen würde.
Bund, Länder und EU wollen mehr AlterskontrollenNoch begegnet man im Internet oft Altersabfragen, die sich mit einem Mausklick überwinden lassen, etwa: „Bist du 18 Jahre alt?“. Das könnte sich bald ändern, wie die Bemühungen auf gleich mehreren politischen Ebenen zeigen.
Die Chef*innen der deutschen Bundesländer haben etwa Ende 2024 der Novelle des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags (JMStV) zugestimmt. Er soll künftig Anbieter von gängigen Betriebssystemen dazu verpflichten, eine Art Kinderschutz-Modus anzubieten, der den Zugang zu angeblich nicht jugendfreien Inhalten erschweren soll.
Im Auftrag des Bundesfamilienministeriums, also auf Bundesebene, hatte das Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie im März 2025 ein Konzept für ein System zur Alterskontrolle vorgelegt. Anfang April folgten von der EU-Kommission die technischen Spezifikationen für eine Alterskontroll-App. Entwickelt werden soll die App von T-Systems und Scytales aus Schweden. Fachleute kritisieren das Konzept, weil es nicht auf Anonymität setzt, sondern auf Pseudonymität. Die App soll sich in gleich mehrere EU-Vorhaben einfügen.
Einerseits sollen Anbieter von Online-Diensten mithilfe der App die gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen zum Schutz von Minderjährigen umsetzen können. Die Grundlage hierfür ist Artikel 28 des Gesetzes über digitale Dienste (DSA); entsprechende Leitlinien hat die EU-Kommission Mitte Mai vorgelegt. Andererseits soll die App eine Übergangslösung sein, bis die deutlich umfangreichere digitale Brieftasche der EU einsatzbereit ist, die „European Digital Identity Wallet“. Das soll frühestens Ende 2026 fertig sein.
Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Die schiere Menge an Details kann den Eindruck erwecken: Diese Kontrollsysteme sind so wasserdicht wie ein Biberdamm. Aber das Sicherheitsgefühl ist trügerisch.
Alterskontrollen können neugierige Jugendliche nicht stoppenAlterskontrollen sollen Jugendliche vor potenziell schädlichen Inhalten aus dem Internet schützen, so zumindest die Hoffnung. Aber diese Inhalte werden Jugendliche weiterhin erreichen. Jenseits von Alterskontrollen kursieren sie etwa auch in Messenger-Gruppen, rutschen durch die Inhaltsmoderation jugendfreier Plattformen oder werden von Älteren in der Schule herumgezeigt.
Darüber hinaus sollten Erwachsene sich keine Illusionen machen: Wenn sich Jugendliche dafür interessieren, wie die Welt funktioniert, dann gibt es kein Alterskontrollsystem, das sie aufhalten kann. Genauso wie sich Kinder der 1990er-Jahre auf dem Schulhof beigebracht haben, wie man in der Blauen und Roten Edition des GameBoy-Klassikers Pokémon sogenannte Sonderbonbons verdoppelt – ein komplexer und für damalige Erwachsene kaum nachvollziehbarer Vorgang – genauso werden sich junge Internetnutzer*innen heute beibringen, wie sie Alterskontrollen spielerisch und einfallsreich umgehen. Es klappt mit kostenlosen Werkzeugen wie VPN, alternativen DNS-Servern oder dem Tor-Browser.
In einem anderen Nutzungsszenario sind zumindest mildere Altersschranken durchaus sinnvoll. Gerade die Jüngeren wollen Inhalte mit Gewalt oder Sex lieber nicht sehen. Sie sind dankbar, wenn man das von ihnen fernhält. In diesem Szenario kann eine Methode glänzen, die viele Erwachsene belächeln: Die Abfrage, ob man schon 18 Jahre alt ist. Wenn Jüngere versehentlich auf einen falschen Link klicken, zeigt ihnen diese Altersabfrage: Ups, hier bin ich falsch abgebogen. Für dieses Szenario braucht es jedoch kein ausgeklügeltes System zur Erfassung von Ausweisen und Biometrie.
Für jedes Verbot braucht es eine gute AlternativeDie zentrale Frage beim Jugendmedienschutz sollte nicht lauten: Wie können wir Jugendliche von potenziell schädlichen Inhalten aussperren? Denn das wird nicht gelingen. Sie sollte lauten: Wie können wir Jugendlichen auf Informationssuche etwas so Gutes bieten, dass sie gar nicht erst auf nicht jugendfreie Seiten zurückgreifen wollen?
Es ist notwendig und richtig, wenn junge Menschen mehr über Erwachsenendinge erfahren wollen. Wie funktionieren Sexualität und Einvernehmlichkeit und Verhütung? Wie finde ich heraus, was mir Lust bereitet und was meine Grenzen verletzt? Wie fühlt sich Rausch an? Wie schlimm kann Gewalt sein, und wie kann ich mich davor schützen?
Auf der Suche nach Antworten zu solchen elementaren Fragen könnten Minderjährige bei Pornos, Gewaltvideos oder Horrorfilmen landen. Ändern lässt sich das nicht mit Kontrollen und Strafen, sondern mit passenden Informationsangeboten, die dem Entwicklungsstand entsprechen.
„Jugendliche brauchen Angebote für sexuelle Bildung“, sagte etwa Jessica Euler, Geschäftsführerin des Vereins Aktion Kinder- und Jugendschutz, im Interview mit netzpolitik.org. Sie kritisierte, dass solche Angebote kaum bekannt seien. Und so landen Jugendliche dann doch wieder auf großen Plattformen wie Pornhub.
Es kann die Entwicklung von Jugendlichen beeinträchtigen, wenn Erwachsene ihr Bedürfnis nach Aufklärung kaltschnäuzig mit rigorosen Alterskontrollen beantworten. Sobald Jugendliche aktiv Angebote für Erwachsene recherchieren, dann liegt dem ein legitimes Bedürfnis nach Information und Aufklärung zugrunde.
Wie wäre es zum Beispiel, wenn Pornoseiten nicht nur das Alter von Besucher*innen abfragen, sondern auch auf externe, jugendfreie Infoangebote verlinken? „Du bist unter 18 und willst mehr über Lust und Sexualität erfahren? Dann klicke hier!“. Ansätze wie diese würde auch die Biberdame aus Mississippi zu schätzen wissen. Wir erinnern uns: Ihre Aufsichtspersonen haben ihr nicht verboten, einen Damm zu bauen. Nur einen echten Baumstamm durfte sie nicht durch den Flur zerren.
Alterskontrollen sperren vulnerable Gruppen ausAuf den ersten Blick klingt es paradox: Alterskontrollen sind einerseits allzu leicht zu umgehen – andererseits können sie auch eine allzu hohe Hürde darstellen. Sie können nämlich Menschen aussperren, die nicht hätten ausgesperrt werden sollen. Der Grund dafür ist die Ungleichverteilung von Privilegien in der Gesellschaft.
Wer gut mit Laptop und Handy umgehen kann, wer sich ein modernes Gerät leisten kann; wer gut lesen kann und eine Sprache versteht, die auf dem eigenen Handy verfügbar ist, der kann Alterskontrollen entweder bestehen oder umgehen. Sowohl als Kind als auch als Erwachsener. Anders ist die Lage bei Menschen, die diese Privilegien nicht haben.
Viele Alterskontrollsysteme basieren auf amtlichen Papieren. Aber allein in Deutschland leben schätzungsweise Hunderttausende Menschen, die solche Papiere nicht haben.
Als papierlose Alternative kommt oft eine biometrische Alterseinschätzung zum Einsatz. Dafür braucht man eine Webcam, vor der man sein Gesicht präsentieren soll. Aber nicht alle haben eine funktionierende Webcam. Und biometrische Systeme sind fehleranfällig. Sie sind oftmals optimiert auf weiße, männliche Gesichter ohne sichtbare Verletzungen oder Behinderungen. Wer also zufällig ein Gesicht mit anderen Eigenschaften hat, wird nicht zuverlässig als erwachsen anerkannt.
Schon die bloße Einrichtung einer Alterskontroll-App kann eine Barriere darstellen. In Deutschland können 6,2 Millionen Erwachsene kaum lesen und schreiben. Gerade für ohnehin marginalisierte Gruppen können Alterskontrollsysteme eine zusätzliche Hürde bedeuten.
Alterskontrollen führen zu OverblockingWährend Fachleute mit großen Hoffnungen über Spezifikationen brüten, lässt sich die Realität eines im Namen des Jugendschutzes gefilterten Internets längst beobachten. Hierzu hat netzpolitik.org in den vergangenen Jahren recherchiert. Sowohl die Google-Suchmaschine als auch YouTube filtern automatisch Inhalte mit dem Ziel, potenziell nicht jugendfreie Angebote zu verbergen. Automatische Filtersysteme kommen auch bei JusProg zum Einsatz, dem einzigen Jugendschutzprogramm für Websites in Deutschland, das den gesetzlichen Anforderungen gerecht wird und dafür offiziell anerkannt ist.
Alle drei Angebote hatten unseren Recherchen zufolge ein Problem mit Overblocking. Das heißt, sie steckten Inhalte hinter eine Altersschranke, obwohl sie tatsächlich jugendfrei waren – ja, teils waren sie sogar gezielt für Jugendliche aufbereitet worden. Der Grund dafür ist, dass solche Filterprogramme oft auf Stichworten basieren, zum Beispiel „Sex“. Doch allein anhand von Stichworten lässt sich kaum beurteilen, ob zum Beispiel eine Website über Sex für Erwachsene bestimmt ist oder Aufklärung für Jugendliche bietet.
Ausgerechnet beim Versuch, ein sichereres Online-Umfeld für Jugendliche zu schaffen, sortieren automatische Filtersysteme also Angebote aus, die Jugendlichen eigentlich guttun würden. Durch händische Kontrollen und Meldemechanismen lassen sich solche Filtersysteme verbessern. Die schiere Masse an Online-Inhalten macht es jedoch unmöglich, jemals alles händisch zu prüfen.
Lasst uns die Räume sicherer machen, die Minderjährige schon nutzenNichtstun ist doch auch keine Option, so oder so ähnlich argumentieren Befürworter*innen von Alterskontrollen gelegentlich. Das wird jedoch den sorgfältigen und differenzierten Ansätzen für Jugendmedienschutz nicht gerecht, die es längst in Gesetzestexte und Plattform-Policys geschafft haben. Nicht umsonst nennt das Gesetz über digitale Dienste Alterskontrollen als nur eine mögliche Maßnahme, die Dienste zum Schutz von Minderjährigen ergreifen können.
Je nach Kontext und Nutzungsszenario kommt eine Vielfalt von Vorsorgemaßnahmen in Betracht, die das Internet ohne umfassende Kollateralschäden sicherer machen können. Dazu gehören etwa Meldemechanismen, sorgfältige menschliche Moderation oder Chatfunktionen nur für gegenseitig bestätigte Kontakte.
Wie Alterskontrollen das Internet umkrempeln sollen
Nach wie vor sind Plattformen mit algorithmisch sortierten Newsfeeds darauf optimiert, dass Menschen nicht aufhören wollen, zu scrollen. Die verführerische Sogwirkung dieser Feeds wird nur halbherzig durch Tools zur Zeitbegrenzung eingedämmt. Anreizsysteme wie Likes und Push-Benachrichtigungen locken jüngere und ältere Nutzer*innen immer wieder an den Bildschirm. Hier kann sinnvolle Regulierung ansetzen.
Altersschranken und Social-Media-Verbote würde dagegen umgekehrte Anreize schaffen. Plattformen könnten differenziertere Vorsorgemaßnahmen aufgeben, sobald sie Alterskontrollen eingerichtet haben. Denn offiziell dürften Minderjährige die Plattformen dann nicht mehr nutzen. Inoffiziell würden sie es weiterhin trotzdem tun oder auf noch weniger regulierte Alternativen ausweichen. Schließlich haben sie ein Bedürfnis nach Information, Unterhaltung und Austausch.
Erwachsene können zwar versuchen, mühsam den Zugang zu allen erdenklichen Websites zu sperren. Aber die Bedürfnisse von jungen Menschen lassen sich nicht sperren. Die Leitfrage sollte deshalb nicht sein: Was können wir jungen Menschen im Internet wegnehmen, sondern: Was können wir ihnen geben? Denn die eigenen Bedürfnisse zu ignorieren, das ist für Menschen auf Dauer keine Option. Genauso wenig wie für eine Biberdame aus Mississippi, die sehr dringend ihren Damm bauen muss.
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Die 20. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 12 neue Texte mit insgesamt 92.459 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.
– Fraktal, generiert mit MandelBrowser von Tomasz ŚmigielskiLiebe Leser:innen,
unser neuer Digitalminister hat gesprochen. Im Bundestag. Und auf dem Wirtschaftstag. Die Reden beide: kurz. Viele Stichpunkte. Aufzählungen. Knappe Sätze. Es wird sogar lyrisch:
Da dachte ich: Digitalpolitik als Haiku. Das wäre doch was! So zum Beispiel:
Alles digital.
Wirtschaft und Verwaltung. Klar.
Gesellschaft wartet.
Spaß beiseite: Kurze Sätze sind prägnant. Sie sind gut zu verstehen. Sie sind erfrischend als Kontrast. Trotzdem: Es kommt auf den Inhalt an. Was sagt der neue Minister?
Er sagt auch: „Das alles werden wir prüfen. Und wir werden handeln. Schnell.“
Wir werden das begleiten. Und darüber berichten.
Schönes Wochenende!
anna
Degitalisierung: Anleitung zum ScheiternIn dieser Folge gibt es ein kostenloses Coaching zum Scheitern. Unsere Kolumnistin verrät, wie Sie mit vier einfachen Kniffen jedes Digitalvorhaben gegen die Wand fahren können. Von Bianca Kastl –
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Die Überwachungsgesamtrechnung ist ein Mammutprojekt mit vielen Hürden: Misstrauische Polizeibehörden, mangelhafte Zahlen zu Überwachungsmaßnahmen und skeptische Innenminister:innen. Im Interview erklärt Projektleiter Ralf Poscher, warum mehr Transparenz bei Sicherheitsgesetzen auch Behörden nützt. Von Anna Biselli –
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Mit Bezahlkarten für Geflüchtete lassen sich in der Regel keine Überweisungen tätigen. Da so vieles im Leben unmöglich wird, genehmigen manche Bundesländer auf Antrag einzelne Zahlungsempfänger. Doch eigentlich geht die Behörden das gar nichts an, findet die brandenburgische Datenschutzbehörde. Von Anna Biselli –
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Seit 2016 habe ich hier über meine Tätigkeit im Fernseh- und später Verwaltungsrat des ZDF gebloggt. Ab Juni dieses Jahres werde ich dem Stiftungsrat des österreichischen ORF angehören. Damit endet eine spannende und überaus lehrreiche Zeit – und eine neue beginnt. Von Leonhard Dobusch –
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Die schwedische Regierung will das Bezahlen für sexuelle Dienstleistungen im Netz unter Strafe stellen. Das werde zu Überwachung, Zensur und Abschreckung führen, warnt Yigit Aydin im Interview. Für den Verband ESWA kämpft er für die Rechte von Sexarbeiter:innen. Von Chris Köver –
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Während der Covid-Pandemie verhandelte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen per SMS mit Pfizer-Chef Albert Bourla. Journalisten forderten Transparenz, doch die EU-Kommission weigerte sich, die Nachrichten offenzulegen. Die Begründung dafür findet das EU-Gericht unglaubwürdig. Von Christoph Bock –
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Das Gesetz über digitale Dienste soll auch Minderjährige im Netz schützen. Wie das konkret aussehen soll, beschreibt die EU-Kommission in neuen Leitlinien. Anbieter von Online-Diensten sollen demnach mehr Ausweise überprüfen und die Sogwirkung ihrer Angebote zurückdrehen. Von Sebastian Meineck –
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Zum ersten Mal seit ihrem Bestehen soll die DSGVO inhaltlich verändert werden. Die EU-Kommission will Dokumentationspflichten für mittelgroße Unternehmen abschaffen. Aus der Zivilgesellschaft kommen Warnungen: Was nach einer kleinen Reform klingt, könnte die Büchse der Pandora öffnen. Von Maximilian Henning, Ingo Dachwitz –
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Bundesdigitalminister Karsten Wildberger hat heute im Bundestag die Vorhaben seines neuen Ministeriums vorgestellt. Er will den Staat digitalisieren und die deutsche Wirtschaft entlasten. Gesellschaftspolitische Aspekte kamen nur am Rande vor. Von Daniel Leisegang –
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Bundesdigitalminister Karsten Wildberger hat heute im Bundestag die Vorhaben seines neuen Ministeriums vorgestellt. Er will den Staat digitalisieren und die deutsche Wirtschaft entlasten. Gesellschaftspolitische Aspekte kamen nur am Rande vor.
Strebt ein digitales Next Germany an: Bundesdigitalminister Karsten Wildberger (CDU). – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Political-MomentsDass es das neue Digitalministerium (BMDS) braucht, darin waren sich die meisten Fraktionen heute einig. Insofern erhielt Karsten Wildberger (CDU), der neue Minister für Digitalisierung und Staatsmodernisierung, viel Zuspruch, als er am Vormittag seine erste Rede im Deutschen Bundestag hielt.
Gleichzeitig zeigte sich, wie hoch die Erwartungen an ihn sind. Besonders bei den Themen Verwaltungsdigitalisierung, digitale Infrastruktur und Künstliche Intelligenz gebe es viel aufzuholen, so der Tenor in der anschließenden Debatte.
Wildberger selbst betonte, dass die Gründung seines Ministeriums „mehr als ein Verwaltungsakt, mehr als ’nur‘ ein neues Ministerium“ sei, sondern „eine wichtige Zukunftsentscheidung für unser Land“. Für seine Amtszeit strebt er nicht weniger als ein Upgrade des verblassten Labels „Made in Germany“ an, von dem allerdings vor allem die Wirtschaft profitieren soll.
Nur am Rande tauchte in der heutigen Debatte die Frage auf, welchen gesellschaftlichen Nutzen die Digitalisierung haben kann.
Das „digitale Next Germany“Die große Hoffnung, dass mit dem Digitalministerium der digitale Aufbruch in Deutschland nun endlich gelingen könnte, hat zwei Gründe.
Zum einen hat das Digitalministerium zahlreiche Zuständigkeiten aus anderen Ministerien und dem Bundeskanzleramt erhalten. Ihm kommt damit eine Schlüsselrolle innerhalb des Kabinetts zu.
Zum anderen ist Wildberger ein „Mann aus der Wirtschaft“, wie immer wieder betont wird. Der promovierte Physiker war Top-Manager bei einem Elektronikhandelskonzern und verfügt damit, so die Hoffnung, über das nötige Know-how, ein „frisches Mindset“ und damit gute Voraussetzungen, um erfolgreich zu sein.
Tatsächlich brachte der Minister heute das Leitmotiv für sein neues Haus mit, nämlich das Ziel, ein „digitales Next Germany“ zu schaffen. Diese „positive Fortschrittserzählung“ hatte Wildberger bereits vor einigen Tagen auf dem diesjährigen Wirtschaftstag vorgestellt. In Anknüpfung an „Made in Germany“ soll sie für das erneuerte Versprechen für Wohlstand und Wachstum stehen.
Modernisierung des StaatesUm dieses Narrativ mit Leben zu füllen, setzt das Digitalministerium in den kommenden Jahren auf drei zentrale Maßnahmen.
Erstens will das BMDS den Staat modernisieren. Dafür soll die Verwaltung verkleinert und zugleich „einfacher und schneller“ werden. Auf seiner Website verspricht das Ministerium „noch dieses Jahr spürbare Entlastungen“. Demnach werde ein Fünftel der Verwaltungsvorschriften des Bundes wegfallen, die Bürokratiekosten für die Wirtschaft sollen um 25 Prozent sinken.
Um die Digitalisierung innerhalb der Behörden voranzutreiben, will das Ministerium einen „Deutschland-Stack“ schaffen – „eine einheitliche Infrastruktur mit Basis-Komponenten wie Cloud- und IT-Diensten und klar definierten Schnittstellen“. Außerdem soll die digitale Wallet kommen: „Vom Personalausweis über den Führerschein bis zur Fahrkarte. Alles in einem digitalen Portemonnaie.“
Zweitens will Wildberger die digitale Infrastruktur weiter ausbauen, allen voran mehr Rechenzentren, mehr Glasfaser und mehr 5G. Die Daten müssten fließen, betonte der Minister.
Und drittens will der Minister die Datennutzung voranbringen. Deutschland müsse die erste Wahl für Unternehmen sein, die Künstliche Intelligenz nutzen wollen, so Wildberger.
Datenschutz dürfe keine „Innovationshürde“ seinDatenschutz und Datensicherheit seien bei alledem zwar wichtig, wie Wildberger betonte, dürften aber keine „Innovationshürde“ sein. Entscheidend sei, dass Unternehmen „den Kopf frei haben für Wachstum und Innovation“.
Sonja Lemke (Linke) wies in der anschließenden Debatte darauf hin, dass es dem Minister offenkundig maßgeblich darum gehe, Daten zu Geld zu machen. Datenschutz sei aber Grundrechtsschutz, mahnte die Abgeordnete.
Bei der Digitalisierung solle der Minister nicht den Ressourcenverbrauch aus dem Blick verlieren, sagte Rebecca Lenhard (Grüne). Sie müsse auch umwelt- und klimaverträglich gestaltet sein. Lenhard warnte außerdem davor, dass Digitalisierung nicht zu sozialer Spaltung führen dürfe, „sondern sie muss als Werkzeug verstanden werden für Zusammenhalt und für echte Teilhabe“.
In die gleiche Kerbe schlug Carolin Wagner (SPD). Sie sagte, dass Digitalpolitik „weit, weit mehr“ sei als Wirtschaftspolitik. Deshalb sollten auch Themen wie Open Source, Open Data und digitale Bürgerrechte oben auf der Ministeriumsagenda stehen. Nur so könne die Digitalisierung der Gesellschaft als Ganze nutzen.
Immerhin machte Wildberger heute auch klar, dass er Digitalisierung als einen langwierigen Prozess betrachte. „Für Digitalisierung gibt es keinen Schalter, den man einfach umlegt und dann einfach ist alles gut und alles digital“, sagte der Minister im Bundestag. Vielmehr bräuchte es dafür neben Zeit und Geduld auch Expertise und Partner. Die Zivilgesellschaft kann also noch hoffen.
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Zum ersten Mal seit ihrem Bestehen soll die DSGVO inhaltlich verändert werden. Die EU-Kommission will Dokumentationspflichten für mittelgroße Unternehmen abschaffen. Aus der Zivilgesellschaft kommen Warnungen: Was nach einer kleinen Reform klingt, könnte die Büchse der Pandora öffnen.
Unternehmen sollen weniger dokumentieren müssen – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Kelly SikkemaDie Europäische Kommission hat schon vor einer Weile angekündigt, dass sie manche Bestimmungen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) abschwächen will. Ein Brief der EU-Datenschutzbehörden gibt nun Einblicke darin, was genau Justizkommissar Michael McGrath plant. Offiziell vorgestellt werden soll das Vorhaben schon in der kommenden Woche.
Das große Motto der EU-Kommission in der zweiten Amtszeit von Ursula von der Leyen ist die Wettbewerbsfähigkeit und, damit verbunden, das „Vereinfachen“ von EU-Gesetzen. Dabei besteht sie sehr auf ihrer Wortwahl: Es gehe nicht ums Deregulieren, sondern nur darum, die bestehenden Gesetze für Unternehmen einfacher umsetzbar zu machen, heißt es immer wieder.
Ausweitung von AusnahmenDer Brief der Datenschutzbehörden zeigt nun, was das in einem ersten Schritt für die DSGVO bedeuten soll. Sie antworten darin auf die Kommission, die in einem eigenen Brief, der nicht öffentlich ist, ihre Vorschläge dargelegt hatte. Die drehen sich hauptsächlich um das sogenannte Datenverarbeitungsverzeichnis aus Artikel 30 der DSGVO.
Dieser Artikel regelt, wie Organisationen dokumentieren müssen, welche Daten sie wie verarbeiten. Sie müssen etwa festhalten, welche Daten sie wofür verarbeiten, welche Kategorien von Personen von einer Datenverarbeitung betroffen sind und auch, an welche Empfänger:innen Datenübermittelt werden. Zudem soll technische und organisatorische Maßnahmen dokumentiert werden, mit denen die Daten geschützt werden.
Organisationen mit weniger als 250 Beschäftigten sind von diesen Regeln ausgenommen – außer, die Verarbeitung könnte ein Risiko für Rechte und Freiheiten der Betroffenen bergen. Die Kommission will diese Ausnahme nun anscheinend auf Organisationen mit bis zu 500 Beschäftigten ausdehnen, die unter einer bestimmten Umsatzgrenze bleiben. Sie würde dann nicht mehr nur für kleine und mittelständische Unternehmen gelten, sondern auch für sogenannte Midcap-Unternehmen mit mittlerer Marktkapitalisierung.
Außerdem soll die Ausnahme von der Ausnahme nur noch gelten, wenn die verarbeiteten Daten ein „hohes Risiko für Rechte und Freiheiten“ bedeuten könnten. Darüber hinaus sollen Organisationen von der Dokumentationspflicht befreit werden, wenn sie Daten verarbeiten, weil Sozial- oder Beschäftigungsgesetze das vorschreiben.
Datenschutzbehörden stimmen vorläufig zuDiesem Vorschlag stehen der Europäische Datenschutzbeauftragte und der Europäische Datenschutzausschuss vorsichtig optimistisch gegenüber. Man könne „vorläufige Zustimmung“ zu dem Vorhaben äußern, heißt es im Antwortbrief der Datenschützer. Sie erinnern jedoch daran, dass mit dem Wegfall der Dokumentationspflicht keine Entbindung von Vorgaben zum tatsächlichen Datenschutz sei. Zudem fordern sie die Kommission auf, zu prüfen, ob der Entwurf einen angemessenen und fairen Ausgleich zwischen dem Schutz personenbezogener Daten und den Interessen der Organisationen gewährleistet.
Wesentlich kritischer äußert sich Itxaso Domínguez de Olazábal von EDRi, dem europäischen Dachverband der digitalen Zivilgesellschaft. In einer Analyse auf TechPolicy.Press warnt sie davor, dass auch die Verarbeitung sensibler Daten künftig nicht mehr zwingend dokumentiert werden müsste. „Diese Änderungen könnten einfach nur ein aufgrund der Größe und des Umsatzes eines Unternehmens weitreichende Ausnahmen schaffen“, so Domínguez de Olazábal. Dabei werde ignoriert, dass datenbezogene Risiken nicht unbedingt proportional zur Anzahl von Mitarbeiter:innen seien.
Auch Elisabeth Niekrenz vom Verein Digitale Gesellschaft ist skeptisch. Die Rechtsanwältin berät Unternehmen beim Datenschutz und berichtet von der praktischen Bedeutung des Datenverarbeitungsverzeichnisses für einen funktionierenden Datenschutz: „Gerade im Mittelstand ist der erste Schritt, um Datenschutz im Unternehmen in den Griff zu bekommen, oft schlichtes Aufräumen: Welche Datenbestände haben wir überhaupt? Was davon brauchen wir wirklich und was kann weg? Welche IT-Dienstleister hängen daran?“
Wer keinen Überblick über die eigenen Verarbeitungen habe, werde an der Einhaltung des Rechts scheitern. „Dem Bürokratieabbau würde man mit der Abschaffung einen Bärendienst erweisen.“
“Das würde die Büchse der Pandora öffnen“Itxaso Domínguez de Olazábal von EDRi warnt zudem davor, dass die Mini-Reform im derzeitigen politischen Klima nur ein Türöffner für weitere Deregulierung sein könnte. Für das Jahresende hat die EU-Kommission ein größeres „Digitalpaket“ angekündigt, das viele Digital-Gesetze der EU vereinfachen soll. Davon könnte auch die Datenschutzgrundverordnung betroffen sein, fürchtet Domínguez de Olazábal. Wer sie jetzt für vermeintlich kleine Änderungen aufmache, würde die „Büchse der Pandora öffnen“.
Domínguez de Olazábal zieht hier eine Parallele zum aktuellen Vorgehen der EU beim Lieferkettengesetz. Auch hier hatte Ursula von der Leyen ursprünglich nur kleinere Maßnahmen zum Bürokratieabbau versprochen, nun soll das Gesetz weitgehend entkernt werden. „Es scheint ein allgemeiner Drang zu bestehen, regulatorische Schutzmaßnahmen aufzuheben – eine Bereitschaft, vermeintliche Hindernisse für das Wirtschaftswachstum zu beseitigen, ungeachtet der möglichen Folgen für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte.“
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